1 Was ist eine störungsorientierte psychodynamische Psychotherapie?
Günther Klug und Michael von Rad
Während früher Therapieschulen von charismatischen Führern gegründet wurden, die ein bestimmtes Menschenbild proklamierten, ihre »Jünger« um sich scharten, Abgrenzungskämpfe gegenüber anderen Schulen oft nach dem Mechanismus des »Narzissmus der kleinen Differenz« führten und Dissidenten von der »reinen Lehre« ausstießen (die dann ihrerseits neue Schulen gründeten), hat die empirische Psychotherapieforschung mit ihrem nüchternen pragmatischen Ansatz: »was hilft wem?« diesen leidenschaftlichen Schulenstreit der Therapien auf den Prüfstand gestellt. Das führte bekanntermaßen zu dem verstörenden Resultat (für Kurztherapien), das wissenschaftlich-seriös »Äquivalenz-Paradox« (Meyer 1990), mehr poetisch »dodo-bird verdict« (Rosenzweig 1936) genannt wird. Es besagt, dass die spezifischen Wirkfaktoren, die die »Markennamen« der verschiedenen Therapieverfahren (psychoanalytisch, psychodynamisch, verhaltenstherapeutisch etc.) ausmachen, nur wenig, nämlich ca. 15 % der Varianz des Behandlungserfolges, aufklären (Lambert und Barley 2002), dagegen die »common factors« (Arbeitsbündnis, Empathie, Echtheit und Wärme des Therapeuten etc.), die in jeder Therapieform vorkommen, doppelt so viel, also 30 %. Die empirische Psychotherapieforschung hat so mit ihrer (Meta-)Analyse dem Therapieschulenstreit die »narzisstische Spitze« abgebrochen. Darüber hinaus aber, zur Synthese benützt, hat sie geholfen, neue Therapien quasi am Reißbrett zu konstruieren. Das von Orlinsky und Howard (1986, 1987) entwickelte »Generic Model of Psychotherapy« ist das Resultat einer Synthese von über 2.300 Befunden aus der Prozess-Outcome-Forschung, deren Bedeutung sich nur nach Effektstärke und statistischer Signifikanz bemisst. Als paradigmatisch für diese Entwicklung kann Grawes »Allgemeine Psychotherapie« (1995) gelten, die auf den Ergebnissen der bis Ende 1983 publizierten, kontrollierten Wirksamkeitsstudien basiert. Sie postuliert vier allgemeine, empirisch gesicherte Wirkfaktoren: Ressourcenaktivierung, Problemaktualisierung, aktive Hilfe zur Problembewältigung und motivationale Klärung, die in einem unterschiedlichen Mischungsverhältnis in jeder Psychotherapie vorkommen sollen. Die komplementären Gesichtspunkte Ressourcenaktivierung versus Problemaktualisierung und motivationale Klärung (= Einsicht) versus aktive Hilfe zur Problembewältigung bilden jeweils eine Perspektive, die um die Dimension intrapersonal versus interpersonal ergänzt werde und so (nach Grawe) den konzeptuellen Rahmen bilde, in dem jede einzelne Psychotherapie erfasst werden könne. Essenziell ist, dass diese »allgemeine Psychotherapie« theoriebasiert, aber nicht mit einem bestimmten therapeutischen Ansatz verbunden, sondern schulenübergreifend ist.
Wampold (2001) hat ein »kontextuelles« Therapiemodell entwickelt, dass sich ganz auf die »common factors« als Wirkfaktoren stützt, und viel empirische Evidenz dafür gefunden. Sein Therapiemodell postuliert mehrere therapieschulenübergreifende Wirkfaktoren wie eine emotional besetzte, vertrauensvolle Beziehung zu einer helfenden Person im Kontext eines heilenden Settings, in dem der Patient annimmt, dass er Hilfe erhält. Ihm wird ein Mythos angeboten, der eine plausible Erklärung für seine Symptome enthält und ein Ritual verschreibt, das vom Patienten und vom Therapeuten akzeptiert wird, aber nicht notwendigerweise »wahr« sein muss; es genügt, dass der Patient an die Behandlung glaubt.
In einem »ironischen Kontrast« (Lambert 2004, S. 175) zu der Erkenntnis, dass die »common factors« der wichtigste Wirkfaktor für den Therapieerfolg sind, steht die zunehmende Entwicklung der störungsspezifischen Behandlungen; Strauss nennt das ein »Spezifitätsparadoxon« (Strauss 2001b, S. 428). Störungsspezifische Psychotherapie entstand auf dem Boden der evidenzbasierten Medizin, die Kriterien für empirisch validierte Psychotherapien bei bestimmten Krankheiten oder Syndromen entwickelte. Als »Störung«, die »spezifisch« psychotherapiert werden soll, wurde also sehr schnell und etwas unhinterfragt ein medizinisch-nosologisches Syndrom (wie z. B. Panikstörung) oder eine Krankheitseinheit (z. B. Anorexia nervosa) unterstellt. In diesem Sinne wurde und wird »störungsspezifisch« in aller Regel verstanden und angewandt. Unter psychodynamischen Gesichtspunkten ist Störung aber nicht nur als nosologische Einheit zu verstehen: Es gibt auch eine spezifische psychische Struktur mit typischen Dysfunktionalitäten, die dann auch in spezifischer Weise behandelt werden kann (als Beispiel siehe die unten angeführte übertragungsfokussierte Psychotherapie (transference-focused psychotherapy, TFP). Der Begriff »störungsspezifisch« wird also unter psychodynamischer Perspektive differenzierter angewandt.
