4Gründe
Ich möchte Ihnen gerne meine Mutter als Person etwas näher bringen, so dass es Ihnen, liebe Leserinnen und Leser, einfacher fällt, sich ein Bild von ihr zu machen. So können Sie letztendlich besser verstehen, was sie zum aktiven Einleiten ihres eigenen Sterbeprozesses bewogen hat.
Meine Mutter hatte im Januar noch gemeinsam mit all ihren Lieben ihren 88. Geburtstag gefeiert. Sie hatte den Tag richtig genossen; alle waren gekommen, alles schien perfekt.
Wer meine Mutter kannte, erinnert sich an eine freundliche, liebenswerte und liebenswürdige Frau, adrett, immer gut und farblich passend gekleidet, gut duftend nach Eau de Lancôme. Sie lachte gerne, war geistig rege, übte täglich französische Vokabeln, um in ihrer ersten Muttersprache fit zu bleiben, hatte nur kleine Gedächtnislücken in Bezug auf Termine und Namen, aber ansonsten war sie interessiert am politischen Weltgeschehen sowie an Fußball, an der Arbeit der Kinder und den Plänen der Enkel.
Sie hat die Krankheiten in ihrem Leben alle gut meistern können, auch die Hüftprothesen, die ihr 27 Jahre vor ihrem Tod beidseits eingesetzt werden mussten. Überlegen Sie mal, knapp drei Jahrzehnte dieselben Kunsthüften! Das kam uns wie eine Rekordzeit vor. Und ich bin mir sicher, dass das nur möglich war durch „sture“, konsequente tägliche gymnastische Übungen im Bett und durch das Beibehalten ihres geringen Körpergewichts. Aber diese „alten“ Hüften waren in den letzten fünf Jahren wackelig geworden und bereiteten ihr immer mehr Sorgen. Die Einschränkungen in ihrem alltäglichen Leben wuchsen stetig, wurden immer größer, bis die Probleme nicht mehr von ihr selbst zu lösen waren. Wie das Leben eben spielt!
Sie konnte ab einem bestimmten Zeitpunkt nichts mehr tragen, kaum noch laufen, nur kurz stehen, sich nicht mehr bücken, im Bett nur noch auf dem Rücken, nicht mehr auf den Seiten liegen, hatte Angst zu stürzen und ins Krankenhaus zu müssen. (Übrigens hatte ich ihr vor einiger Zeit das Versprechen geben müssen, sie auf keinen Fall mehr – egal für welchen Befund – ins Krankenhaus zu bringen.) Aber es kamen noch weitere körperliche Einschränkungen hinzu, wie Konzentrationsschwäche, häufiger Schwindel, kaputte Knie, konstante (Nüchtern-)Magenschmerzen, Unverträglichkeiten von Essen, häufige Übelkeit. Die Blase verlangte häufige Toilettengänge.
Alle diese körperlichen Symptome hatten einschneidende Auswirkungen auf ihr alltägliches Leben. So waren keine Spaziergänge mehr möglich. Sie konnte nicht mehr alleine einkaufen, den Müll nicht selbst wegbringen, nicht mehr putzen und waschen, schaffte es nur fraktioniert, Geschirr zu spülen, da langes Stehen schmerzte. Sie hatte keinen Spaß mehr am Kochen, da der Magen nichts mehr akzeptierte, traute sich keine langen Fahrten, etwa ins Theater, mehr zu – wegen fehlender Pinkelpausen.3 An Urlaubsreisen war nicht mehr zu denken. All diese sich häufenden Unfähigkeiten und Unmöglichkeiten ließen sie zunehmend in Unselbständigkeit geraten. Immer mehr musste sie delegieren, darum bitten, war abhängig von der Zeit und dem guten Willen der anderen.
Wenn ich in ihrer Nähe war (wir wohnten 200 Meter voneinander entfernt), dann war sie beruhigt, dann war alles einigermaßen in Ordnung. Obwohl sie sich immer grämte, mich zu sehr mit ihren Unzulänglichkeiten zu belasten, egal wie oft ich ihr auch versicherte, gern für sie da zu sein. Aber wenn ich dann einmal weg war, etwa im Urlaub oder auf Fortbildung, beschlich sie immer Angst, dann war ihr „Rettungsanker“ nicht direkt greifbar. Diese sich dann noch steigernde Angst und Unruhe machten sich durch noch mehr Magenschmerzen und Schlafstörungen bemerkbar.
Natürlich ist auch ihr Umfeld, die Freunde und Verwandten ebenfalls mitgealtert. So starben innerhalb kurzer Zeit einige ihrer Freundinnen und ein enger Verwandter in ihrem Alter. Ihre beste Freundin erkannte sie nicht mehr – wegen Morbus Alzheimer. Aber auch das Leid der Welt belastete Mama mehr als früher. Nachrichten und Krimis konnte sie kaum noch ertragen. Also lenkte sie sich im Fernsehen mit Tiersendungen ab.
Und dann war da noch der Winter mit seinen nicht enden wollenden dunklen Tagen und den Schneebergen, die von der Fahrbahn in die Parkbuchten geräumt wurden, wodurch das Vorfahren meines Autos vor ihrem Haus unmöglich wurde. Dadurch traute sie sich kaum noch hinaus und konnte nicht mehr so oft zu uns zu Besuch kommen.
