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»HEILIGER BODEN«
Lange vor dem »öffentlichen« Beethoven gab es den »privaten« Beethoven, das Wunderkind, das im beschaulichen Bonn daheim auf dem Clavichord übte. Vor, aber auch nach den großen Symphonien, bestimmt für den Konzertsaal, entstanden Sonaten für nur zwei Hände, zehn Finger und vier bis fünf Oktaven – Werke, die Beethoven vor allem selbst gespielt hat.
Seine ersten drei Klaviersonaten komponierte Beethoven im Alter von zwölf Jahren, seine letzte mit zweiundfünfzig. Dieses häusliche Musikformat hat ihn sein Leben lang begleitet. Schon ganz früh, in den Kindersonaten, lodert ein ganz spezielles Feuer. Zum Beispiel: in der Sonate f-moll WoO 47,2. Langsame Einleitungen zu schnellen Sätzen, das war damals, 1782, als Beethoven diese Sonate komponierte, zwar nichts Besonderes. Aber dass das stolze, finstere f-moll-Maestoso vom Anfang dann überraschend später noch mal wiederkehrt, das ist schon echt Beethovensch, und der Allegro-Tornado, der nach dieser Einleitung losbricht, klingt wie ein Vorschein der Pathétique.
Diese Sonate gehört zu den drei Kurfürstensonaten, die Beethoven, zu diesem Zeitpunkt noch Schüler des Bonner Hofkapellmeisters Christian Gottlob Neefe, dem Bonner Erzbischof und Kurfürsten Maximilian Friedrich widmete. Ein Jahr später, dreizehnjährig, wird er als Mitglied in die kurfürstliche Kapelle aufgenommen, mit festem Sold: das erste Geld, das er verdient mit seiner Musik.
Klaviersonaten aus dieser Zeit werden heute häufig auf historischen Hammerflügeln gespielt. Wir wissen, dass Beethoven 1787, als Siebzehnjähriger, einen Hammerflügel der Augsburger Firma Johann Andreas Stein geschenkt bekam von seinem Bonner Gönner, dem Grafen Waldstein. Vielleicht hat Beethoven danach selbst irgendwann einmal seine Jugendsonaten auf diesem Steinschen Hammerflügel gespielt. Jedoch: Als er mit zwölf die Kurfürstensonaten komponierte, spielte und übte er auf bereits erwähntem zartbrüstigen, obertonreichen Clavichord, das maximal fünf Oktaven hatte, dafür aber Bebungen erlaubte. Der Klang dieses Instruments unterscheidet sich gewaltig von dem eines Hammerflügels oder gar eines modernen Flügels – selbst langweilige Begleitfiguren wie Schusterflecken bekommen im tiefen Register des Clavichords eine eigene Farbe.
In Aufbau und Stil orientiert sich der zwölfjährige Beethoven weitgehend am Vorbild seines Lehrers Neefe, der seinerseits eine Serie von zwölf Klaviersonaten in empfindsamem Stil geschrieben hatte, einander ähnlich wie ein Ei dem anderen. Interessanterweise findet Neefe das moderne »Clavier« (womit er den Hammerflügel meint) nur passend für Konzerte, Trios, Quartette. Für die Intimität der Klaviersonate, also für die »Liebhaber, welche zu ihrem eigenen Vergnügen nichts mehr als ein Solo interessieren kann«, empfiehlt er mit Nachdruck das Clavichord. Neefe definiert somit die Gattung Sonate als »privat« und das Konzert als »öffentlich«. Vielleicht hätte ihm das YouTube-Video gut gefallen, auf dem der belgische Pianist Wim Winters die gesamte Beethovensche Pathétique auf einem Clavichord vorträgt.
Beethovens Jugendsonaten werden kaum aufgeführt, denn sie gehören noch nicht zum magischen Korpus des »Neuen Testaments«, wie Hans von Bülow später das Gesamtœuvre der zweiunddreißig Klaviersonaten nannte. Sie tragen noch keine Opuszahl. Auch wird in den einschlägigen Beethovenbiographien immer wieder kolportiert, diese Werke seien halt doch etwas fad, konventionell und schablonenhaft, außerdem voller handwerklicher Fehler. Man kann sich leicht davon überzeugen – spielend oder hörend –, dass dem nicht so ist. Sie sind zwar leicht zu spielen, zweistimmig, selten vollgriffig, sie sind kurz, kantabel und richten sich formal nach dem Vorbild Neefes, der sich wiederum an Carl Philipp Emanuel Bach orientiert hat, auch ist der Tonvorrat des Clavichords halber begrenzt. Aber diese Sonaten stecken voll irrer Einfälle, immer wieder nahm sich der junge Komponist kleine Freiheiten von der Regel heraus. Man könnte das »Fehler« schelten. Aber es finden sich solche Einfälle auch in allen späteren Sonaten, ja, einige dieser »Fehler« könnten von niemand anderem stammen als von Beethoven. Hugo Riemann, einer der wenigen Musikwissenschaftler, der sich genauer mit Beethovens Jugendstücken befasst hatte, bemerkte, dass uns in dieser Musik, als »Vorahnung« auf das Kommende, immer wieder »ein Blick aus den Glutaugen des echten, ureigenen Beethoven trifft«.
