Steuerhinterziehung wird oftmals als „Kavaliersdelikt“ oder als „Volkssport“ bezeichnet.[4] So sehen lediglich zwischen 57% und 62% aller in empirischen Studien Befragten Steuerhinterziehung als moralisch verwerflich an.[5] Dies zeigt, dass die Bezeichnung der öffentlichen Meinung als „Kavaliersdelikt“ zumindest teilweise als zutreffend angesehen werden kann. Oftmals wird bei der Steuerhinterziehung und ihrer gesellschaftlichen Akzeptanz differenziert, ob diese von finanziell Bessergestellten oder von „normalen“ Personen begangen wird. Während eine Steuerhinterziehung durch einen finanziell bessergestellten Bürger als verwerflich angesehen wird, gilt sie bei einem „normalen“ Bürger eher als kleineres Delikt wie etwa das „Schwarzfahren“.[6] Dabei ist jedoch festzuhalten, dass sich das Phänomen der Steuerhinterziehung durch fast alle gesellschaftlichen Schichten zieht und dem Staat in der Summe einen hohen Schaden zufügt.[7] So gelang es der deutschen Steuerfahndung im Jahr 2010 Mehrsteuern in Höhe von 1,7 Mrd. € und im Jahr 2011 in Höhe von 2,2 Mrd. € festzusetzen.[8] Dies entspricht ca. 0,07% des Bruttoinlandsprodukts (BIP) der Bundesrepublik Deutschland im Jahr 2010 bzw. ca. 0,085% des BIP im Jahr 2011.[9]
Die Dunkelziffer der Fälle von Steuerhinterziehung dürfte jedoch um einiges höher liegen, wobei eine genaue Bezifferung, z.B. auf Grundlage einer Berechnung anhand der aufgedeckten Steuerhinterziehungen, unmöglich ist.[10] Schätzungen zufolge liegt der Schaden, den der Fiskus durch die Steuerhinterziehung erleidet, jährlich zwischen 50 und 100 Mrd. €.[11] Sollten diese Zahlen in etwa die Realität widerspiegeln, bedeutete dies einen immensen wirtschaftlichen Schaden und somit eine ernste Bedrohung für das Steuersystem und den Staatshaushalt.[12]
Die Frage, warum Menschen Steuern hinterziehen beschäftigt unterschiedliche Forschungszweige. So liefern beispielsweise Wirtschaftswissenschaftler, Psychologen, Soziologen oder Sozialpsychologen Modelle und Erklärungen.[13] Nachfolgend werden einige der in der Wissenschaft als bedeutend geltenden Erklärungsansätze und Modelle vorgestellt.
Nach dem klassischen ökonomischen Modell von Allingham und Sandmo aus dem Jahr 1972 hängt die Wahrscheinlichkeit einer Steuerhinterziehung von der Höhe des Ertrages aus der Steuerhinterziehung im Vergleich zu den möglichen Kosten einer Aufdeckung und den damit verbundenen Strafzahlungen ab.[14] Dabei ist die Wahrscheinlichkeit einer Steuerhinterziehung im speziellen von dem Steuersatz, dem Einkommen, der Strafhöhe, der Entdeckungswahrscheinlichkeit sowie der Risikopräferenz eines jeden Steuerindividuums abhängig.[15]
Spätere Modelle berücksichtigten zusätzlich moralische und soziale Faktoren um das Phänomen der Steuerhinterziehung zu erklären, vermochten aber nicht überzeugten.[16]
Zu Beginn der 1950er Jahre erweiterte Schmölders die bis dahin geltenden Theorien mit der Etablierung der Steuerpsychologie, indem er die Modelle um soziologische, biologische, politologische sowie anthropologische Aspekte erweiterte.[17] Hierbei spielen vor allem die Steuermentalität und die Steuermoral eine zentrale Rolle.[18] Die Steuermentalität, also die Einstellung gegenüber dem Steuersystem oder beispielsweise auch zur Steuerpflicht und -ehrlichkeit beeinflusse die Steuermoral, also die Einstellung gegenüber dem Steuerdelikt.[19]
Aktuelle soziologische und sozialpsychologische Theorien liefern weitere Erklärungsansätze, weshalb Steuern hinterzogen werden, so etwa die Anomietheorie, welche die geltenden Theorien vor allem um die Dimension der persönlichen Fähigkeiten und Kenntnisse zur Steuerhinterziehung erweitert, oder die Neutralisierungstheorie, die versucht, Steuerhinterziehung mit Verdrängungstechniken zur persönlichen Rechtfertigung in Verbindung zu bringen.[20]
Erste juristische Wurzeln des Straftatbestandes einer Steuerhinterziehung finden sich in den deutschen Partikularstaaten und im deutschen Kaiserreich bereits im 19. Jahrhundert wieder, damals jedoch unter dem Begriff der Defraudation.[21] An dieser Stelle muss jedoch festgehalten werden, dass der Straftatbestand dem heutigen kaum ähnelte und sich je nach Partikularstaat unterschied.[22]
