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Spuren des Todes

AutorFred Sellin, Judith O'Higgins
VerlagS. Fischer Verlag GmbH
Erscheinungsjahr2013
Seitenanzahl240 Seiten
ISBN9783104024325
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis9,99 EUR
Für eine Rechtsmedizinerin ist der Umgang mit dem Tod alltäglich. Doch was passiert, wenn sich Beruf und Privatleben auf einmal nicht mehr trennen lassen? Judith O'Higgins schneidet Körper auf, untersucht sie, entnimmt Gewebeproben. Sie hat das schon oft gemacht, hunderte, tausende Male. Doch eines Tages hat sie es mit einem dramatischen Todesfall zu tun, der ihr Leben verändern wird - weil er ihre Arbeit und ihren persönlichen Rückzugsort unwiderruflich miteinander verbindet. Jetzt gewährt sie erstmals einen tiefen und persönlichen Einblick in ihre Arbeit mit dem Tod. Und geht der Frage nach: Welche Spuren hinterlässt der Tod in mir?

Judith O'Higgins wurde 1971 in Hilden geboren. Nach dem Abitur studierte sie Medizin und Musikpädagogik in Münster, bevor sie nach Hamburg wechselte, ihr Studium beendete und Rechtsmedizinerin wurde. Inzwischen lebt sie mit ihrem Mann, einem Engländer, in London und ist auch dort in ihrem Beruf tätig, obduziert rund 500 Leichen pro Jahr.

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Leseprobe

II. Wie alles anfing


Am Anfang fühlte es sich ein bisschen falsch an, Medizin zu studieren. Lieber hätte ich meine Zeit mit Musizieren verbracht. Mein Instrument war das Saxophon. Ich spielte es, seit ich sechzehn war. Aber die Musik war mir schon davor ans Herz gewachsen, sie gehörte zu meinem Leben, seit ich denken konnte. In meiner Kindheit machten wir viel Hausmusik: Mutter sang, Vater spielte Klavier, meistens Bach oder Mozart, und ich sang mit. Ich weiß noch, wie ich immer weinte, wenn mein Vater »Das Veilchen« spielte. Der Text stammt von Goethe, Mozart hat ihn später vertont. Es geht um ein Veilchen, das eine junge Schäferin sieht, die beschwingt und singend über eine Wiese läuft. Das Veilchen wünscht sich nichts sehnlicher, als von ihr beachtet, »abgepflückt und an dem Busen matt gedrückt« zu werden – »ach nur ein Viertelstündchen lang«. Doch die Schäferin übersieht das unscheinbare Pflänzchen, tritt es achtlos platt. Als kleines Mädchen fand ich das furchtbar traurig.

Man könnte auch sagen, mir wurde die musikalische Ader in die Wiege gelegt. Mein Vater ist Konzertmeister. Als ich geboren wurde, 1971, spielte er die erste Violine im Orchester an der Düsseldorfer Oper. Schon als kleines Mädchen, kaum dass ich laufen konnte, durfte ich ab und zu mit zu einer Vorstellung gehen. Ich fand das jedes Mal unheimlich aufregend, fragte mich allerdings anfangs, wie er mit dem Geigespielen Geld verdiente. Ich dachte, das Geld käme direkt aus seiner Geige – er müsste nur viel spielen, dann würden wir auch genug davon haben.

Allerdings trennten sich meine Eltern noch bevor ich vier wurde. Meine Mutter heiratete wieder, und ich war stolz, nun zwei Väter zu haben. Am liebsten hätte ich beide ständig um mich gehabt, aber das ging leider nicht. Warum es nicht ging, verstand ich damals noch nicht. Der Kontakt zu meinem leiblichen Vater ist aber nie abgebrochen. Wir stehen uns bis heute sehr nah. Und das Musikalische verbindet uns auf ganz besondere Weise.

Mein neuer Vater war Arzt, Gynäkologe – das ist er noch. Er betreibt seit vielen Jahren eine eigene Praxis. Wir sind damals einige Male umgezogen, aber dann ließen wir uns in Lippstadt nieder. Meine Mutter und mein »zweiter« Vater stammen von dort. In der Zwischenzeit hatte ich zwei Schwestern bekommen, in Lippstadt kam dann noch mein Bruder hinzu.

