»Die Sache mit dem Federmäppchen war ganz typisch. Solche Sachen passieren mir dauernd in meiner Klasse und ich weiß dann nie, wie ich mich verhalten soll.
Wir sollten eine Klassenarbeit in Mathe schreiben, alle legten ihre Schreibsachen raus, nur ich konnte mein Federmäppchen nicht finden. Dabei hatte ich es in der Stunde zuvor im Physiksaal noch gehabt, da war ich ganz sicher. Unsere Lehrerin wollte anfangen und gab mir ihre Stifte. Durch die Sucherei war ich ganz nervös und konnte mich dann gar nicht richtig auf die Matheaufgaben konzen-trieren. Nach der Arbeit schickte mich die Lehrerin in den Physiksaal, damit ich das Federmäppchen holen konnte. Ich habe erst an meinem Platz gesucht, dann unter allen anderen Bänken, aber es war nirgends. Stevie, Cem und Patrick aus meiner Klasse haben der Lehrerin vorgeschlagen noch mal zu suchen und sind in den Physiksaal gegangen. Und wirklich, nach zehn Minuten sind sie mit dem Federmäppchen zurückgekommen. Ich hab mich bei ihnen bedankt, hatte aber ein ziemlich ungutes Gefühl dabei. Hatten sie das alles so geplant, auch dass ich mich noch dafür bedanken würde, von ihnen reingelegt zu werden?
(…)
Meistens versuche ich mich so unauffällig wie möglich zu verhalten, um niemand zu provozieren. Aber einmal auf dem Heimweg haben mir genau die drei, die bei der Sache mit dem Federmäppchen dabei waren, aufgelauert und mich angemacht. Ich wollte überhaupt nicht drauf eingehen, aber sie haben mich nicht vorbeigelassen und mich so lange geschubst und angerempelt, bis ich am Boden gelegen bin. Dann wollten sie mir das Gesicht in eine dreckige Pfütze tunken. „Hey, kleine Erfrischung gefällig?“, hat einer gerufen. Ich konnte mich am Boden gegen die drei überhaupt nicht mehr wehren. Da kam ein Mann mit seinem Hund vorbei und hat hergeguckt, da haben sie aufgehört. Sie haben mich hochgezogen und mir die Sachen abgeklopft, als würden sie mir helfen. Dann bin ich weggerannt. Ich hab das niemand erzählt, weil ich Angst haben musste, dass sie sonst wieder so was machen.
Seit diese Sachen passiert sind, bin ich misstrauisch gegen alle. Es ist ein scheußliches Gefühl, niemandem in der Klasse vertrauen zu können. Immer muss ich denken: Was fällt denen jetzt wieder ein, um mich zu piesacken?«
[Mainberger 2000: 42-45]
Wenn ein solcher Bericht eine Arbeit mit dem Thema „Mobbing unter Schülern“ einleitet, ist natürlich jedem sofort klar, wie die beschriebenen Situationen einzuordnen sind. Da die Vorfälle auch noch aus der Sicht des Opfers geschildert werden, das zudem ganz offen seine Gefühle benennt, empfindet man als Leser vermutlich auch prompt Mitgefühl und ist empört über die subtilen und entwürdigenden Gemeinheiten. Man positioniert sich folglich gemäß dem eigenen Unrechtsbewusstsein ganz klar auf Seiten des Opfers und wünscht sich eine angemessene Bestrafung der Täter.
Wechselt man nun allerdings die Perspektive, stellt sich das Geschehen leider keineswegs immer so eindeutig dar. Die Mathematiklehrerin wird sich vermutlich zunächst darüber geärgert haben, dass ihr Schüler so ungeschickt war, sein Mäppchen im Physiksaal zu vergessen, wodurch der Beginn der Klassenarbeit verzögert wurde. Später wird sie ihn wahrscheinlich für zerstreut und schludrig gehalten haben, da er nicht in der Lage war, das Mäppchen wiederzufinden, was den scheinbar hilfsbereiten Mitschülern dagegen recht mühelos gelungen war. Sofern ihr bei der Korrektur der Klassenarbeiten überhaupt auffiel, dass eben jener Schüler offensichtlich Schwierigkeiten beim Lösen der Aufgaben hatte, und sie dies noch in Zusammenhang mit dem verschwundenen Federmäppchen brachte, gab es immer noch zahlreiche Ursachemöglichkeiten, die sie als Erklärung für die augenscheinliche Unkonzentriertheit heranziehen konnte. Selbst wenn sie vermutet haben sollte, dass die drei „Helfer“ das Mäppchen absichtlich verschwinden ließen, war dies an sich doch nur ein vergleichsweise harmloser Schülerstreich, dem kaum weitere Beachtung geschenkt werden musste. Von dem Vorfall auf der Straße oder weiteren Schikanen kann die Lehrerin nichts ahnen, und da der Schüler aus Angst und Scham nicht über seine Erlebnisse spricht, kann auch eine gezielte Nachfrage nach den Ursachen seiner schlechten Schulleistung nicht zu einer Aufklärung beitragen.
Auch die Eltern dieses Schülers können natürlich nicht wissen, welches Leid ihr Kind in der Schule und auf dem Schulweg ertragen muss.
