1 Das Gedicht
Im Eingangsbereich des Willy-Brandt-Hauses gibt es einen kleinen Souvenirshop mit allerlei SPD-Merchandising. Darunter ein Toaster aus rotem Plastik, der innen eine Vorrichtung hat, mit der die drei Buchstaben des Parteinamens auf der Brotscheibe vom Röstvorgang ausgespart bleiben und so weiß auf goldbraun zu lesen sind. Amerikanische Touristen wird es hier zum Glück nicht hinverschlagen und wenn doch, müssten sie lachen: »He’s toast« ist ein Spruch für einen, der ganz und gar erledigt ist.
Tritt man in das Foyer des Gebäudes, erfasst einen ein Gefühl der Beklemmung. Dies dürfte das schlimmste Feng-Shui der Welt sein: Der ganze Bau ist ein vergrößerter Keil, aber weil man nach vorne nichts sehen kann, entsteht ein Schwindelgefühl. Dynamisch soll es hier zugehen, aber die Richtung ist nicht erkennbar. So entsteht ein omnisensorisches Vertigo, das nun auch gut zur politischen Gesamtlage passt. Und dann, wie um das ganze Haus zu erden, steht da der Willy.
Der Bildhauer Rainer Fetting hat einen überlebensgroßen Brandt aus Bronze gefertigt. Das ist ihm zu gut gelungen. Die Plastik verströmt eine unheimliche Dynamik, fast meint man, Willy habe eben eine Geste gemacht, als man nicht geguckt hat. Man steht vor einem Willy Brandt, der noch größer ist als der große Willy Brandt und im Gegensatz zu ihm auch noch unverwundbar, so solide und ganz und gar massiv ist er. Ein Super-Willy, der keine Depressionen und keine Müdigkeit kennt. Das hat Folgen. Man muss kein Ethnologe sein, um zu erkennen, dass es die lebendigen Menschen vor solch einem Totem schwer haben. Ist es Zufall, dass die Jahre, in denen der Willy unten im Foyer steht und alle Blicke und alle Kraft auf sich zieht, auch die der schwachen Vorsitzenden waren? Wie wäre es wohl, wenn Merkel bei ihren Auftritten immer einen gewinnend lächelnden und tanzenden Avatar von Obama neben sich stehen hätte? So etwas kann nicht gut ausgehen. Der gute Geist ist in der Bronze gefangen, er hat den großen Keil jedenfalls verlassen.
Das Willy-Brandt-Haus hat noch keinem Glück gebracht. Als der Vorstand der SPD 1999 feierlich einzog, war Oskar Lafontaine der mächtige und an der Basis beliebte Vorsitzende, stellte die Partei den Bundeskanzler und schickte sich an, nachdem dies den Altersgenossen Clinton und Blair schon gelungen war, mit der Kraft der Babyboomer die Republik aufzufrischen und ins neue Millennium zu führen. Der ökologische Umbau der Industriegesellschaft stand auf dem Programm. Die sauberen und pfiffigen neuen Branchen, also Internet, Finanzdienstleistungen und Medien, versprachen Geldgewinne in einer nie gekannten Größenordnung und Arbeit ohne körperliche Pein. Die internationale Ordnung stand ganz auf Entspannung, die Demokratie war auf dem Vormarsch, Mandela war frei, Arafat und Rabin hatten sich die Hand gegeben. Die Horizonte waren offen wie nie zuvor in der Geschichte der Menschheit.
Seit die Nachfolger Bebels und Brandts in diesem Haus residieren, ging alles wieder verloren: erst dieser Vorsitzende, dann die Macht im Bund, schließlich auch der Schwung und die Hoffnung, die von einer ganzen Generation ausgehen können. Mehr noch: Die Partei spaltete sich und lebt nun im feuchten Keller weit unterhalb des Tageslichts der 30 Prozent Wahlabsichten in den Sonntagsumfragen.
Es ist, hat man mit der SPD zu tun, wie verflixt. Die Genossinnen und Genossen sind reizend, engagiert, intelligent, nie ist einer Einzelnen, einem Einzelnen ein Vorwurf zu machen. Dennoch ist es komisch und ganz anders als in allen anderen mir bekannten deutschen Institutionen oder Firmen, in denen es ja auch immer wieder Pannen gibt (große Tageszeitungen eingeschlossen). Aber nicht solche seltsamen, fast systemischen Fehlleistungen, die aus verworrenen Strukturen und unklarer Kommunikation resultieren. Als würde sich ein übermütiger Politgeist, ein Trickster, einen Jux machen.
Es kann vorkommen, dass eine Assistentin am frühen Morgen auf dem Mobiltelefon anruft, weil sie nun dringend mal die Mailadresse braucht – eine Adresse, die ihre Kollegen und Kolleginnen seit langem fleißig anschreiben, aber egal. In der Mail, die dann kommt, wird höflich und leicht geheimnistuerisch nach meiner Mobiltelefonnummer gefragt, also genau nach jener, die am Morgen mehrfach angewählt wurde.
