Vorwort
Das Unsägliche geht, leise gesagt, übers Land.
Ingeborg Bachmann
»Why don’t you write about fashion? – Warum schreiben Sie nicht über Mode?«, fragte uns Uri Chanoch während eines längeren Telefonats vor unserer Recherchereise nach Israel. Das war 2009. Es ging um die hohe Ablehnungsquote von Ghettorente-Anträgen. Uri Chanoch, selbst Überlebender des Holocaust, hat – neben anderen – das Center of Organizations of Holocaust Survivors in Israel in der Auseinandersetzung um die Renten vertreten. Seine Frage stand am Ende einer Reihe anderer Fragen: »Wer interessiert sich schon dafür? Und können Sie mit solchen Themen Ihren Lebensunterhalt verdienen?« Sie war solidarisch gemeint. Und verwies gleichzeitig darauf, wie wenig Beachtung das Thema in der Öffentlichkeit fand.
Die Ghettorenten bildeten den Auftakt für unsere Beschäftigung mit dem Thema. So entstanden unsere Reportagen. In ihnen schildern ausgegrenzte NS-Verfolgte, wie sie bis heute um Anerkennung und Entschädigung kämpfen.
Dabei war unser Anliegen, die Perspektiven von NS-Verfolgten in den Mittelpunkt zu stellen und ihre politische und juristische Arbeit, ihre Versuche, ihre Geschichten vor dem Vergessen zu bewahren, zu skizzieren. Uns geht es darum, die Vielfalt der Verfolgungsgeschichten und der daraus resultierenden Verletzungen zu dokumentieren. Einen Anspruch auf Vollständigkeit können und wollen wir dabei nicht erheben. Aber mit jeder neuen Begegnung, mit jeder neuen Geschichte kristallisierte sich für uns zunehmend ein Muster heraus: eine Systematik, mit der bestimmte NS-Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschheit weder anerkannt noch entschädigt werden.
2013 haben wir mit der Arbeit an diesem Buch begonnen, in das Begegnungen eingewoben sind, die bis 2009 zurückdatieren. Wir sind in acht Länder, in persönliche Erinnerungslandschaften und Auseinandersetzungsorte, zu Befreiungsfeierlichkeiten und Gedenkstätten und in Wohnzimmer gereist, um mit den Menschen zu sein.
Wir haben biografische Interviews geführt, in denen Zeit ausschlaggebend war. Nicht nur in ihrer Endlich-, sondern auch in ihrer Großzügigkeit. Die Zeit, die sich unsere Protagonistinnen und Protagonisten für uns genommen haben. Dass wir unsererseits mehr Zeit mitbrachten als nur für einen Kaffee, erstaunte einige unserer Interviewten. In den Details der persönlichen Schilderungen offenbarte sich, wie sich Verfolgungsstrukturen im Alltag und Ausnahmezustand auswirkten und bis heute wirken. So sind Porträts von außergewöhnlichen Menschen entstanden.
Darin spielen die Fotografien eine tragende Rolle und öffnen eine weitere Perspektive, in der die Verfolgten im Vordergrund stehen. Die Fotografien sind inmitten unserer Begegnungen entstanden. Sie porträtieren Überlebende an unterschiedlichen Orten als Protagonisten und Protagonistinnen: als Zeitzeuginnen und Zeitzeugen, Aktivistinnen und Aktivisten, Experten und Expertinnen. So bieten die Fotografien eine parallele Erzählung an und sind gleichzeitig eng mit dem Text verwoben.
Reflektionen
Für uns ist dieses Buch eine Sammlung von Lebensgeschichten mit Langzeitbelichtungen und Leerstellen, von Momentaufnahmen und Dialogen der Gegenwart mit der Vergangenheit, von Grenzziehungen und Grenzüberschreitungen und von Erinnerungen, die auffordern und verstören. Es sind Versuche gegen das Vergessen.
Bei unserer Arbeit sind wir immer wieder an Grenzen gestoßen: an unsere persönlichen, aber auch an zeitliche. Leider ist es uns nicht gelungen, alle diejenigen in diesem Buch vorzustellen, die wir gerne vorgestellt hätten. Und deswegen stehen die Leerstellen auch für die Vielzahl der Geschichten von NS-Verfolgten, die nie erzählt wurden; die nur einmal erzählt wurden und dann nie wieder; die immer wieder erzählt, aber nicht gehört wurden, und die wir einfach gerne gehört hätten, es aber nicht geschafft haben. Weil das Trauma im Alter mit neuer Wucht zurückkommt und das Erzählen erneut zu einer bedrohlichen Erfahrung macht. Weil das nachlassende Gedächtnis die Erinnerungen schwer zugänglich macht. Weil der Tod wieder schneller war. Die Zeit stand nicht immer auf unserer Seite.
Für uns geht es um ein Zuhören, das wahrnimmt, mitnimmt und herausfordert, das bisher Wahrgenommene immer wieder in Frage stellt, im Prozess geduldig darum bittet, weiter zu hören, zu sehen und überhaupt zu verstehen. Die Begegnungen beunruhigen, weil sie einen Abschied verlangen: von einem Nichtwissen, von einer Besänftigung, dass irgendwie schon alles in Ordnung sei, und von einer manchmal fast für selbstverständlich gehaltenen Unversehrtheit des Seins.