Im Jahre 1919 wurde mit der Einführung des § 359 RAO erstmals ein einheitlicher, für die damalige Weimarer Republik geltender, Straftatbestand geschaffen.[23] Diese Norm stellte in Abs. 1 die Erschleichung von nicht gerechtfertigten Steuervorteilen zum eigenen Vorteil oder zum Vorteil eines Anderen sowie das vorsätzliche Bewirken einer Verkürzung von Steuereinnahmen unter Strafe, wobei die Mindeststrafe 20 Reichsmark betrug.[24] Auch das Kompensationsverbot des heutigen § 370 Abs. 4 S. 3 AO war in § 359 RAO enthalten.[25] In den darauf folgenden Jahren kam es zu mehrfachen Änderungen der Mindeststrafhöhen, so dass beispielsweise im Jahr 1924 die Strafmöglichkeit einer Geldstrafe wegen Steuerhinterziehung in unbeschränkter Höhe eingeführt wurde.[26] Des Weiteren wurde die Geldstrafe bei Zöllen und Verbrauchssteuern mindestens auf das Vierfache des hinterzogenen Betrags festgelegt (sog. Multiplikarstrafdrohung[27]).[28] Auch eine strafverschärfende Möglichkeit einer bis zu zweijährigen Haftstrafe wurde neu eingeführt.[29]
Im Laufe der 1930er Jahre wurde aus § 359 RAO der neue § 396 RAO.[30] Ferner wurden sowohl die Schuldvermutung bei Zoll- und Verbrauchssteuerhinterziehung, als auch die Multiplikarstrafdrohung abgeschafft.[31] In der Nachkriegszeit kam es zu einigen Strafverschärfungen sowie -milderungen, bis im Jahre 1977 die AO und der heutige § 370 AO eingeführt wurden.[32] § 370 AO unterschied sich dabei von § 392 RAO, welcher im Jahr 1968 den § 396 RAO ersetze[33], vor allem darin, dass die Tathandlungen in Abs. 1 S. 1-3 konkretisiert wurden.[34]
Seit der Einführung des § 370 AO wurde auch dieser mehrfach geändert, was u.a. durch die Einführung des EG-Binnenmarktes sowie durch die Umsetzung von EG-Richtlinien notwendig wurde.[35]
a) Tatbestand und Normzweck
Gem. § 370 Abs. 1 AO erfüllt den Straftatbestand der Steuerhinterziehung, wer gegenüber den zuständigen Behörden über steuerlich erhebliche Tatsachen unrichtige oder unvollständige Angaben macht (Nr. 1), die zuständigen Behörden pflichtwidrig über steuerlich erhebliche Tatsachen in Unkenntnis lässt (Nr. 2) oder pflichtwidrig die Verwendung von Steuerzeichen oder Steuerstemplern unterlässt (Nr. 3).[36] Als Taterfolge kommen dabei entweder das Verkürzen von Steuern oder aber das Erlangen eines nicht gerechtfertigten Steuervorteils in Betracht.[37] In den Absätzen 4 bis 7 finden sich Ergänzungen zum Grundtatbestand der Steuerhinterziehung, wobei Abs. 4 definiert, wann Steuern als verkürzt gelten.[38]
Durch § 370 AO wird nach ständiger Rechtsprechung das öffentliche Interesse des Staates am vollständigen und rechtzeitigen Steueraufkommen geschützt.[39] Es handelt sich dabei um einen Erfolgsdelikt, d.h., dass die Handlung für den Erfolg der Tat ursächlich sein muss.[40] Zudem stellt die Norm einen Gefährdungs- und nicht notwendigerweise einen Verletzungsdelikt dar, da für die Tatbestandverwirklichung nicht zwingend eine Schädigung des Steueraufkommens vonnöten ist, sondern lediglich eine Gefährdung.[41]
Bei § 370 AO handelt es sich nach ständiger Rechtsprechung des BGH um ein Blankettgesetz, d.h., dass sich das Verbot der Steuerhinterziehung nicht vollständig aus der Einzelnorm ableiten lässt, sondern erst mithilfe anderer Normen, auf die sich das Blankettgesetz bezieht.[42] In der Literatur wird § 370 AO jedoch zum Teil als normativ bestimmter Tatbestand angesehen, so dass sowohl Tathandlung als auch Taterfolg durch andere Gesetze näher bestimmt werden müssen.[43] Da diese Diskussion für den weiteren Verlauf von untergeordneter Bedeutung ist, soll an dieser Stelle nur auf sie hingewiesen werden, ohne dabei Position zu beziehen.
b) Sachlicher Anwendungsbereich
Die Vorschrift des § 370 AO schützt nicht alle Steuerarten, daher ist an dieser Stelle zu klären, auf welche sie Anwendung findet. Grundsätzlich sind alle in § 3 Abs. 1-3 AO genannten Steuerarten geschützt, wobei zu berücksichtigen ist, dass aufgrund des § 1 Abs. 1 AO zunächst nur Steuern nach Bundesrecht oder nach Recht der EG, nicht jedoch solche nachRecht der Bundesländer von § 370 AO erfasst werden.[44] Dies ist insbesondere bei der Hinterziehung der Kirchensteuer von...