Vielleicht war es mir zu der Zeit gar nicht bewusst, aber dadurch, dass wir nun einen Mediziner in der Familie hatten, entwickelte sich irgendwann auch bei mir ein gewisses Interesse an diesem Beruf. Es wäre allerdings übertrieben, würde ich behaupten, dass ich mir von da an keinen anderen mehr vorstellen konnte. Zumal ich in der Schule mit den Naturwissenschaften auf Kriegsfuß stand. Bis auf Biologie wählte ich in der Oberstufe alle ab. Und noch heute habe ich nachts manchmal Albträume, in denen mir immer das Gleiche widerfährt: Ich sitze im Klassenzimmer, brüte über einer Klausur und bekomme Panik, weil mich die Fragen völlig überfordern. Mathe war für mich der reinste Horror, dicht gefolgt von Chemie und Physik. Alles, was ich nicht sehen, nicht anfassen konnte, weigerte sich mein Gehirn zu verstehen.

Dagegen blühte ich geradezu auf, sobald ich ein Instrument in die Hände bekam, dem ich Töne entlocken konnte. Das faszinierte mich. Vielleicht war mein Geschmack für das Alter – und für ein Mädchen – etwas ungewöhnlich. Zuerst wollte ich unbedingt eine Trompete haben, dann wünschte ich mir ein Horn. Doch meine Eltern kauften mir weder das eine noch das andere. Stattdessen schickten sie mich zum Klavierunterricht. Das Klavier war ja schon da, und zunächst hatte ich auch ein gewisses Interesse daran. Aber es wurde immer mehr zur Qual. Warum – das verstand ich selbst nicht. Wo ich Musik doch so liebte.

Als Nächstes war es dann eine Blockflöte, die gefiel mir schon besser. Aber richtig verliebt habe ich mich erst, als ich zum Saxophon wechseln durfte. Was ein Weilchen dauerte. Ich musste meinen ganzen Dickkopf einsetzen, bis ich meine Eltern überzeugt hatte.

Mein Saxophonlehrer war totaler Jazzfan. Er besaß die wunderbare Gabe, auch andere dafür begeistern zu können. Für mich öffnete sich die Tür zu einer neuen Welt. Saxophon und Jazz – ich wollte nichts anderes mehr. Der Lehrer hatte eine riesige Platten- und CD-Sammlung. Ich lieh mir ständig welche aus und überspielte sie auf Kassette. Die Cover bastelte ich selbst, Hauptsache sie waren schön bunt. Noch besser war natürlich, einen der großen Jazzmusiker live zu erleben. Sobald einer von ihnen in Reichweite von Lippstadt auftrat, fuhren wir hin. Einmal ging es nach Recklinghausen, dort spielte Miles Davis.

Mein Idol war Dexter Gordon, ein Gigant. Seine Musik ist für mich heute noch das Größte. Wobei ich damit zu der Zeit etwas aus dem Rahmen fiel. Die meisten, die damals mit Saxophon anfingen, ließen sich eher von Michael Brecker beeinflussen und von John Coltrane natürlich, noch so ein Genie, der allerdings längst nicht mehr lebte, also auch nichts Neues kreieren konnte. Der stilbildende Saxophonist in den achtziger Jahren war eindeutig Brecker. Es gibt aus der Zeit unheimlich viele, die sich seinen Stil angeeignet haben und ähnlich klingen wie er. Ich bewunderte ihn damals ebenfalls, aber ich wollte nicht so klingen wie er. Ich mochte die Alten, Traditionelleren viel lieber.

Sowieso war das Allerbeste, selbst zu spielen. An der Musikschule existierten verschiedene Ensembles, von der Bigband bis zum Saxophon-Quintett, bei denen man mitmachen konnte. Einige Zeit vor dem Abi schloss ich mich außerdem einer Rockband an. Lippstädter Altrocker, jedenfalls die meisten von ihnen – und aus meiner Perspektive betrachtet, als Schülerin. Das gefiel meinen Eltern überhaupt nicht. Ihr wohlbehütetes Töchterchen, in diesem Umfeld! Sie sahen mich schon auf die schiefe Bahn geraten. Wahrscheinlich wäre mir an ihrer Stelle auch himmelangst geworden. Aber die Musik war mir eben sehr wichtig. Einen Tag vor dem Biologie-Abitur war ein Auftritt mit der Band geplant, da wollte ich natürlich dabei sein. Ich konnte die Jungs doch nicht im Stich lassen. Also schleppte ich mein Bio-Zeug mit zum Soundcheck. Immer, wenn ich mal eine Pause hatte, versuchte ich, mir noch etwas einzubimsen. Mit Erfolg, wie sich herausstellte. Die Abi-Prüfung war besser als alle Bio-Klausuren, die ich jemals geschrieben hatte. Und so war es eigentlich immer: Wenn ich Saxophon spielen konnte, hat mich das für andere Aufgaben gleich mit motiviert.

