1 Vom Priesterarzt zum Physikus
Die heute in einem psychiatrischen, psychologischen oder psychosozialen Beruf arbeitenden Frauen und Männer können auf eine vieltausendjährige Ahnengalerie zurückblicken. Sie reicht von den frühzeitlichen Heiler innen und Heilern, den weisen Frauen und Zauberpriestern der magischen Heilkunde über die Seelenforscher und Irrenärzte auf dem Weg zur Wissenschaft bis zu den Therapeutinnen und Therapeuten der Gegenwart. Von den ersten Anfängen irgendwann in der Menschheitsgeschichte an blieben jedoch über alle Epochen die Ziele ihres Handelns unverändert: Unterstützung zu gewähren, Krankheiten zu heilen, Leiden zu lindern. Beistand und Hilfe bei Schmerz, Krankheit und Gebrechen sind – als Merkmale der Zivilisation jenseits des evolutionären Ausleseprinzips – unerlässliche Bedingungen zum Erhalt und Wohlergehen jeder Gemeinschaft. Die Krankenbehandlung wurde somit fundamentaler und integraler Solidaritätsbestandteil in allen Kommunitäten und Kulturen, geleitet vom Menschenbild, beeinflusst durch Weltanschauungen und justiert an den jeweils vorliegenden heilkundlichen Erkenntnissen.
Ein kurzer Rückblick auf die wechselvolle Geschichte der Psychiatrie und ihrer Nachbardisziplinen im Auf und Ab zwischen Weiterentwicklung und Rückschritten mag dazu beitragen, Arbeit und Aufgaben derjenigen nachzuvollziehen, die sich den seelischen Nöten und Leiden ihrer hilfesuchenden Mitmenschen widmen.
Das magisch-animistische, geschlossene Weltbild der frühzeitlichen Menschen wurde wahrscheinlich von dämonologischen Vorstellungen hinsichtlich Krankheit, Unglück und Naturkatastrophen geprägt, die als Bestrafung durch erzürnte Götter oder böse Geister für angebliche Verfehlungen, „Tabubrüche“, aufgefasst wurden. Hier hatte der ausersehene, quasi offiziell beauftragte Heiler die Rolle des vermittelnden, die übermächtigen Gottheiten um Versöhnung bittenden Mediators. Er war als Akteur sakraler Handlungen in Form von Beschwörungen, Gesängen, Tänzen, Berührungen und Opferungen suggestivtherapeutisch er „Seelsorger“ im ursprünglichsten Sinn. Durch die vorlaufende, bisweilen mittels Rauschdrogen intensivierte zeremonielle Einstimmung auf die therapeutische Prozedur sollten nicht nur die suggestible Empfänglichkeit des Kranken gesteigert, sondern auch dessen Selbstheilungspotentiale geweckt werden. Das Prinzip einer Mobilisierung der eigenen Kräfte zur Überwindung von Krankheiten durch suggestive Einwirkungen liegt als unentbehrlicher, machtvoller Placeboeffekt allen heilenden Maßnahmen zugrunde – der wissenschaftlich evaluierten Heilkunst ebenso wie den scheinbar unerklärlichen Wunderheilungen. Ob möglicherweise bereits in der Vorzeit Zusammenhänge zwischen psychischen Veränderungen und körperlichen Funktionen vermutet wurden, ist unklar. Die Hinweise auf Schädeltrepanationen während der Jungsteinzeit könnten in diese Richtung deuten, ebenso der Gebrauch psychotroper Substanzen in den frühen Hochkulturen. Der uralte Schamanismus lebt fort im Handauflegen des Medizinmannes bei den Naturvölkern und in der esoterischen „Alternativmedizin“ der heutigen Zeit, in der statt Schutzgeistern und freundlichen Göttern ominöse, physikalisch nicht nachweisbare Energieströme und Schwingungen als stärkende Kräfte beschworen werden.
Wie in der vorzeitlich-archaischen bestimmten in der mesopotamischen bzw. altpersischen und altägyptischen Heilkunde Religion, Mythologie und Astrologie den Umgang mit dem Kranken, auch bei psychischen Auffälligkeiten wie Verwirrtheit oder Halluzinationen. Im Zweistromland wurden Krankheiten auf Besessenheit oder sittliche Verfehlungen zurückgeführt und mit Hilfe eines speziellen „Seelenarztes“ durch rituelle Waschungen, Isolierung der „Unreinen“ und exorzistische Beschwörungen zu heilen versucht. Die Praktiken einer Verbannung böser Geister ziehen sich später wie ein roter Faden durch die christliche Tradition, angefangen von den Wunderheilungen Jesu mittels Teufelsaustreibung über die mittelalterliche Dämonologie und den Glauben an schützende Amulette bis hin zum modernen Exorzismus der katholischen Kirche gemäß den Vorschriften des Rituale Romanum. An psychotropen Substanzen scheinen den sumerischen Ärzten des 3. Jahrtausends v. Chr. außer Alkohol in erster Linie Opiate (aus Schlafmohn, den sie „Pflanze der Freude“ nannten) geläufig gewesen zu sein.
