Vorwort
Stefan Zweig macht es sich leicht. In seinem Buch Sternstunden der Menschheit diskutiert der große österreichische Literat nicht lange, was eine »Sternstunde« ist. Er beschreibt geschichtliche Momente mit selbstverständlicher Autorität. Er weiß: »Solche dramatisch geballten, solche schicksalsträchtigen Stunden, in denen eine zeitüberdauernde Entscheidung auf ein einziges Datum, eine einzige Stunde und oft nur eine Minute zusammengedrängt ist, sind selten im Leben eines Einzelnen und selten im Laufe der Geschichte.«
Zweig definiert in seiner Sammlung von vierzehn Essays nicht, er legt seine Maßstäbe nicht offen, und er begründet nicht. Er hat recht. Er nennt sie Sternstunden, weil sie »leuchtend und unwandelbar wie Sterne die Nacht der Vergänglichkeit überglänzen«.
»Sternstunden Österreichs« zu identifizieren, scheint im historischen Rückspiegel des begonnenen 21. Jahrhunderts doch ein wenig schwieriger. Vieles ist eine Frage der Definition. Was ist eine »Sternstunde«? In welchem Zeitraum sollen Ereignisse als »Sternstunden« beschrieben werden? Wo beginnen? Gibt es Österreich mit Gründung des »Kaisertums Österreich« im Jahr 1804? Oder gar erst ab November 1918, der Gründung der Republik? Oder doch schon mit der ersten überlieferten Erwähnung des geografischen Begriffs »Ostarrichi« in einer Urkunde des Klosters Freising aus dem Jahr 996? Seit wann gibt es »Österreich« als einheitliches Herrschaftsgebiet mit klaren Grenzen? Und ist Österreich überhaupt durch Abgrenzung zu beschreiben, wo doch das Grenzüberschreitende typisch ist?
Österreich macht es einem nicht leicht.
Meinen wir einen geografischen Ort – wo waren dann Österreichs Grenzen im Verlauf der Geschichte, wo sind sie heute? Reden wir von einem dynastischen Begriff – dem »Haus Österreich«? Von einer Nation? Gar von einer Idee? Österreich entzieht sich vielen dieser Definitionsversuche.
Weder (deutsche) Sprache noch Herkunft beschreiben »den Österreicher« umfassend oder gar ausschließlich. Natürlich war Wolfgang Amadeus Mozart Österreicher, obwohl sein Geburtsland Salzburg erst elf Jahre nach seinem Tod zum Kaisertum Österreich kam und er selbst sich als »deutscher« Komponist verstand – so wie Kaiser Franz Joseph, der nostalgische Inbegriff des »Österreichischen«, in seiner Selbstdefinition ein »deutscher Fürst« war. Österreichs erfolgreichster Feldherr Prinz Eugen wiederum stammte aus einer in Frankreich ansässigen Nebenlinie des italienischen Herzogsgeschlechts der Savoyer. Er schrieb Französisch und signierte seiner übernationalen Sendung gemäß dreisprachig: »Eugenio von Savoy(e)«. Und natürlich war der in Bonn geborene Ludwig van Beethoven bei seinem Tod Österreicher und der größte deutsche Komponist zugleich.
Sigmund Freud war Wiener, obwohl er aus Böhmen stammte und als englischer Staatsbürger starb. Das gilt auch für Oskar Kokoschka und Sir Karl Popper.
Die Geburtsorte »österreichischer« Dichter, Gelehrter, Musiker, Erfinder, Architekten, Diplomaten, Feldherren und Schauspieler definieren das »Österreichische« kaum. Die Frage, ob »Österreich« eine Nation ist, bewegte jahrzehntelang die Diskussion im vorigen und vorvorigen Jahrhundert und wurde erst in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts je nach Deutung des Nationenbegriffs beantwortet.
Im Kulturbereich fällt es offenbar weniger schwer eine »Nation« zu definieren, obwohl damit meist die »deutsche« gemeint ist. Immerhin wird das Wiener Hofburgtheater schon 1776 zum »Nationaltheater« erhöht und damit der Vorrang der deutschen Sprache festgeschrieben.
Kaiser Josef II. beantwortet in einem amtlichen Rundschreiben anno 1783 die Frage, was Beamte des Kaiserreichs als ihr »Vaterland« zu empfinden haben: »Das Vaterland für Beamte ist die Monarchie, da alle Provinzen der Monarchie nur ein Ganzes ausmachen.« Einheit aus Vielfalt, immerhin.
Vom »Vaterland« – es war natürlich immer auch »Mutterland« – wird schon seit der frühen Zeit der Markgrafen und Herzöge aus dem Geschlecht der Babenberger gesprochen. Die zerstreuten Ländereien, Besitzungen und Weiler im Osten des bayerischen Herzogtums wachsen zu einer einheitlichen Rechtsgemeinschaft zusammen, werden ein Land und ein Heimatland: lateinisch patria. Bis zur »österreichischen Nation« wird es noch einige hundert Jahre brauchen. Immerhin verwendet schon Kaiser Franz II. den Begriff »österreichische Nation« im propagandistischen Gegensatz zu Napoleon und seiner französischen Staatsnation.
