Heute hamwa de Dampfmaschien!
Steampunker, das sind die Leute, die sich kleiden, als sei Königin Victoria immer noch die Kaiserin von Indien, verfüge dabei aber gleichzeitig über eine hochmoderne Luftschiffsflotte. Es sind die Mitglieder der Gothikszene, die auf einmal angefangen haben, Braun- und Goldtöne zu tragen. So, jetzt sind die Vorurteile und Klischees abgedeckt, kommen wir mal zu den Soft Facts. Hard Facts kann ich leider aus Ermangelung an in einschlägigen wissenschaftlichen Magazinen veröffentlichen Studien nicht bieten. Aber wäre es nicht bezaubernd bizarr, wenn eines Tages in der Nature oder Bild der Wissenschaft eine umfangreiche soziologische Studie über Steampunker und die Steampunkszene veröffentlicht würde?
Steampunker lassen sich ganz grob in drei »Geschmacksrichtungen« einteilen, die man sehr gut mischen kann und die sich sehr überschneiden. Eine klare Trennung ist so gut wie unmöglich. Man könnte folgende Gruppierungen vornehmen: historisch orientierte Steampunker, utopische Steampunker und Maker. Die ersten beiden findet man häufig in voller Montur auf Life-Rollenspielveranstaltungen. Sie schreiben im Bereich der Fantastischen Literatur, in der sie die Vorstellung ihrer Idealwelt einfließen lassen. Maker (Bastler, Tüftler, Erfinder) formieren sich in einer fast noch breiteren Aufstellung. Hier ist alles dabei, vom Schneider über den Goldschmied bis hin zum Elektronikingenieur. Je nachdem, was die bevorzugte handwerkliche Ausrichtung ist, sind sie mehr oder weniger kostümiert und ihre Kreationen sind ein Publikumsmagnet auf jeder Steampunk-Convention.
Der historisch orientierte Steampunker zieht seine Inspiration aus der Zeit der industriellen Revolution und des ausgehenden viktorianischen Zeitalters, was in etwa der Gründerzeit in Deutschland entspricht. Diese historische Basis wird dann noch um phantastische Elemente, wie man sie auch in den Romanen aus der Feder Vernes und Wells’ findet, erweitert.
Der utopische Steampunker projiziert Luftschiffe und Dampftechnologie in eine nicht näher bestimmte Zukunft und fügt zudem noch andere futuristische Elemente hinzu.
Die Maker unter den Steampunkern setzen ihre Kreativität praktisch um und kreieren wundervolle Kunstwerke im Steampunk-Design. Dabei ist die Spannweite recht groß und reicht von Schmuck und Kleidung über umgebaute Computer bis hin zu (teilweise mobilen) Häusern.
Aber was triebe so ein Steampunker, wenn er könnte, wie er wollte? Die Antwort findet sich in den drei folgenden exemplarischen Tagesabläufen:
Ein Tag im Leben des Kapitän Ullrich von Kolbendorff
- 06:15
Der Kammerdiener-Automat weckt den Herrn Kapitän und informiert ihn über die anstehenden Termine des Tages. Anschließend versorgt er den Herrn Kapitän mit einer Nassrasur.
- 06:30
Ullrich frühstückt und informiert sich per Ætherskop über die neuesten Nachrichten, anschließend macht er sich frisch für den Tag.
- 07:00
Mit dem dampfgetriebenen Privatfahrzeug geht es zum Zeppelinlandeplatz.
- 7:35
Ullrich begibt sich an Bord seines Zeppelins und setzt Kurs auf den ersten Wegpunkt seines Patrouillenfluges.
- 10:39
Nachdem der Vormittag fast ohne Zwischenfälle ablief, begegnet Ullrichs Zeppelin über dem Wattenmeer einem Luftkrakenbullen. Dieser hat Lust auf ein paar humanoide Snacks. Das folgende Gefecht kann Ullrich für sich entscheiden.
- 12:00
Mittag – Es gibt Luftkrakensushi.
- 16:37
Mit leichter Verspätung wird die Patrouille beendet.
- 17:10
Ullrich kommt zu Hause an. Den Rest des Abends kommuniziert er über Ætherskop mit den anderen befreundeten Luftschiffkapitänen, Abenteurern, Erfindern und sogar Luftschiffpiraten.
Soviel zum Tagesablauf eines historisch orientierten Steampunkers. Setzt man das ganze in einer nicht näher definierten Zukunft um, kann das ungefähr so aussehen:
Aus dem Tagebuch von Lady Agathea Teslaworth, Biologin, z.Zt. Nova Londinium:
Liebes Tagebuch,
ich bin jetzt seit vier Monaten in Nova Londinium und dies ist mein erster Sommer hier. Ich bin an diese Hitze einfach nicht gewöhnt. Das habe ich nun davon, dass ich mich hierher habe versetzen lassen. Jetzt befinde ich mich in eine Welt, die einen roten Riesen umkreist. Da kann ich wirklich froh sein, ein klimatisiertes Korsett mein Eigen zu nennen.
Weil ich gerade dran denke, ich muss morgen unbedingt zum Mechschneider gehen, mein Ersatzkorsett muss dringend instand gesetzt werden. Die Selbstreparaturautomatik ist etwas langsam und das Korsett, das ich heute trug, ist etwas verschmutzt.