Der Mann, der schließlich Zeuge des doch sehr direkten Angriffs auf das Opfer war, kennt die einzelnen Schüler allerdings nicht und wird den Vorfall als harmlose Rangelei unter Jugendlichen wahrgenommen haben.
So bleibt das Opfer allein mit seinen Wahrnehmungen und seinen Gefühlen zurück und gerät unbemerkt immer tiefer in einen Teufelskreis, aus dem es sich selbst nicht mehr befreien kann.
„Roland ist in Deutsch und Mathematik der schwächste Schüler in der 3. Klasse, hat aber eine besondere Begabung im Werken. Wenn etwas zu basteln ist, will ihn jede Gruppe dabei haben, weil er am geschicktesten ist. Auch beim Spielen in der Pause ist er integriert – noch integriert. Denn mit Beginn der 3. Klasse gibt es in Hessen Noten. Und Roland hat in Deutsch und Rechnen schlechte Noten. Das hat sich in der Klasse herumgesprochen. Nach jeder Rückgabe einer Arbeit wird er zum Vergnügen der Übrigen als Erstes gefragt, welche Zensur er habe. Darauf reagiert Roland zunehmend mit Wutanfällen. Auch wird er jetzt öfters von den Mitschülern aufgefordert, etwas zu erklären, weil alle wissen, dass er das nicht kann und darauf mit einer hilflosen Wut reagiert, die die anderen amüsiert. Roland ist jetzt zum Außenseiter geworden, und seine Reaktion ist geeignet, alles noch schlimmer zu machen.
(…)
Roland aus der 3. Klasse tat sich besonders hervor, als sich die Aggressionen der Klasse gegen ein fremdes Mädchen richteten, die in den Raum gekommen war und die Rückgabe eines Gegenstandes, den sie auf dem Schulhof verloren hatte, forderte. Sie wurde angebrüllt und geprügelt. In dieser Situation war Roland voll als Gruppenmitglied anerkannt. Als aber die Schulleiterin hinzukam und Rechenschaft von den Kindern forderte, gaben alle an, sie hätten nur gebrüllt. Richtig geschlagen habe nur einer: Roland.“
[Dambach 2002: 36;55]
Anhand der sehr reflektierten Fallbeschreibung fällt es wiederum leicht, Roland als Opfer von Mobbing zu erkennen. Da hier allerdings nicht von ihm sondern über ihn berichtet wird, entwickelt man beim Lesen weitaus weniger Empathie als im ersten Fall. Hinzu kommt, dass Rolands ungeschickte und aggressive Reaktionen, die doch eigentlich nur Ausdruck seiner Hilflosigkeit sind, ihn selbst zum Täter machen. Sein Verhalten ist gleichermaßen verwerflich wie das seiner Mitschüler, sodass eine Ambivalenz entsteht, in der die Schikanen gegen Roland als deutlich weniger ungerecht erlebt werden als im ersten Beispiel.
Es versteht sich, dass Rolands Lehrer in der Konsequenz eher bestrebt sein werden, sein Verhalten zu verändern als das der Gruppe, denn Ursache und Wirkung scheinen hier für die Lehrkräfte keineswegs eindeutig zu sein. So ist auch fraglich, ob sie Roland im Schulalltag überhaupt als ein Mobbingopfer wahrnehmen können oder ihn doch vielmehr als ein „schwieriges“ Kind ansehen, das aufgrund seines unsozialen Verhaltens in der Klasse zunehmend auf Ablehnung stößt.
Die beiden Beispiele machen deutlich, wie vielschichtig das Phänomen „Mobbing“ eigentlich ist. Auch wenn jeder eine Vorstellung davon haben mag, was man unter dem Begriff versteht, ist es letztendlich doch nur schwer zu er-kennen, zumal das Bewusstsein für die Problematik im Alltagsgeschehen häufig einfach nicht abrufbar ist. Darüber hinaus erscheinen einzelne Episoden für sich betrachtet zumeist als völlig unspektakulär, weshalb die latenten Auswirkungen auf das Opfer einfach nicht erfasst werden.
Um Mobbing also erfolgreich vorzubeugen oder in akuten Fällen wirksam intervenieren zu können, ist die umfassende Auseinandersetzung mit der Thematik sowie den verfügbaren Präventions- und Interventionsansätzen eine unbedingte Voraussetzung. Dies gestaltet sich allerdings durchaus nicht einfach, denn zahlreiche populärwissenschaftliche Texte streuen wissenschaftlich nicht gesicherte oder nicht haltbare Informationen und sorgen dadurch für reichlich Unklarheit.
Mit meiner Arbeit möchte ich nun nicht nur dazu beitragen, wesentliche Informationen aus der Fülle der Mobbingliteratur und weiterer Quellen herauszufiltern, sondern die Leser selbst zu Experten machen, die in der Lage sind, die Problematik sowie die diversen Präventions- und Interventionsmaßnahmen selbst kritisch zu reflektieren. Erst wer erkennt, dass die Dinge nicht immer so sind, wie sie auf den ersten Blick scheinen, und wer bereit ist, sich von alten Mythen über Mobbing zu befreien, kann sich möglicherweise davor bewahren, durch eine übereilte Meinungsbildung konstruktive Lösungswege zu übersehen.
In fünf Kapiteln werden in der folgenden Arbeit zunächst die...