Im Vielvölkerstaat des 18. und 19. Jahrhunderts tun sich die Habsburger mit der Nation recht schwer. Das Reich muss ja definitionsgemäß mehr sein als ein Dutzend dynastisch durch Heirat und/oder Kriegführung erworbener Landstriche samt Bevölkerung unter einer Herrschaft. Der Wiener Kongress 1814/15 versucht das Rad der Zeit zurückzudrehen, und es gelingt ihm immerhin für drei Jahrzehnte. Statt einer Nation gibt es »Nationalitäten«. Das sind viele Minderheiten, politisch und kulturell von einer knappen Mehrheit dominiert: den Deutschen. Immerhin wird 1816 nach den Napoleonischen Kriegen als Folge eines Beinahe-Staatsbankrotts die »Österreichische Nationalbank« gegründet.
Das Ringen um die Gleichberechtigung der »Nationalitäten« nimmt in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts an Dramatik zu, es prägt den politischen Diskurs in der Monarchie, wächst zur Existenzfrage, die nach dem Ersten Weltkrieg mit dem Auseinanderbrechen einer obsolet gewordenen Staatsform beantwortet wird. Was das »alte« Österreich war, das wird Millionen durch den Verlust bewusst. Was das »neue« Österreich sein soll, muss in ideologischen Konflikten – auch blutig – erstritten werden, bis ein gebürtiger Österreicher den Begriff selbst ausradiert, die Nennung des Namens gar unter Strafe stellt.
Und doch ist irgendwie immer klar: wer, was, und wo Österreich ist.
Das Unbestimmbare wird zum bestimmenden Element.
Dieses Buch versucht historische Ereignisse und ihre nachhaltige Wirkung zu beschreiben. »Sternstunden« leuchten am Himmel, strahlen zur Erde, sie verändern den Lauf der Geschichte und bedeuten für Menschen Wichtiges, Gutes, manchmal auch Schönes.
»Sternstunden« sind Ereignisse, Entscheidungen, Entdeckungen, manchmal auch Träume. Sie leiten einen zivilisatorischen Fortschritt ein und sind daher für ihre Zeit relevant. Der Sieg einer österreichischen Fußballnationalmannschaft im argentinischen Córdoba gegen Deutschland gilt als »Sternstunde«, war aber eher eine »Sternschnuppe«. Der knappe Erfolg in einem bedeutungslosen Spiel verfehlt unsere strengen Aufnahmekriterien. Hans Krankls Tor hat den Stürmer berühmt gemacht, aber nichts nachhaltig verändert.
Ist der Erfolg des Travestiekünstlers Thomas Neuwirth in seiner zweiten Identität als »Conchita Wurst« beim Eurovision Song Contest eine »Sternstunde« für Österreich, gar eine Lehrstunde für Toleranz? Wir werden es in ein, zwei Jahrzehnten wissen.
Meist wird die Geschichte eines Landes und/oder seines Volkes entlang von Krisen, Konflikten, Kriegen in der Kategorie von Siegen und Niederlagen erzählt. Das ist ein Teil der Wahrheit.
Wenn wir heute, weitgehend unwiderlegbar, in der besten aller Welten – und zwar für die größte Zahl von Menschen auf allen Kontinenten – leben, dann muss uns der Weg dahin nicht nur durch eine unüberschaubare Folge von Katastrophen geführt haben. Es muss auch eine zumindest ebenso große Folge kleinerer und größerer Schritte und Weichenstellungen zum »Besseren« gegeben haben. Wir Optimisten behaupten das. Entgegen einer weitverbreiteten Stimmungslage: Nie haben mehr Menschen so lange in Frieden, Sicherheit, Wohlstand und Freiheit gelebt wie heute. Dieser zivilisatorische Fortschritt wurde langsam zwar, quälend langsam und immer wieder mit katastrophalen Rückschritten und ungeheuren menschlichen Opfern erkauft, aber er ist da.
Dieses Buch beschreibt die helle Seite unserer Geschichte. Dunkle Seiten gibt es ohnehin genug.
Knapp drei Dutzend historische Ereignisse – wichtigere und scheinbar weniger bedeutende – leuchten in diesem Buch auf. Es sind »Sternstunden Österreichs«, die gar nicht selten auch zu »Sternstunden der Menschheit« wurden.
Wenn Ignaz von Semmelweis den Zusammenhang von Hygiene und Kindbettfieber erforscht, dann rettet seine Entdeckung das Leben von Millionen Frauen, erspart Leid und Tod. Wenn Sigmund Freud in der kühlen Luft des Wiener Cobenzl schläft und beim Frühstück seinen...