Ich fragte mich, wann endlich ein Sonnentag käme, der Frühling seine Vorboten schicken würde! Mama liebte den Frühling, vielleicht hätte sie dann ihren Plan zu sterben noch etwas zurückgestellt!
Wie oft hatten wir es mit „Hilfsmitteln“ versucht: Rollator, Notruf, Putzhilfe, Badewannenlifter, überall Handgriffe, Aufstehhilfen … Aber es kommt eine Zeit, da sind auch Hilfsmittel keine Hilfe mehr, denn auch sie müssen betätigt, angehoben, gereinigt und verstanden werden. Sicherlich gibt es Ausnahmen auch unter den ganz alten Menschen. Menschen, die mit über 90 Jahren noch alleine klarkommen. Meine Mutter aber baute immer mehr ab und durch ihre zunehmende Unsicherheit und die daraus entstehende Furcht geriet sie bei kleinen Problemen schnell in panische Angst.
Ein Vorteil wäre es gewesen, wenn sie ihre Angst klarer hätte kommunizieren können, aber sie war eine Frau, die sich nicht beklagte, die nicht oder nur wenig über ihre Emotionen sprach, sondern es mit sich alleine auszumachen versuchte. Wie gerne wäre ich ihr bei ihren Ängsten näher gewesen! Wie oft habe ich ihr angeboten, mit mir über diese, ja, über alles, was sie belastete, zu reden. Aber sie ließ mich nicht richtig näher kommen, sie konnte es nicht, hatte es nie gelernt.
Obwohl wir beide uns besonders in den letzten 25 Jahren – nach dem Tod meines Vaters – so wunderbar verstanden hatten, herzlich und liebevoll miteinander umgingen, wusste sie weit mehr von meinem Seelenleben als ich von ihrem. Vielleicht wollte sie mich auch einfach mit ihrem Kummer nicht belasten?
All diese Gegebenheiten lassen erahnen, was wohl durch ihren Kopf gegangen sein muss, bei der Frage, wie es wohl weitergehen wird. Es geht dabei ja auch nicht nur um den momentanen Zustand, der Furcht auslöst, es ist auch die Zukunft, die beängstigt. Muss ich in ein Heim? Oder zu einem der Kinder ziehen? Muss ich meine geliebte Wohnung aufgeben?
Ich glaube, wenn Sie, liebe Leserinnen und Leser, ihre Augen für einen Moment schließen und über diese Lebenseinschränkungen nachdenken, die für Sie selbst aus solch einer Situation erwachsen würden, wenn Sie einmal eintauchen wollten in ein Aufwachen am Morgen und den Gedanken an den kommenden Tag mit seinen immer größer werdenden Einschränkungen, gepaart mit immer stärker werdenden Schmerzen in der Hüfte – trotz Morphinpflaster –, dann können Sie vielleicht den Wunsch meiner Mutter, ihr Leben beenden zu wollen, verstehen.
Doch wenn man den Sterbewunsch eines alten Menschen hört, ist man da nicht geneigt, sofort zu widersprechen, die Vorzüge des Weiterlebens zu preisen? Wie viele Menschen würden gerne noch länger leben, aber der Krebs bestimmt ihre Zeit auf Erden? Und du bist, liebe Mama, bis auf „Alterswehwehchen“ noch gesund und willst eher sterben als du musst? Blitzt da nicht der Gedanke von Undankbarkeit auf? Wenn die Kinder sogar bereit sind, die Mutter oder den Vater bei sich aufzunehmen, Kinder, mit denen man sich sehr gut versteht? Kein Androhen von Heim!
In meinem Kopf taucht bei solchen Gedanken ein – auf den ersten Blick – wunderschönes Bild auf: Eine alte Frau sitzt lächelnd auf einer Holzbank vor einem kleinen Haus, näht oder schält Kartoffeln und schaut dem kleinen Enkelkind beim Spielen zu. Die Sonne scheint und das Kind fühlt sich geborgen in der Obhut der Oma, die gerne und selbstverständlich diese Aufgabe der Betreuung übernimmt.
Manchmal hatte ich es mir so ausgemalt für mein Leben, für meine Mutter, für mein Kind. Meine Mutter – eingefügt in unser Leben – bei uns. Eine schöne Vorstellung! Aber für wen? Diese Idee hätte bedeutet, dass meine Mutter ihre Selbständigkeit völlig hätte aufgegeben müssen, sich genügsam in unseren unruhigen Haushalt hätte integrieren müssen, ohne große Eigenbedürfnisse. Welch ein Egoismus! So wäre es früher vielleicht einmal vorstellbar gewesen, aber dafür führte meine Mutter die letzten 25 Jahre, seit ihrer Witwenzeit, ein zu eigenständiges und selbstbewusstes Leben.
Die Selbständigkeit, die meine Mutter nach dem Tod meines dominanten Vaters erst mit Mühe, dann mit Freude gelernt hatte, wollte sie nun auf keinen Fall wieder abgeben. Und das konnte ich sehr gut nachvollziehen!
Und dann war da noch die Erinnerung an den Tod meiner geliebten Oma, Mamas Mutter, vor vielen, vielen...