1. Sterben, Tod und Trauer in einer fortschrittlichen und
modernen Gesellschaft
Der Mensch weiß um seinen Tod und trägt doch den Drang zu leben in sich. Dieser Zustand des Widerspruchs, zwischen Bewusstsein der Sterblichkeit und Drang nach Unsterblichkeit bildet nach Assmann einen „Faktor der Unruhe“ in der menschlichen Welt, der immer neue Lösungen erfordert. Eine Unmenge von Kulturen und Epochen haben so eine Vielfalt an Todesvorstellungen, Riten und Jenseitsvorstellungen hervorgebracht. Die Vielfalt dieser Vorstellungen steht ständig unter der Beeinflussung und Abhängigkeit verschiedener Menschenbilder, unterschiedlicher Individualisierungsgrade, Gruppengrößen, Zeitbegriffe, Lebensvorstellungen von dauerhafter Wandlung bis hin zu Wunsch nach Kontinuität, verändern und prägen die Vorstellungen
über Tod und Sterben. (Assmann 2002:12)
Stimmt es noch immer, was Frau Kübler-Ross vor 30 Jahren schon bemängelte? Dass der Tod kein Thema ist, dass die Gesellschaft mit „ihrer Verehrung der Jugend und Orientiertheit am Fortschritt“ ihn übergeht? (Vgl. 1988:9)[1]
Über ein Tabu wird nicht gesprochen, weder kontrovers noch überhaupt.
Ein Tabu soll verschwiegen und verheimlicht werden, zum vermeintlichen Schutze (von wem?).
Ein Tabu soll auch nicht gesehen werden. Schwerlich lässt sich nun der Tod übersehen, wird er nun allenfalls verdrängt? Verdrängt wird was befürchtet wird, was mit Furcht belegt ist, was Angst auslöst weil es unbekannt oder unerwünscht ist. Verdrängtes kann aber wieder zurückgeholt werden, kann betrachtet werden, kann neu gefunden aber auch erneut ignoriert werden.
Wird der Tod nun verdrängt oder nicht? In Anbetracht der vielfältigen Veröffentlichungen, der soziologischen wie psychologischen und medizinischen Interessen an und um den Tod herum lässt sich primär eine reine Verdrängungsthese nicht halten, wichtiger wäre den Fragen auf die Spur zu kommen, durch welche Gruppen oder Individuen bestimmte Todesbereiche tabuisiert, verdrängt, privatisiert oder bagatellisiert werden.
Worauf im Folgenden und allen nachfolgenden Kapiteln immer wieder und explizit eingegangen werden wird sind die nachfolgenden Argumentationsstränge, die Feldmann aus seiner soziologischen Sicht zusammengetragen hat.
Privatisierung
Sterben ist keine öffentliche Angelegenheit mehr, die moderne Privatsphäre umfasst nur noch wenige Menschen.
Bürokratisierung und Segregation
In der letzten Lebensphase findet man sich eher in Krankenhäusern und Pflegeheimen wieder als zu Hause.
Exklusion der Sterbenden und Toten
Die Gesellschaft, vor allem in größeren Ballungszentren, legt keine Pause nach einem Sterbefall mehr ein, der Ablauf geht nahezu reibungslos weiter.
Emotionale Ablehnung und Professionalisierung
Sterbende und Tote werden eher abgesondert und professionellen Kräften überlassen
Verlust an Primärerfahrung
Durch die Verlängerung der Lebensdauer sterben Bezugspersonen oft erst im Erwachsenenalter, so entsteht ein Erfahrungsdefizit für den „Ernstfall“. Zudem werden Kinder oft von solchen Erfahrungen ferngehalten.
Kommunikationsdefizit
Schwerkranken und Sterbenden wird oft nur unter Zuhilfenahme der Sprache der kurativen Medizin begegnet oder ihnen ganz ausgewichen.
Entfremdung und Depersonalisation
Die Medikalisierung, Technisierung und Bürokratisierung im Umgang mit Sterbenden führt zur Reduktion persönlicher Zuwendung und Selbstgestaltungsmöglichkeiten des Sterbenden.
Partikularisierung des Todes
Die Illusion nur „andere Menschen sterben“ wie Schwerkranke und alte Menschen
Unsterblichkeitsillusionen
Der medizinische und technische Fortschritt nährt beständig die Hoffnung auf Heilung und ständige Lebensverlängerung
Marginalisierung der Rituale
Begräbnisse und Totenkulte sind in einer „modernen Gesellschaft“ eher peripher verankert.
