Frank Strickstrock Der Baum der Erkenntnis – eine Einleitung
Am Anfang der Kurzen Geschichte der Zeit steht eine Anekdote, die mich sehr beschäftigt hat. Das heißt, Stephen Hawking präsentiert eine Anekdote, aber in Wahrheit ist es ein Schöpfungsmythos: Ein namhafter Wissenschaftler, «man sagt, es sei Bertrand Russell gewesen», hält einen öffentlichen Vortrag über das Sonnensystem und die Milchstraße, und am Ende meldet sich eine alte Dame zu Wort und setzt unserem modernen astronomischen Weltbild eine eigene Theorie entgegen: «In Wirklichkeit ist die Welt eine flache Scheibe, die von einer Riesenschildkröte auf dem Rücken getragen wird.» Ein wenig spöttisch fragt der Wissenschaftler nach, worauf denn dann die Schildkröte stehe. «Sehr schlau, junger Mann», antwortet die Frau und erklärt: auf immer weiteren Schildkröten, bis ganz hinunter.
Ein vieldeutiges Bild, und es reißt in wenigen Sätzen an, was Hawking im Kern immer wieder wichtig war. Woher kommt das Universum? Was ist unser Platz darin? Gibt es einen Anfang? Und also ein Ende? Worauf beruht eigentlich unser Denken und Wissen (zum Beispiel einem Schildkrötenturm gleich auf der Arbeit von zahllosen Generationen von Denkern und Forschern), und wird die Wissenschaft jemals eine einheitliche Theorie dafür haben, welche Kräfte unsere Welt im ganz Großen und im ganz Kleinen bewegen? Sodass den Schöpfungsmythen eine vollständige wissenschaftliche Erklärung an die Seite gestellt wird, die ohne Mythen auskommt und ohne Gott? Oder ist das selbst ein Mythos? Zeit seines Forscherlebens hat Hawking immer aufs Neue nach Antworten auf Fragen gesucht, die Menschen zu allen Zeiten umgetrieben haben auf der Suche nach Sinn. Warum glauben wir, es besser zu wissen?, fragt er am Ende der Anekdote. Und da er natürlich weiß, dass Astronauten von Jurij Gagarin bis Ulrich Walter dort oben keine Schildkröten gesehen haben, meint er wohl: Wie weit weg sind wir von solchen Mythen schon? Das Besondere an Stephen Hawking war, dass er sich und sein Denken stets hinterfragt hat, von Anfang an.
Andererseits war er ein Meister der Selbstironie, eine weitere faszinierende Facette seines Wesens. Oder er wollte vielleicht mit seiner Anekdote auch nur den großen Vorgänger aus Cambridge ehren? Sie ist hernach oft zitiert worden, allerdings habe ich nie eine Quelle dazu gesehen. Vielleicht – und wie schön wäre das denn! – hat er sie in dieser Form ja einfach gut erfunden. Oder eine mündliche Überlieferung recht frei gestaltet. Sicher wird irgendwann neben dem großen Physiker und Kosmologen auch der Schriftsteller Hawking zum Gegenstand von Forschungsinteresse werden.
Der Schildkrötenmythos übrigens kommt in mehreren Kulturen vor, am bekanntesten ist die indische Variante, in der die Welt auf einem Elefanten ruht, der wiederum auf einer riesigen Schildkröte steht (die Schildkröte gehört im Hinduismus zu den zehn Verkörperungen Vishnus). Und Bertrand Russell nimmt darauf immerhin mindestens einmal Bezug. Er erwähnt ihn in seiner Schrift «Warum ich kein Christ bin» (1927), um zu erklären, dass die Idee, alles müsse einen Anfang haben, womöglich in Gott, einzig der Armut unserer Vorstellungskraft entspringe. Hawking sah es auch so, wenngleich er bekanntlich diese Pointe am Schluss seines bekanntesten Buches gestrichen hat.
Jeder von uns erinnert sich vermutlich an Ereignisse, die unseren Horizont erweitert, vielleicht sogar unser Denken und Fühlen, unsere Sicht auf die Welt verändert haben, eine Art mythische Kraft auf uns ausübten. Ein Bild, ein Foto, ein Film, eine Skulptur, ein Musikstück, ein Buch. Mein Buch war 1988 Eine kurze Geschichte der Zeit. Es war der Sachbuch-Bestseller schlechthin, und es war nicht schwer, darauf aufmerksam zu werden. Urknall, Zeitpfeil, Universum, das war eine andere Welt als die, in der ich damals lebte. Es sollte in dem Buch mindestens ein Kapitel geben, das wir Normalsterblichen nicht verstehen, das reizte mich noch mehr. Nun, ich arbeitete damals als Zeitungsredakteur am Niederrhein, sehr weit weg vom Urknall, und habe es ebenfalls nicht verstanden. Heute weiß ich, dass das im Prinzip auch für den ganzen Rest gilt. Zumal was die mathematisch-physikalischen Formeln anbelangt, auf deren Fundament die Physiker ihre Bildersprache aufbauen, damit unsere Horizonterweiterung sich auch ohne die Mathematik ereignen kann. Jedenfalls gehört die Kurze Geschichte der Zeit zu den Büchern, die auch meine Welt verändert haben. Damals hätte ich mir nicht träumen lassen, wie nah ich ihrem Autor einmal kommen und dass ich später die deutschen Ausgaben seiner Bücher als Lektor betreuen würde.