Störungsspezifische Psychotherapien beruhen auf der Annahme, dass spezifische therapeutische Techniken den Therapieerfolg bestimmen, die aber nicht mehr schulengebunden sein müssen, sondern »durchmischt« sein können. Beispielsweise finden sich in einer psychoanalytisch orientierten Behandlung von essgestörten Patienten aus der Verhaltenstherapie entwickelte Maßnahmen zur »response prevention«. Diese »maßgeschneiderten« Therapien (Strauss 2001a), die im stationären Rahmen besonders gut zu gedeihen scheinen, sollen den unspezifischen, »verfahrensorientierten« Therapien überlegen sein, wofür bereits einige empirische Hinweise bestehen (Bateman und Fonagy 2008, Clarkin et al. 2007, Milrod et al. 2007).
Definition
Caspar, Herpertz und Mundt (2008) vertreten die Auffassung, »… dass es als Basis für angemessene Behandlungen essenziell ist, das jeweils Spezielle an einzelnen Störungen herauszuarbeiten und diesem sowohl in ätiologischen Erklärungen wie auch in störungsspezifischen Behandlungstechniken Rechnung zu tragen«. Folgerichtig definieren sie, dass unter störungsspezifischer Therapie Ansätze verstanden werden, »… die ganz auf die Karte des Spezifischen setzen. Typischerweise wird ein bestimmtes störungsspezifisches Ätiologiekonzept in den Vordergrund gestellt, aus dem therapeutische Vorgehensweisen abgeleitet werden.« Demnach liegt am Grunde einer störungsspezifischen Therapie eine (oder mehrere) ätiologische(n) Hypothese(n) und also mehr als lediglich ein Symptom oder ein Syndrom wie z. B. das ICD-10 es vorgibt, das rein phänomenologisch und atheoretisch konzipiert sein will. Zunehmend wird der Begriff »störungsorientiert« statt »störungsspezifisch« gebraucht, der zum Ausdruck bringen soll, dass an den Grenzen des »Spezifischen« nicht Halt gemacht wird (Herpertz et al. 2008, S. V), sondern auch allgemeine (im Sinne von: nicht störungsspezifische) Aspekte zugelassen sind, sodass eine größere Offenheit entsteht. Auch Mundt und Backenstraß plädieren für einen Mittelweg zwischen störungsspezifischer Einheitspsychotherapie und individueller Differenzierung (Mundt und Backenstraß 2001, Mundt und Backstraß 2005). Die Abgrenzung zur allgemeinen (im Sinne von unspezifischen) Psychotherapie wird dadurch schwieriger; Fiedler hält sie nur für einen »Mythos« (Fiedler 2001, S. 408).
Mit dieser Öffnung stellt sich die Frage: Was ist dann allgemeine Psychotherapie? Am besten kann sie als Extrem gegenüber der störungsspezifischen Therapie formuliert werden und da bietet sich die »klassische« Psychoanalyse an. Sie hat natürlich störungsspezifische ätiologische Hypothesen, aber sie leitet keine behandlungstechnischen Strategien oder Taktiken daraus ab, mit denen der Therapeut den therapeutischen Prozess strukturiert und lenkt. Der Patient wird zur freien Assoziation aufgefordert, die nicht gestört wird, und der Therapeut stellt sich mit seiner gleichschwebenden Aufmerksamkeit darauf ein. Was Thema wird, bestimmt das Unbewusste des Patienten, das die »pathogenen Komplexe« ins Bewusstsein rückt, und der Psychoanalytiker zielt mit seiner Deutung auf den Dringlichkeitspunkt (Strachey 1935, S. 507), vorzugsweise in oder an der Übertragung, theoretisch gleichgültig, ob er einen depressiven Patienten, einen Borderline-Patienten oder einen Panik-Patienten vor sich liegen hat.
Im Gegensatz dazu wird ein Therapeut in der übertragungsfokussierten Psychotherapie (TFP; Clarkin et al. 1999) bei der Therapie eines Borderline-Patienten von spezifischen Kriterien seiner Persönlichkeitsorganisation ausgehen (der Identitätsdiffusion, dem Gebrauch bestimmter primitiver Abwehrmechanismen und einer, außer in Stresssituationen, meist erhaltenen Realitätsprüfung) und zuerst einen Therapievertrag schließen, der die Verantwortlichkeiten von Patient und Therapeut ganz allgemein regelt und speziell auch den Umgang mit Bedrohungen des therapeutischen Rahmens. Auf der theoretischen Basis der gestörten Selbst- und Objektbeziehungen hat der Therapeut vier Therapiestrategien (»the broad strokes«) zur Verfügung, um sich im therapeutischen Prozess zu orientieren. Auf Stundenebene wird der Therapeut von sieben Taktiken geleitet, die ihm helfen, die oft chaotische Flut von Informationen zu ordnen und vor allem eine Hierarchie der zu bearbeitenden Themen festzulegen, die mit bedrohlichem Agieren wie Suizid- oder Morddrohungen beginnt und über der Bearbeitung der Übertragung bei der Arbeit mit nicht übertragungsbezogenem, affektgeladenem Material endet. Die Deutung der Übertragung auf den Therapeuten im Hier-und-Jetzt ist das zentrale Element der Therapie, Klärung und Konfrontation sind die vorbereitenden Schritte, supportive Interventionen sind nicht Teil des Konzeptes. Die Deutungskompetenz des Therapeuten wird nach den vier Kriterien Klarheit, Schnelligkeit, Relevanz und Tiefe...