Affektkontrolle
Trauer ist privatisiert und wird bei einer gewissen Überschreitung des „Standards“ als krankhaft bezeichnet
Strukturelle Verdrängung
Eine „öffentliche Sinngebung“ findet nicht statt
(Feldmann 2004:67-68)
Zu beobachten ist im Gegenzug dafür, der Versuch sich eine gewisse Kontrolle und Selbstgestaltung wieder anzueignen. „Nichtprofessionelle“ nehmen das medizinische System nicht mehr fraglos an, über die öffentliche Auseinandersetzung in Bezug auf Patientenverfügung, Entscheidung zum Suizid oder kontroverse Debatten über verschiedene Formen der Sterbehilfe bleibt das Thema (für den der möchte) nicht ungehört. Die Sinnfrage wird per Erziehung nicht mehr mitgeliefert, zur Eigengestaltung von Leben und Sterben ist individuelles Engagement erforderlich. Andere Kulturen und Religionsformen und ihre Lebens- und Todesvorstellungen können in das eigene Lebenskonzept miteinbezogen werden. Obwohl oder gerade weil die Sterbensrate in unserem persönlichen Umfeld geringer sein dürfte als in anderen Länder mit hoher Armut und Kriegswirren, wäre für uns (theoretisch) die Möglichkeit zu einer bewussten Trauerverarbeitung gegeben.
Trotzdem scheint es uns an Umgangsmöglichkeiten zu fehlen. Der Tod zeigt auf, dass Kontrolle, Sicherheit und Planbarkeit letztlich keinen Bestand haben. Der Tod erinnert nach (Kübler-Ross 1975:32) an die Verletzlichkeit des menschlichen Lebens, jedes individuellen Lebens. Er kümmert sich weder um Status noch um Besitz.
Bevor ich betrachten möchte was in unserer Gesellschaft an Umgangsweisen bezüglich des Sterbens vorliegt, möchte ich zunächst in diesem Kapitel einen Rückblick machen, wie Generationen vor uns nach Ansicht Ariés, einem französischen Historiker, mit Tod und Sterben umgingen. Welche Möglichkeiten standen ihnen offen, die sich im Laufe der Zeit, in der Hinentwicklung zu unserer aktuellen Gesellschaftsform doch sehr verändert haben.
Todesbilder sind unterschiedlich, wandeln sich, verändern sich begleiten und prägen eine Gesellschaft.
Ariés geht in seinem Buch dem Versuch nach, den historischen Wurzeln des unterschiedlichen Umgangs mit dem Tod nachzuspüren.
Ariés beschreibt diesen ins Gegenteil verkehrten Tod als einen sich verbergenden Tod. Er weist eindrücklich darauf hin, dass im Laufe des 20. Jhd. in einigen der am stärksten industrialisierten, am weitesten urbanisierten und technisierten Bereichen der westliche Welt eine völlig neue Art und Weise des Sterbens hervorgetreten ist – und was zu sehen ist, sind seiner Meinung nach fraglos erst deren Anfänge. „In modernen Großstädten findet der Tod nicht mehr statt; und selbst die schwarz silbernen Leichenwägen wandeln sich zu unscheinbaren grauen Limousinen. Die Gesellschaft legt keine Pause mehr ein. Das Verschwinden eines Einzelnen unterbricht nicht mehr ihren kontinuierlichen Gang. Das Leben der Großstadt wirkt so, als ob niemand mehr stürbe.“ (Vgl. Ariés 1980:716)
Dabei sind es kleine Modifikationen, die sich über mehrere Generationen hingezogen haben. Eng verbunden mit der beginnenden Medikalisierung, der Hoffnung auf neue Heilverfahren, in der eher die Hoffnung propagiert wird als die Mitteilung des zu Ende gehenden Lebens. Ariés bezeichnet dies als den „Beginn der Lüge“ (1980:717). Der Versterbende wird in Unkenntnis über seinen bevorstehenden Tod gelassen. Der Wunsch den Tod nicht zu spüren, nimmt gegen das Gefühl, sein Ende nahe zu fühlen, zu. Aus „Liebe“ wird geschwiegen, aus Angst, vielleicht eigener Angst, wird Hoffnung aufrechterhalten. In vielen Fällen auch von Frau Kübler-Ross beschrieben, wussten die Sterbenden wie es um sie stand, hielten sich aber an das allgemeine Schweigegebot oder sprachen es nur bei den Menschen aus, bei denen sie davon ausgingen auch darüber sprechen zu können. Die Medikalisierung aber auch die Verlagerung Sterbender von den Familien in...