Die Geburtshelfer der deutschen Ausgabe aber, die im selben Jahr mit der englischen erschien, waren der Lektor Jens Petersen und der Übersetzer Hainer Kober. Als Wissenschaftslektor stand ihnen damals Dr. Bernd Schmidt zur Seite, später war es Marcus Pössel, und heute erfüllt Bernd Schuh diese Rolle. Jens Petersen war durch einen Bericht im Spiegel schon einige Zeit vor dem berühmten Buch auf Hawking aufmerksam geworden und begann, sich für den Forscher und sein Thema zu interessieren. Auf der nächsten Buchmesse kaufte er die erste Biographie über Hawking ein: John Boslough, Jenseits des Ereignishorizonts. Stephen Hawking’s Universum. Es erschien 1985, drei Jahre vor der Kurzen Geschichte der Zeit, bei Rowohlt und enthält jenen Satz Hawkings, der seitdem immer wieder zitiert wird: «Mein Ziel ist einfach. Es ist das vollständige Verstehen des Universums – warum es so ist, wie es ist, und warum es überhaupt existiert.» Es folgte, kurz vor dem Bestseller, ein Bändchen mit drei Aufsätzen: Über das Universum.
In der Fachwelt war Hawking längst eine Legende, in der Öffentlichkeit aber noch nicht ganz so bekannt. Deshalb war es durchaus nicht selbstverständlich, dass das Buch, auf der Basis von drei Kapiteln in Lizenz genommen, derart reüssieren würde. «Und das Thema war vollkommenes Neuland» (Petersen). Alle mussten sich einarbeiten, auch der Übersetzer Hainer Kober, heute der wohl bekannteste und im Übrigen preisgekrönte Übersetzer des Genres. Terminologische Fragen waren zu klären, nachdem das Manuskript im Verlag war. Es kam im späten Jahr 1987 mitten in der Nacht in der Reinbeker Villa des Verlags an – per Fax.
Der Lektor zog sich im Frühjahr 1988 mit der Übersetzung in das Haus des befreundeten Autors Hubert Mania zurück, ein früher Hawking-Fan, der später die Rowohlt-Bildmonographie über ihn verfasste. Ein Häuschen im Garten im idyllischen, aber wetterwendischen Hemkenrode im Braunschweiger Land. Die Arbeit war fast getan, als eine heftige Windböe durch das offene Fenster des Gästezimmers im Obergeschoss fegte und gut die Hälfte des Manuskripts mit sich nahm. Nun hingen die Blätter in der ansonsten noch recht kahlen Esche vor dem Fenster, wie sich Hubert Mania bis heute lebhaft erinnert. Er griff sich eine Leiter, «und so ernteten wir neueste astronomische Erkenntnisse und bizarre quantentheoretische Vorhersagen vom Baum». Seine Esche sei damit für kurze Zeit zum «Baum der Erkenntnis» geworden. Acht Seiten fehlten am Ende, Hainer Kober musste sie noch einmal neu liefern – per Post.
Jens Petersen hat Stephen Hawking zweimal getroffen, ich traf ihn einmal. Mein Vorgänger sah ihn zum ersten Mal 1999 auf der Konferenz «Strings 99» in Potsdam (auf die auch Ulrich Walter anspielt); sie fand am alten Einstein-Institut statt, dem Max-Planck-Institut für Gravitationsphysik, und versammelte fünf Tage lang 400 weltweit führende String-Theoretiker, darunter auch Edward Witten. Hawkings Beitrag zur gemeinsamen Suche nach der «Weltformel» lautete: The Universe in a Nutshell. So, Das Universum in der Nussschale, hieß auch zwei Jahre später sein zweites populäres Buch. Es erschien als einziges großes Hawking-Buch im Verlag Hoffmann&Campe, wohin Petersen inzwischen gewechselt war. Jeder für sich trafen wir ihn dann 2005 auf der Frankfurter Buchmesse. Es war sein zweiter und letzter großer Auftritt in Deutschland.
Meine Geschichte geht so: Hawking kam Mitte Oktober 2005 nach Berlin und Frankfurt, um sein neuestes, gemeinsam mit Leonard Mlodinow verfasstes Buch Die kürzeste Geschichte der Zeit vorzustellen. Die deutsche Ausgabe – wir strengten uns an, das stets zu erreichen – erschien zeitgleich mit der englischen, sodass ein großer Auftritt auf der Frankfurter Buchmesse geplant wurde. Stephen Hawking und seine achtköpfige Entourage aus Pflegern und wissenschaftlichen Assistenten, angeführt von seiner Ehefrau Elaine, seiner persönlichen Assistentin Judith Croasdell und seinem wissenschaftlichen Assistenten David Pond, absolvierten eine siebentägige Reise; auf dem Programm standen Meetings und Dinners, ein Besuch in der Komischen Oper («Madame Butterfly»), am Sonntag sein zweiter Talkshow-Auftritt überhaupt bei Reinhold Beckmann, am Montag ein Vortrag an der Freien Universität Berlin im Rahmen der «Einstein Lectures» («The Origin of the Universe») in Dahlem, am Dienstag die Reise nach Frankfurt sowie ein Empfang für seine sämtlichen internationalen Verlage, zu der seine Agentur Writers House einlud, und am Mittwoch der Besuch der Buchmesse.
Ich reiste nach Berlin-Adlershof, die deutsche Ausgabe der Kürzesten Geschichte im Gepäck. Und fand mich irgendwann nach einigem Suchen und Reden in einem Seitenraum des Filmstudios wieder, in dem das Gespräch mit Beckmann aufgezeichnet werden sollte. Ein malerisches Tableau: vor mir Professor Hawking in seinem legendären Rollstuhl, dahinter im...