Vorwort
Man kann es schon fast eine stillschweigende Übereinkunft nennen, daß es in der Musik wie auch in den anderen Künsten und Wissenschaften zwei Instanzen gibt, die unsere Haltung gegenüber den Werken und deren Wirkung auf uns weitgehend bestimmt: das Gefühl und den Verstand. Dabei wird immer wieder die eine Instanz gegen die andere ausgespielt. Eine Fuge Bachs wird beispielsweise bereitwilliger der kognitiven Sphäre zugeordnet als die Kinderszenen Schumanns, die eher der „romantischen“, und damit geradezu zwangsläufig der Gefühlsebene, zugesprochen werden.
Die Beispiele ließen sich unendlich fortsetzen und lassen sich schließlich zurückführen auf die Antinomie von Kunst und Wissenschaft, wobei im Allgemeinen erstere als gefühls-, letztere als verstandesbetont begriffen werden. Ich denke jedoch, daß beide Ebenen zwei Seiten einer Medaille sind und sich nicht einander ausschließend, sondern gegenseitig ergänzend verhalten, um sich letztlich in jenem Rätsel zu verheiraten, das wir den Geist nennen. Dabei kann man genügend Zeugen finden, die für eine solche Synthese überzeugend eintreten. Schumann etwa, der die zwei alter Egos seiner Seele herauslöst und personifiziert, indem er ihnen Namen gibt: Florestan, den „wilden“ Gefühlsmenschen, und Eusebius, den „milden“ Rationalisten. Den Mathematiker Carl Friedrich Gaus kann man nennen, von dem man sagt, er sei angesichts der Schönheit einer Formel in Tränen ausgebrochen. Augustinus, der schrieb, daß die „perfecta delectatio“, das vollkommene Erfreuen, erst durch die „perfecta cognitio“, das vollkommene Verstehen, möglich sei. Ich würde anhand dieser Dialektik zaghaft eine Definition von „Kitsch“ versuchen: Schönheit ohne Struktur hat kein Skelett, Struktur ohne Schönheit hat kein Blut.
Ich möchte mit diesem Text einen kleinen Beitrag für eine Vereinigung dieser beiden Aspekte in der Musik leisten, indem ich die These „Verstand“ und deren Antithese „Gefühl“ präzisiere: die Rede soll sein von „Kontrapunkt“ bzw. „kontrapunktische Strenge“ und „Trauer“. Dabei werde ich die Vereinigung beider nicht im Sinne bloßer Hermeneutik betreiben. Was ich also nicht beabsichtige ist, komplexe kontrapunktische Werke mit einer außermusikalischen Geschichte der Trauer aufzuladen, ihnen also eine poetische Idee oder ein emotionales Begleitprogramm zu verpassen. Vielmehr möchte ich nachweisen, daß es möglich ist, das Meistern schwerer musikalisch-kontrapunktischer Aufgabenstellungen selbst als Akt der Trauer zu verstehen.
Um das zu zeigen, werde ich den Zusammenhang von kontrapunktischer Strenge und Trauer noch weiter fokussieren, nämlich auf das Begriffspaar Spiegel und Träne. Unterfüttern werde ich diesen Gedanken mit einem Blick auf die niederländische und spanische Malerei des 15. und 16. Jahrhunderts. Denn auch dort kann der Spiegel als ikonografisches Symbol für die Träne dienen. Das ist auf die Musik übertragbar. Zahlreiche Beispiele weisen darauf hin, daß die Kunst des Spiegels (oder der Umkehrung) etwas mit der Träne, also dem Affekt der Trauer, zu tun hat.
Um das zu zeigen, gehe ich folgenden Weg: Die vorliegende Arbeit hat zwei Teile. Im ersten Teil untersuche ich die Begriffe, die den Titel bestimmen. Zunächst widme ich mich der Trauer. Ich werde Aspekte zusammentragen, die diesen Seelenzustand in der Musik, Kunst und Literatur ausmachen und, mit Blick auf Schubert und Schostakowitsch, auch die künstlerische Ausformung der Melancholie und der Depression ansprechen. Dann werde ich den Begriff Affekt genauer beleuchten und ihn von der Empfindung und der Rhetorik abgrenzen. Schließlich wird es um die historische Bedeutung der kontrapunktischen Strenge gehen. Was heißt „Strenge“ und, damit verbunden, „Komplexität“ überhaupt? Drei Gegensatzpaare werden hier eine Rolle spielen: Das erste ist Difficulta (Schwierigkeit) und Facilita (Leichtigkeit), das zweite besteht in der Unterscheidung zwischen ornamentalem und comprehensivem Kontrapunkt, und das dritte Paar besteht im Spannungsfeld zwischen Wahrnehmung und Erkenntnis.
