2 Fachliche, wirtschaftliche und räumliche Kriterien einer stationären Mutter-Kind-Behandlung in Kliniken für Erwachsenenpsychiatrie
Regina von Einsiedel, Susanne Wortmann-Fleischer, George Downing und Wolfgang Jordan
Für Mutter-Kind-Behandlungen bestehen keine einheitlichen Standards. Deshalb ist dieser Beitrag auf die praktischen Gesichtspunkte einer Mutter-Kind-Einheit in psychiatrischen und psychosomatischen Kliniken ausgerichtet. Drei Sichtfelder werden fokussiert: das diagnostisch-fachliche, das wirtschaftliche und das räumliche Sichtfeld. Die diagnostischen und klinischen Aspekte werden erörtert und die postpartale schizophrene Psychose wird besonders gewichtet. Im Zuge der Gesundheitsreform werden Diagnostik und Dokumentation nicht zuletzt für die Finanzierung von Mutter-Kind-Behandlungen von zentraler Bedeutung. Bisher wurden Mutter-Kind-Behandlungen in der Psychiatrie Personalverordnung (PsychPV) nicht abgebildet und die Therapien von den Krankenkassen in der Regel nicht erstattet. Dies ändert sich für die psychiatrischen Fächer 2013 mit Einführung des neuen Entgeltsystems. In der Hoffnung, dass sich Mutter-Kind-Behandlungen zunehmend als Standardtherapien in psychiatrischen und psychosomatischen Kliniken etablieren, was dringend notwenig ist, wird auch Bezug auf die räumliche und personelle Ausstattung für die stationäre Mutter-Kind-Behandlung genommen.
2.1 »Von der Pike auf«: Diagnosestellung psychischer Störungen
Die deutsche Ärzteschaft ist Mitglied der Weltgesundheitsorganisation (WHO). Seit 2000 wurde mit der WHO vereinbart, dass auch in Deutschland Diagnosen nach §§ 295 und 301 des Sozialgesetzbuchs (SGB), Internationale Klassifikation der Krankheiten, 10. Revision (ICD-10) V verschlüsselt werden. Dies gilt für die stationäre und ambulante Versorgung. Im Kapitel V (F) des ICD-10 sind »Psychische und Verhaltensstörungen« in Gruppen von F00 bis F99 gegliedert (Dilling et al. 2005).
In jüngerem bis mittlerem Erwachsenenalter kommen vor allem affektive Erkrankungen, und hier gehäuft die depressiven Störungen (F32. oder F33.) vor. Auch Schizophrenien (F2), Persönlichkeits- und Verhaltensstörungen (F6), neurotische, Belastungs- und somatoforme Störungen oder Angst- und Zwangsstörungen (F4) und psychische sowie Verhaltensstörungen durch psychotrope Substanzen (F1) treten auf (Berger 2009; Sadock et al. 2009).
In der Gruppe der »F50–F59: Verhaltensauffälligkeiten mit körperlichen Störungen und Faktoren« findet sich die Untergruppe »F53: Psychische oder Verhaltensstörungen im Wochenbett, anderenorts nicht klassifiziert«. Mütterliche Erkrankungen, die sich innerhalb von sechs Wochen nach der Geburt entwickeln, werden »mit zwei Codierungen der ICD-10« verschlüsselt, der »spezifischen psychischen Störung in Kombination mit der Codierung F53« (Dilling et al. 2005) (s. Abb. 1 und Tab. 1).
Abb. 1: Codiersystem nach ICD-10
Tab. 1: Klassifikation nach ICD-10
F53 | Psychische oder Verhaltensstörungen im Wochenbett, anderenorts nicht klassifiziert |
F53.0 | Leichte psychische und Verhaltensstörungen im Wochenbett, anderenorts nicht klassifiziert, dazugehörig: postpartale Depression |
F53.1 | Schwere psychische und Verhaltensstörungen im Wochenbett, anderenorts nicht klassifiziert, dazugehörig: Puerperalpsychose |
ICD-10 online (WHO-Version 2006) |
Merke: Psychische und Verhaltensstörungen werden im Kapitel V (F) des ICD-10 in Diagnosegruppen von F00 bis F99 verschlüsselt. Beispielsweise werden postpartale Depressionen (F32.x) mit »ICD-10 F53.x: Psychische oder Verhaltensstörungen im Wochenbett, anderenorts nicht klassifiziert« doppelcodiert.
2.1.1 Fachliches Sichtfeld: Zwei ausgewählte Beispiele
Zwei Störungen werden im nachfolgenden Kapitel synoptisch erläutert: die Depression, weil sie oft vorkommt, und die schizophrene Psychose, weil sie wenig erforscht ist und in unserem eigenen Interessengebiet liegt.
Affektive Störungen
Affektive Störungen werden unterteilt in manische Episoden (F30), bipolare affektive Störungen (F31), depressive Episoden (F32), rezidivierende depressive Störung (F33) etc. (Dilling et al. 2005). Die häufigste affektive Störung ist die depressive Erkrankung, das Lebenszeitrisiko liegt unabhängig von einer Schwangerschaft oder Geburt bei ca. 10–20 % (Berger 2009; Sadock et al. 2009). Diese Prävalenzrate trifft auch für die Peripartalzeit zu (Campbell und Cohn 1991; Riecher-Rössler 1997).