Spätestens im Alten Ägypten gab es neben Anrufungen der göttlichen Schutzpatrone Isis, Horus und Thot bereits empirisch-rationale Ansätze einer Krankheitslehre und chirurgische, chiropraktische, medikamentöse und diätetische Techniken. Im Papyrus Ebers aus dem 2. Jahrtausend v. Chr., in dem die damalige ägyptische Medizin abgehandelt wird, sind etwa 900 Rezepturen unterschiedlichster Zusammensetzungen aufgeführt; zur Beruhigung offensichtlich Verwirrter wurden von den ägyptischen Priesterärzten wahrscheinlich Extrakte von Schlafmohn, Alraune und indischem Hanf eingesetzt. Vermutlich auch ärztlich tätig war Imhotep, berühmter Verwalter und Baumeister zur Zeit des Königs Djoser während der 3. Dynastie des altägyptischen Reichs (um 2700 v. Chr.). Er wurde zum Heilgott erhoben; der ihm geweihte Tempel in Memphis war zugleich eine leibseelische Behandlungsstätte. In Theben, der Hauptstadt des Neuen Reiches, gab es unter Ramses II. (1290–1224 v. Chr.) im „Haus des Lebens“, einer „Heilstätte der Seele“, eine riesige Bibliothek, deren Schriften im Sinne einer Bibliotherapie – Gesundwerden durch Lektüre – genutzt wurden.
Die Hindu-Priester der bis ins 1. Jahrtausend v. Chr. zurückreichenden altindischen Veden behandelten mit Zaubersprüchen, Opfern und Exorzismus; die Philosophie und Praxis der Yoga-Meditation wurde von der Ayurveda-Medizin in ein differenziertes Kompilat aus Diätetik, Physiotherapie und Pflanzenheilkunde integriert. Aus der indischen Heilkunde stammen im Übrigen die Kenntnisse über die beruhigende und angstdämpfende Wirkung der „Schlangenwurzel“ („Rauwolfia serpentina“). In der westlichen Medizin wurde deren Hauptalkaloid Reserpin bis in die neuere Zeit nicht nur zur Blutdrucksenkung, sondern auch als sedierendes Psychopharmakon erfolgreich zur Behandlung von Psychosen verwendet (siehe Kapitel 3).
Die Ursprünge der altchinesischen Medizin wurzeln wahrscheinlich in einer Verbindung von religiösem Ahnenkult und volkstümlicheinfacher Empirie. Die sich daraus entwickelnde Heilkunde bediente sich nicht nur Orakeln, Bannsprüchen, Beschwörung en, Talismanen und Amuletten, sondern auch einer größeren Anzahl an Heilpflanzen. Zur konzeptionellen Grundlage der Heilkunst wurden vermutlich im ersten vorchristlichen Jahrtausend das polare Yin-Yang-Prinzip und die Lehre von den fünf Elementen Holz, Feuer, Erde, Metall und Wasser. Beeinflusst von konfuzianischer Lebensweisheit und religiöser Mystik des Daoismus wurden um das 5. Jahrhundert v. Chr. Diätetik und Drogenkunde mit magisch-philosophischen Unterweisungen verschmolzen. Besondere Bedeutung als Diagnose- und Therapiemethoden erlangten in der traditionellen chinesischen Medizin (TCM) die Beobachtung des Pulses, die Akupunktur und die Moxibustion. Wie in den anderen genannten Kulturkreisen sollen im alten China ebenfalls Heilschlaf und Traumdeutung bekannt gewesen sein.
Auch die antike griechische Medizin war in ihren Anfängen von sakralen Mythen geleitet; die Tempelmediziner beriefen sich auf den Heilgott Asklepios, dessen Mysterienkult ab dem 7. Jh. v. Chr. in den Heilstätten von Epidauros, Knidos, Kos und Pergamon bis Rhodos mit systematischen, schulmäßigen Behandlungen verknüpft wurde. Nach ausführlicher Anamnese verordneten die Priesterärzte – ganzheitlich-naturphilosophisch orientiert – außer Gebeten und Opfergaben auch Diät, Medikamente und Bäder. Eine besondere Rolle spielten der aus Ägypten übernommene Tempelschlaf im „Heiligen Hain“ und die sich anschließende Traumdeutung, d. h. Entschlüsselung der Traumsymbolik, die mit psychohygienischen Ratschlägen verbunden wurde.
Die Heilkunst der Asklepiaden wurde von der hippokratischen Medizinschule auf Kos in Richtung einer rationalen Medizin revolutionär weiterentwickelt. Hippokrates führte Krankheiten wie z. B. epileptische Anfälle, die „Heilige Krankheit“, nicht mehr auf göttliche Einwirkungen, sondern auf natürliche Ursachen zurück. Er hielt das Gehirn für das Zentrum geistig-seelischer Tätigkeit und betrachtete Verwirrtheit und andere Geistesstörungen wie auch Ängste und Schwermut als Zeichen einer Hirnkrankheit. Hippokrates (vermutlich 460–377 v. Chr.), geboren auf der Insel Kos, unternahm nach Unterweisung durch seinen Vater ausgedehnte Studienreisen durch Griechenland und Kleinasien. Nach seiner Rückkehr praktizierte er als Arzt und begründete die koische Medizinschule. Seinen Lebensabend verbrachte er in Larissa/Thessalien. Die über 60, teilweise ihm zugeschriebenen, Abhandlungen des Corpus Hippocraticum aus dem 5. bis 4. Jh. v. Chr. stellen eine Sammlung heilkundlicher Traktate über verschiedene Krankheiten und Körpergebrechen dar; sie enthalten auch Verhaltensregeln und Übungen gegen psychische Beeinträchtigungen. Im ersten Buch („Epidemien“) werden verschiedene Arten von Delirien, Epilepsien und Wahnvorstellungen als Folge von Hirnschädigungen beschrieben, ferner Symptome der Betrunkenheit und – recht differenziert – das Krankheitsbild einer Depression.
Gemäß ihrem humoralpathologisch en Konzept, demzufolge als Ursache aller Krankheiten ein Ungleichgewicht zwischen den Körperflüssigkeiten Blut, Schleim, gelbe und schwarze Galle angenommen wurde („Viersäftelehre“), war das therapeutische Ziel der Hippokratiker eine Wiederherstellung der Homöostase, d. h. einer harmonischen...