Die Begegnungen bewegen, weil sie einen Aufbruch verlangen. Weil diese Geschichten und Erfahrungen zumutbar sind und sein sollten. Weil die Bereitschaft der Betroffenen, sich ausführlich zu ihrer Lebensgeschichte zu äußern, biografische Details preiszugeben, offen über Traumatisierungen und Verletzungen zu sprechen, immer eine Herausforderung ist. Vor allem für sie. Das beeindruckt uns und flößt uns größten Respekt ein. Allen unseren Protagonistinnen und Protagonisten gilt unser ganz besonderer Dank für ihren Mut, ihre Offenheit, ihre Geduld, ihre Ausdauer, ihre Arbeit und ihre Zeit. Ihr bewegt uns.
Protagonisten und Protagonistinnen
Der Umgang mit Forderungen zu Entschädigungen und Anerkennungen von NS-Unrecht ist immer eine Geschichte des Ein- und des Ausschlusses und mehr als 70 Jahre nach Ende des Zweiten Weltkriegs nach wie vor ein umstrittenes politisches Thema. Es geht nicht nur um die Summe der einzelnen juristischen Verfahren, es bleibt ein gesamtgesellschaftliches Verfahren. Eine politische und menschliche Frage und Herausforderung. Es geht um Aktion und gesellschaftliche Rezeption. NS-Verfolgte traten und treten darin als Protagonistinnen und Protagonisten der Geschichte auf. Sie fordern hegemoniale Erinnerungs-, Entschädigungs-, Anerkennungs- und Strafverfolgungspolitiken heraus. Sie fordern die Deutung der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft heraus und hinterfragen einen Sprachgebrauch, der oftmals darüber entscheidet, was überhaupt als Leid und wessen Leid wahrgenommen, anerkannt und entschädigt wird. Sie weisen auf Kontinuitäten in der Verfolgung hin. Sie demonstrieren die Vielfältigkeit der Erinnerungen, statt ihre verschiedenen Schicksale in einer kollektiven Identität zu vereinheitlichen.
Argyris Sfountouris, Überlebender des SS-Massakers vom 10. Juni 1944 in Distomo, Griechenland sagt: »Die deutsche Politik muss sich mit den Opfern als Menschen beschäftigen. Wir sind kein Abstraktum.« Am 11. Juni 2010 steht der damals 69-Jährige in der Mittagshitze vor der Deutschen Botschaft in Athen zwischen zwei Transparenten. Auf denen steht: »Keine Staatenimmunität für Nazi-Kriegsverbrechen« und »Sofortige Entschädigung aller griechischen Opfer des Nazismus«. Erwartungen hat Argyris Sfountouris nicht mehr viele. »Deutschlands Schlussstrichmentalität lässt meine Hoffnungen sehr gering ausfallen. Aber ich lasse mich gerne eines Besseren belehren«, erläutert er und reckt dabei das Kinn gen Himmel. »Ich kann jedenfalls nicht damit leben, nichts zu tun.« Er schließt mit dem Satz: »Würden Opfer entschädigt, würden sich Kriege nicht mehr lohnen.« (Vgl. Kapitel 8.)
»Wehe, mein Vater hatte kein Hasenbrot mitgebracht«, erzählt Elisabeth Bornstein schmunzelnd. »Für seine gewerkschaftliche Arbeit war er viel unterwegs. Wenn er nach Hause kam, interessierten mich sein Hasenbrot und seine Geschichten.« Es ist ein sonniger Augusttag in Berlin 2013. Geschäftig gleiten Züge in den Bahnhof Friedrichstraße ein und aus. Gemächlich tuckern Ausflugsschiffe auf der Spree vorbei. Am Horizont schimmert der Schriftzug der Charité. Der Ausblick begeistert Elisabeth Bornstein. Wenn sie zurückblickt, ist sie jedoch betrübt. »Ich erinnere mich in letzter Zeit so genau. Die Bilder von damals sind ganz deutlich wieder da.« Damals – das ist ihre Jugend im Nationalsozialismus. »Ich bin nicht normal aufgewachsen«, erklärt die 86-Jährige. Ihr Vater Max Rothhand, Gewerkschafter und SPD-Mitglied, wird 1941 im Rahmen des nationalsozialistischen »Euthanasie«-Programms ermordet. »Euthanasie«-Geschädigte leben immer noch mit dem Stigma, das die nationalsozialistische Verfolgung mit sich brachte. Elisabeth Bornstein kämpft bis heute um Anerkennung und Entschädigung. (Vgl. Kapitel 7.)
Auseinandersetzungen
Im Gegensatz zu den Ansichten der Protagonistinnen und Protagonisten sind die wechselnden Bundesregierungen der Meinung, dass die Thematik der Entschädigung für NS-Verbrechen schon lange abgeschlossen sei. Dabei hat die Mehrheit der mehr als 20 Millionen NS-Verfolgten nie eine Entschädigung erhalten. Die Realität rüttelt am Bild einer Bundesrepublik, deren Entschädigung für die Opfer von Kriegsverbrechen und Verfolgung...