Der Weg durch diese drei Antinomien mit ihren Gegensätzen und Schnittmengen wird mich schließlich zum Phänomen des vertikalen und horizontalen Spiegels in der Musik führen. Dabei beziehe ich den doppelten Kontrapunkt in die Betrachtungen mit ein. Im Zentrum wird eine Trauermusik stehen, die Dietrich Buxtehude auf den Tod seines Vaters geschrieben hat, zwei kontrapunktische Bearbeitungen auf den Choral „Mit Fried und Freud ich fahr dahin“. Beide nennt Buxtehude Contrapunctus, und beide werden auf unterschiedliche, komplexe Weise gespiegelt. Der Begriff „Contrapunctus“ wird auch von Bach in seiner Kunst der Fuge verwendet, und der Spiegel spielt in diesem Zyklus auch eine zentrale Rolle. Das legt die These nahe, daß die Aufgabe der kontrapunktischen Übung Buxtehudes, den Affekt der Trauer in sich zu tragen, auch auf die Kunst der Fuge Bachs zutrifft. Ich werde die These vertreten, daß angesichts dessen die Kunst der Fuge kein unvollendeter Zyklus ist, sondern eine vollendete Trauermusik, ein kontrapunktisch äußertst komplexes Klaglied, um dieses Wort Buxtehudes zu zitieren.
Mein Weg führt dann weiter zu den Goldbergvariationen J.S. Bachs. Hier geht es um Bachs schriftliche Notiz unter dem 6. Doppelkanon aus den 14 Kanons über die ersten 8 Takte des Goldbergbasses, BWV 1087: „Christus coronabit cruzigeros“, „Christus krönte die Gekreuzigten“. Eine rätselhafte Notiz, deren Spur ich nachgehen werde.
Schließlich begebe ich mich in das 20. Jahrhundert, um mich Dimitri Schostakowitsch zuzuwenden, genauer seinem 8. Streichquartett und seiner 8. Sinfonie. Beide stehen in „Beethovens Tonart“ c-moll. Es geht um zwei kontrapunktisch strenge Werke, die in unterschiedlicher Weise den Spiegel zum Gegenstand haben und gleichzeitig in erschütternder Weise die Depressionen Schostakowitschs in Musik gießen. Dabei werden die Fuge und die Passacaglia die musikalischen Gattungen sein, die durch ihre Strenge seine Seelenwelt am klarsten abbilden.
Am Ende meiner musikalischen Reise wird Bela Bartók stehen - der erste und dritte Satz aus seiner Musik für Saiteninstrumente, Schlagzeug und Celesta. Hier interessiert mich vor allem die Frage nach der musikalischen Heimat Bartóks, oder seinen „Heimaten“: einerseits die Alte Musik, vor allem Frescobaldi und Bach, und anderseits die Musik Südost-Europas, wie sie in seinen Transkriptionen und Morphologien der Milman-Parry-Sammlung überliefert ist. Das erstere zeigt sich in der Spiegelfuge des ersten Satzes, letzteres in der übersättigten und fast schon geräuschhaften Ornamentatik des dritten Satzes. Die Überlieferung der in Serbo-Kroatien über Hunderte von Jahren verwurzelten Melodien und die kontrapunktische Strenge Frescobaldis und Bachs, die bei Bartók auch eine Kunst der Spiegelung ist, reichen sich die Hand und fühlen sich, so empfinde ich es, verbunden im Verlust seiner künstlerischen und seelischen Verwurzelungen durch das Trauma der Emigration.
Wer in dem folgenden Text eine streng musikologische Methode erwartet, wird möglicherweise enttäuscht. Hierzu ein grundsätzliches Wort. Ich glaube, es zählt zum Wesen großer Musik wie großer Kunst im Allgemeinen, uns die Möglichkeit zu geben, ihr aktiv gegenüber zu treten. Das geschieht, indem wir, um es mit Bertholt Brecht zu sagen, zu „Nachschaffenden“ werden. Unsere Fantasie wird angeregt, Dinge zu assoziieren, unser Gedächtnis wird angeregt, uns zu erinnern und unsere Neugier wird angeregt, Erwartungen zu entwickeln, die mit dem, was dann wirklich geschieht, in einen kraftvollen Dialog treten. All das geschieht, indem wir uns vom Werk an die Hand nehmen lassen. Im Gegensatz zu rein wissenschaftlicher Anamnese gibt es hierbei jedoch keinen Anspruch auf eine objektive oder vollständig beweisbare Wahrheit. Wir bewegen uns in einem Assoziationsraum der Ideen, Aspekte und Möglichkeiten, allesamt freigesetzt durch die Musik und die Kunst selbst.
Mit anderen Worten: Es ist auch vorstellbar, das Phänomen kontrapunktischer Komplexität unter dem Aspekt der Heiterkeit zu betrachten, jener stillen Freude etwa, mit der ein Kind konzentriert einen Turm baut und ihn hinterher wieder einreißt. Das wäre dann die Heiterkeit des kreativ schaffenden Menschen, das innere Lächeln des Gelingens oder das achselzuckende Lächeln des Scheiterns. Auch das können wir, wenn wir wollen, in der Kunst der Fuge entdecken. Der offensichtliche Gegensatz zur These der Trauer und der Träne aber ist nur scheinbar. Denn beides sind Möglichkeiten, die gleichzeitig im Werk angelegt sind und latent existieren. Bei welcher von ihnen wir Anker werfen ist unserer Kreatitivität überlassen, die morgen oder übermorgen wieder zu ganz anderen Ergebnissen kommen kann. Denn ein lebendiger Diskurs mit der...