Es kommt vor, dass Termine verschoben, dann dramatisch abgesagt werden und der, den man treffen wollte, verdutzt anruft, wo man denn bleibe. Die Absage war irgendwie entstanden. Die Gesichter wechseln im unvorhersehbaren Takt, und man ist für die einen ein unbeschriebenes Blatt, während man für deren Kollegen ein Zimmer weiter ein alter Bekannter ist. Man wird von einem hochgestellten Mitarbeiter angerufen, der das Gespräch ganz humorvoll damit eröffnet, er habe ja »so seine Spione« überall, und da habe er etwas herausgefunden: »Wir sind Nachbarn!« Und dann bezieht er das triumphierend auf eine zwölf Jahre alte Adresse. Es kann vorkommen, dass sich jemand treffen möchte, um mal einen heiklen bis geheimen Punkt zu besprechen, der unter keinen Umständen am Telefon verhandelt werden könne, und als Ort für das Treffen schlägt seine Mitarbeiterin das Café Einstein Unter den Linden vor, wo die gesamte Berliner Republik an eng zusammenstehenden Tischen beisammensitzt und man gar nicht anders kann, als zu hören, was am Nebentisch so besprochen wird.
Und während man sich alltäglich einer Flut unerwünschter Werbe- und Infomails erwehren muss, ist die SPD die einzige mir bekannte Organisation, die einem völlig unaufgefordert die Abmeldung vom elektronischen Pressebenachrichtigungsdienst bestätigt und für das Interesse dankt. Das Büro Steinbrücks arbeitet für sich effizient und fehlerfrei, die Büros der anderen tun es auch – aber die Interaktion der Systeme ist ein Problem. Und jeder kann sagen: Wenn es nur so ginge, wie es bei mir klappt, wäre alles in Butter. Es halten sich die falschen Adressen und die losen Bezüge, die toten Links und die Fehleinschätzungen wie Irrlichter auf dem Moor.
Das erste Treffen zur Vorbesprechung dieses Buchs findet im fünften Stock des Willy-Brandt-Hauses statt, der Vorstandsetage. Ich hatte schon immer einen Wahlkampf begleiten wollen und kannte Steinbrück von seiner Zeit als Finanzminister in der Krise, damals hatte ich ihn für die FAZ einen Tag lang nach Brüssel begleitet. Ich war fasziniert von der Tatsache, dass die ganzen Märkte, all das Geld, im Wesentlichen nur von Worten abhängig waren, die Akteure wie Notenbankchefs oder der deutsche Finanzminister äußern, es hatte etwas von sprachmagischen Praktiken. So war es ja auch bei seinem historischen Doppelauftritt mit der Kanzlerin gewesen: Ihre Worte genügten, um alle zu beruhigen und den Run auf die Geldautomaten zu beenden. Das ganze Geld der Deutschen war durch wenige Sätze, durch eine Art Zauberspruch gerettet worden, dessen Wirkung nur so lange anhielt, wie niemand an ihr zweifelte. Diese Art, mit den Deutschen zu reden, war eine hohe Kunst und setzte eine extreme Beherrschung voraus. Damals beobachtete ich Steinbrück als Staatsmann, in einem Biotop, in das er bestens passte. Und als einen Mann des Wortes, der gerne und viel las und darüber nachdachte.
Irgendeine kumpelhafte oder gar verschwörerische Beziehung ist dabei wohlgemerkt nicht entstanden, Peer Steinbrück ist nicht der Typ für unziemliche Absprachen oder das Aushecken von geheimen Plänen, und das trifft sich gut, denn ich bin es auch nicht. Alles, was ich mit ihm erlebt habe, steht in diesem Buch.
Nun würde Steinbrück nicht mehr als Staatsmann, sondern als Parteipolitiker agieren müssen. Zwei erfahrene Genossen hatte ich kurz nach der Ausrufung Steinbrücks auf der Straße getroffen, sie bemerkten mit Sorge, dass er den Wahlkampf nicht aus einem Amt heraus führen würde, sondern allein mit der Unterstützung der Partei. Ich dachte mir, das wird die SPD schon noch hinkriegen, so einen Wahlkampf. Aber es stellte sich bald heraus, dass meine Gesprächspartner recht behielten, sie kannten den Laden einfach besser.
Das »Büro Kanzlerkandidat« ist von demonstrativer Karg- und Biederkeit. Die Filiale meiner Krankenkasse in Wiesbaden ist dagegen ein saudischer Palast. Ein paar Grünpflanzen, die Möbel wie gemietet, als solle niemand auf die Idee kommen, dies sei von Dauer oder man habe es sich hier nett oder gar teuer eingerichtet. Da war gerade die allererste Welle der Empörung wegen der hohen Vortragshonorare des Kandidaten über ihn hinweggespült, und niemand wollte etwas Luxuriöses riskieren.
Ich hatte einige Bücher über Wahlkämpfe mitgebracht, Yasmina Rezas »Frühmorgens, abends oder nachts« und natürlich den Klassiker, die sozialdemokratische Odyssee: Günter Grass’ »Tagebuch einer Schnecke«, für mich eines der schönsten seiner Bücher. Es geht dann um Bedenken, um antizipierte Komplikationen und aus dem Kreis der Mitarbeiter geäußerte Bedenken. Alles wird besprochen, aber es gibt noch keine Entscheidung. Die fällt erst einige Wochen später, auch nach internen Konsultationen im Willy-Brandt-Haus. Am Ende gibt es keinen Vertrag, wird kein Prozedere zur Autorisierung von Zitaten oder beobachteten Szenen verabredet und auch kein Recht, das Manuskript vor allen anderen zu lesen, bloß eine Abmachung: Ich solle das Buch so schreiben, wie ich es mit meinem Gewissen vereinbaren könne.
Während der Diskussion greift sich Steinbrück den Band der Grass-Werkausgabe, blättert kenntnisreich zum Anfang des Buches und findet, was er sucht, auf Seite 32. Er nennt es »eines der schönsten deutschen Gedichte«. Es ist das Ermutigungsgedicht des Autors an den Sohn Franz:...