Warum es verschmutzt ist? Wie ich Dir bereits schrieb, liebes Tagebuch, bin ich hierher gekommen, um ein Jungtier der hier endemischen Riesensäbelspechte einzufangen. Ausgesprochen seltene und schöne Tiere, diese Säbelspechte. Sie kommen leider nur nach Ende der Regenzeit aus ihren Bauten, und die ist jetzt zu Ende. Ich habe mich heute in aller Frühe, noch vor Sonnenaufgang, auf den Weg gemacht, einen dieser Vögel einzufangen.
Ich fuhr zuerst mit dem Automobil über Land und dann weiter durch das dichte Unterholz des Stephenson-Urwalds in Richtung Vulkan. Gegen Mittag erspähte ich einen Bau der Säbelspechte, ließ meine Träger zurück und pirschte mich gegen den Wind heran, sehr langsam und ganz leise.
Ich wartete, bis beide Elterntiere den Bau zur Nahrungssuche verlassen hatten, um mir dann ein Jungtier zu fangen. Daher betrat ich in geduckter Haltung den Bau. Die Gänge sind hoch genug, um darin laufen zu können, wenn auch ein ausgewachsener Mensch nicht aufrecht in ihnen zu stehen vermag. Nach einigen Schritten stand ich auch schon in der Brutkammer. Vor mir ein Nest mit vier Jungspechten. Ganz putzige Dinger. Ich zog meine Betäubungspistole und schoss einen Pfeil auf das mir nächstgelegene Jungtier, darauf gefasst, dass seine Geschwister es verteidigen würden. Womit ich nicht gerechnet hatte, war die Art ihrer Verteidigung.
Ich habe nun einen wichtigen Beitrag zur Erforschung der Säbelspechte geleistet, obwohl es mir nicht gelungen ist, ein Jungtier zu fangen. Säbelspechte, zumindest deren Junge, bedienen sich einer äußerst effektiven Spuckattacke.
Ich hoffe nur, die Wäscherei hier nimmt das Korsett an. Sie haben hier leider keine Roboter, die das Waschen übernehmen können. Anderenfalls muss ich das Korsett einschweißen, bis ich wieder an einem besser ausgerüsteten Ort gelange.
Jetzt haben wir aber genug in das Tagebuch unseres utopischen Steampunkers reingespickt. Als nächstes wenden wir uns denen zu, die ihre Steampunkigkeit in die Kreation realer Gegenstände stecken, nämlich den Makern, Erfindern und Hobbytüftlern:
Ein Wochenende in Hajo Großmanns Werkstatt
Hajo steht in seiner Werkstatt und geht im Kopf eine Liste durch:
Mal kurz überlegen, ob alles da ist: Lötkolben, Lötzinn ... Metallreste, diverse dekorative Kleinteile ... Holz (diverses), Lack ... Werkzeugkasten (voll bestückt). Gut, es kann losgehen.
Als nächstes geht er rüber in die Garage, öffnet den Kofferraum seines Kombis und trägt die alte Kommode vom Flohmarkt, die sich da drinnen befindet, rüber zur Werkstatttür.
Zuerst wird dann Abbeizmittel auf den spröden 70er-Jahre Lack aufgetragen, der das Massivholz darunter verbirgt. Während die Kommode im Hof in der Beize wartet und es entsprechend riecht, macht sich Hajo daran, diverse Verzierungen, Widgets und Gadgets aus den Metallteilen zu feilen und zu löten.
Nach fünf Stunden hat er genug Elemete zusammen (und auch genug geflucht und ein wenig Schrott produziert), um später seinem Projekt den letzten Schliff geben zu können, und »Schliff« ist ein gutes Stichwort. Er setzt sich eine Schutzbrille (keine Goggles, eine aus dem Baumarkt) und eine passende Maske auf, schnappt sich seinen Bandschleifer und rückt dem Lack auf der Kommode zu Leibe. Nach fast zwei Stunden hat er selbigen entfernt und auch aus den unzugänglicheren Stellen der Kommode gekratzt. Die Kommode kommt jetzt in die Werkstatt, wird vermessen, eine Schublade fliegt raus und mit mehreren Schablonen werden diverse Dinge außen angezeichnet.
Was dann folgt, soll hier nicht im Detail beschrieben werden, es könnte ja sein, dass Kinder dieses Buch in die Hände bekommen.
Doch soviel sei gesagt: Es sind eine Stichsäge, mehrere Fräsen, Schleifpapier, eine ganze Menge Schrauben und ein Ersatzbrett, dass noch kurz vor Ladenschluss aus dem Baumarkt geholt werden musste, involviert. Zum Schluss wird per Airbrush Metalllack in verschiedenen Kupferschattierungen aufgetragen, und aus der alten Massivholzkommode ist ein Steampunkschreibtisch geworden.
Steampunks, so viele Schattierungen in einer Subkultur
So oder so ähnlich sieht es also bei Steampunkern zuhause aus oder sähe es aus, wenn sie immer genau so könnten, wie sie wollten. Harmlos und auf ungewöhnliche Weise kreativ, ist die Messinghorde ein phantasiereiches...