So sind zum Beispiel die einzelnen Sätze der Bonner Kurfürstensonaten motivisch-thematisch miteinander verwandt. Das ist bereits sehr Beethovensch: dass eines aus dem anderen herauswächst, dass die Zeitkurve sich krümmt und die Musik vorausahnt oder sich zurückerinnert. Bis hin zu seinen letzten drei Klaviersonaten hat Beethoven das weiter perfektioniert.
Im Juli 1822 schreibt aus Paris der Musikverleger Maurice Schlesinger nach Wien, Hauptstraße 60, an die Adresse des verehrten Meisters Louis van Beethoven. Er bestätigt ihm den Empfang der von seinem Verlag bestellten und bezahlten Sonaten. Schlesinger dankt Beethoven aufs Überschwänglichste und erkundigt sich beiläufig, ob nicht, eventuell, »das Alegro zufällig beym Notenschreiber vergessen worden sei«. Da fehle doch etwas. Die Sendung sei nicht vollständig. Und noch einen zweiten Brief in gleicher Sache bekommt Beethoven zehn Tage später, diesmal aus Berlin, wo Schlesinger senior das Stammhaus der Schlesingerschen Musikhandlung leitet. Wieder wird ihm die gleiche Frage gestellt: Ist diese Lieferung wirklich vollständig? Fehlt da nicht eventuell, in der zweisätzigen Klaviersonate c-moll, der übliche dritte Satz? Darf eine Musik so einfach Schluss machen, ohne Schlusssatz?
Neunzig Dukaten hatte der Musikverlag Schlesinger an Beethoven im Voraus gezahlt, als Honorar für alle drei Klaviersonaten op. 109, op. 110 und op. 111. Das entspricht ungefähr dreihundertsechzig Wiener Gulden, und dies wiederum entspräche der heutigen Kaufkraft von circa fünftausend Euro: lächerlich wenig Geld für die Arbeit zweier Jahre, ein Almosen für drei große Musikwerke. Freilich hatten die Schlesingers (hatte vielleicht sogar Beethoven selbst) 1822 noch keinen rechten Begriff von der Aura, die diese Werke alsbald vergolden sollte. Aber es gibt auch nicht den geringsten Hinweis darauf, ob Beethoven auf die beiden Briefe der Schlesingers jemals geantwortet hat. Vielleicht hat er nur kurz gelacht über die Raffgier der Verlegersleute, die meinten, sie hätten zu wenig Musik bekommen für ihr Geld. Vielleicht waren ihm die Fragen nach dem fehlenden dritten Satz aus op. 111 auch einfach zu dumm, schließlich hatte er ja sein letztes Wort bereits gesprochen, und zwar in Tönen.
Der letzte Satz aus Beethovens letzter Klaviersonate op. 111, die »Arietta«, gilt als ein mythenumnebelter Weltabschieds-Satz, der angeblich die Quintessenz aus der Gesamtheit der Beethovenschen Klaviersonaten zieht, vielleicht gar Beethovens gesamten Komponierens – inklusive eines Zitats aus der Neunten Symphonie, das in Takt 79 fast unhörbar in der linken Hand versteckt ist. Der Satz löst sich am Ende auf in Ekstasen von Trillern, schließt: mit einer C-Dur-Kadenz. Schlichter geht’s nicht.
Unter den vielen verschiedenen Möglichkeiten, diese Schlusskadenz zu spielen, bevorzugen die Pianisten heute vor allem zwei. Einige schlagen die allerletzten Töne, die dem Thema hinterherrufen, wie beiläufig an, leiser werdend und ohne Ausdruck. Zum Beispiel: Friedrich Gulda, András Schiff, Artur Schnabel, Wilhelm Backhaus und Maurizio Pollini. Andere laden jede Fortschreitung, jeden einzelnen Tonschritt bis zur allerletzten Sekunde mit Bedeutung auf. Zum Beispiel Glenn Gould, Emil Gilels, Claudio Arrau und Igor Levit. Letzterer besaß fünfundzwanzigjährig, nach Abschluss seines Konzertexamens, den Wagemut oder, wie einige Rezensenten in Anbetracht der »Heiligkeit« dieser Musik meinten, die Unverschämtheit, sein Plattendebüt ausgerechnet mit den späten Beethovenschen Klaviersonaten zu geben, wohingegen sich andere bedeutende Pianisten, in Anbetracht genau ebendessen, ein Leben lang gar nicht erst an die Sache rantrauten. Die Schlusskadenz von op. 111 spielt Levit, ganz im Sinne der russischen Schule, entschieden erschütterungsbetont.
Was ist aber eigentlich das Problem mit diesem Schluss? Diese Kadenz in C-Dur an sich ist, man kann es nicht anders sagen: banal. Vielleicht nicht weniger banal als die Reprisen aus Beethovens frühen Kurfürstensonaten. Aber inzwischen ist doch einiges passiert. Ein ganzes Menschenleben zog vorbei, Belagerungen, Krankheiten und Kriege, und musikalisch, zumal in Beethovens Klaviermusik, eine »Art von kosmischer Weltreise« (so sagte es einmal András Schiff). Diese an Schlichtheit nicht zu überbietende Schlussformel von op. 111 steht am Ende einer gigantischen musikalischen Entwicklung, in der sich die Form auflöst, in der Klang sich ablöst von der...