Deswegen erzähle ich das auch. Ohne Musik wäre ich vermutlich keine Ärztin geworden. Ich hätte Dave, meinen Mann, wohl niemals kennengelernt. Und ich würde heute auch nicht in London leben. Jedes Mal, wenn eine wichtige Weiche in meinem Leben gestellt wurde, war irgendwie die Musik, der Jazz, mit im Spiel.

Am besten, ich fange mit Dave an – wie er in mein Leben kam. Dave ist Musiker, Saxophonist, das erklärt vielleicht schon einiges. Doch bevor ich ihm begegnen sollte, war erst mal ein anderer da, der mir den Kopf verdrehte. Michael hieß der junge Mann. Er kam eines Tages mit dem National Youth Jazz Orchestra nach Lippstadt. Aus London. Das Orchester sollte im Stadttheater spielen. Die jungen Musiker übernachteten bei Gastfamilien. Wir beherbergten zwei. Einer davon war Michael – Anfang zwanzig, attraktiv und ein guter Saxophonist. Ich verknallte mich gleich in ihn, aber er war am nächsten Tag wieder weg, das Orchester reiste weiter. Irgendwann schickte er mir eine Karte aus London, ich sollte ihn besuchen kommen. Ich war achtzehn oder neunzehn und dachte natürlich, das ist die große Liebe. Immerhin hatte er mich an dem Abend in Lippstadt geküsst. Und wer mich küsste, wollte mich bestimmt auch heiraten – was man halt so denkt in dem Alter, noch naiv bis unter die Haarspitzen.

Zumindest kam ich durch Michael das erste Mal nach London. Er hatte kurz darauf Geburtstag, und ich bildete mir ein, mein Besuch würde für ihn das schönste Geschenk sein. Ich will es kurz machen: Dass ich dort plötzlich auftauchte, schien für ihn tatsächlich eine Überraschung zu sein, allerdings in einem etwas anderen Sinne, als ich vorher gedacht hatte. Offenbar war die Einladung auf seiner Karte mehr als Höflichkeitsfloskel gemeint. Jedenfalls stellte sich ziemlich schnell heraus, dass er gar nicht daran dachte, mich zu heiraten.

Es gab aber noch etwas anderes, das mich fast noch mehr ins Grübeln brachte. Hätte mich zu der Zeit jemand gefragt, was ich einmal werden möchte – ich hätte nicht lange überlegen müssen: Musikerin. Das war mein Traum. Nun war ich nicht so blauäugig anzunehmen, mit meinen Fähigkeiten könnte ich es jemals zu einer respektablen Jazzmusikerin bringen. Dafür hatte ich zu spät mit dem Saxophon angefangen. Vor allem hatte ich dafür viel zu viel Respekt vor dem, was guten Jazz ausmachte. Dieses Level würde ich niemals erreichen. Aber Rock- oder Popsaxophonistin – das konnte ich mir durchaus vorstellen.

Michael war da viel besser. Er war richtig gut. Ich orientierte mich an ihm, musikalisch. Aber ich sah eben auch, wie Michael in London wohnte: in einer kleinen Bude, die spärlich eingerichtet war, gemeinsam mit seinem Bruder. Beim Geburtstag hockten wir alle zusammen. Dicke Rauchschwaden waberten durch das enge Zimmer. Sie qualmten Selbstgedrehte, die einen eigenartigen Geruch verströmten. Ein bisschen nach frischem Holz, ein bisschen nach Kräutern, irgendwie süßlich … Ich hatte keine Ahnung, was sie da rauchten. War ich naiv damals!

Und während wir so dasaßen, sah ich mich um, beobachtete die Jungs, und irgendwann fragte ich mich: Ist das alles, was man als Musiker...

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