Aus phänomenologischer Sicht wird in der ICD-10 der Grad der Depression durch die Anzahl der Haupt- und Nebensymptome, die Dauer der Erkrankung, die Anzahl der Episoden sowie zusätzliche psychotische oder somatische Symptome bestimmt (Dilling et al. 2005). Das psychopathologische Bild der »Mood Disorders«, wie die affektiven Störungen in dem Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders (DSM-IV) (Saß et al. 2003) genannt werden, besteht aus psychischen und vegetativen Symptomen. Die Leitsymptome sind 1. eine depressive Stimmung, 2. der Verlust von Freude und Interesse (Anhedonie) und 3. eine Antriebsstörung. Es kommen Nebensymptome wie Konzentrations- und Gedächtnisstörungen, Denkverlangsamung, Gedankensperrung, Grübelneigung, Morgentief, Schlafstörungen, Appetitverlust, sozialer Rückzug etc. hinzu. Die Suizidrate ist sehr hoch. Zusammengefasst besteht das depressive Syndrom aus Beeinträchtigungen der Affektivität, des Antriebs, des formalen Denkens, des inhaltlichen Denkens, der Psychomotorik und Schlafstörungen. Auch Angstgefühle und leibliche Symptome kommen vor (Scharfetter 2002; Berger 2009). Die psychischen Symptome werden in der Klinik oder Praxis nach dem System der Arbeitsgemeinschaft für Methodik und Dokumentation in der Psychiatrie (AMDP) erhoben (Fähnrich und Stieglitz 2007). Dies ist ein störungsübergreifendes Manual für die Erfassung psychopathologischer Befunde durch eine Fremdbeurteilung.
Spezifisch für die Diagnostik der Depression sind Eigen- und Fremdbeurteilungsskalen entwickelt worden, die in Form von Fragebögen eingesetzt werden. Die bekanntesten Skalen sind das Beck-Depressions-Inventar (BDI) für die Selbstbeurteilung und die Hamilton-Depressionsskala (HAMD) für die Fremdbeurteilung. Spezifische Skalen für die postpartale Depression sind z. B. die Edinburgh Postnatal Depression Scale (EPDS) und der Postpartum Bonding Questionnaire (PBQ), ein Eltern-Kind-Beziehungsfragebogen (Brockington et al. 2001). Die Selbsthilfeorganisation Schatten & Licht e. V. hat auf ihrer Internetseite Selbstbeurteilungsfragebögen hinterlegt (www.schatten-und-licht.de/fragebogen_pp_erkrankung.html). Die Marcé-Checkliste wurde von Turmes et al. ins Deutsche übersetzt, sie dient u. a. der Datensammlung für die Auswertung von Mulitcenter-Studien und ist seit 2005 in der MKE Herten erfolgreich etabliert (Turmes, Vortrag Marcé-Gesellschaft, Dresden 2010).
Im Gegensatz zu anderen postpartalen Störungen ist die postpartale Depression (PPD) relativ gut erforscht (Tronick et al. 1997; Riecher-Rössler 1997; Reck et al. 2004, 2008). Erkrankt eine Mutter im Wochenbett an einer Depression, kommen neben den quälenden Symptomkomplexen Besonderheiten in Bezug auf den Säugling hinzu. Symptome wie Anhedonie, Antriebsstörung und eine depressive Stimmung wirken sich auch in der Interaktion zum Säugling aus und müssen »übersetzt« werden. So können mangelndes Einfühlungsvermögen, wenig Empathie und Passivität Zeichen einer Anhedonie sein, wenig Responsivität und ein geringes expressives mimisches Ausdrucksverhalten als Antriebsstörung interpretiert werden. Depressive Mütter zeigen weiterhin eine geringe Fähigkeit, kindliche Signale wahrzunehmen und reagieren mit Sorgen, Schuld- und Insuffizienzgefühlen gegenüber ihrem Kind (Tronick und Cohn 1989; Stern et al. 1998; Hornstein et al. 2005–2007; Reck et al. 2004, 2008; Wortmann-Fleischer et al. 2006). Diese Mängel führen zu einer gestörten Mutter-Kind-Interaktion. Defizite der Affektregulation sind Gegenstand von Forschungsstudien (Papoušek und Papoušek 1987, 1991, 1998, 2002; Stern et al. 1989; Tronick und Cohn 1989; Beebe et al. 1992, 1997; Teti und Gelfand 1997; Reck et al. 2001, 2004, 2008; Field 1988, 2000). Die Mutter-Kind-Interaktion stellt einen verbalen und nonverbalen sozio-emotionalen Lernprozess dar. Kinder depressiver Mütter können psychische Symptome wie kognitive, emotionale und Persönlichkeitsdefizite entwickeln (Ihle et al. 2004; Möhler et al. 2006).
Eine umfassende Diagnostik und eine suffiziente Mutter-Kind-Behandlung sind deshalb auch ein Präventionsfaktor für das Kind. Einerseits soll dabei die depressive Störung der Mutter spezifisch (pharmakologisch-)psychotherapeutisch behandelt und andererseits die differenzierte psychotherapeutische Intervention der gestörten Mutter-Kind-Interaktion in den Mittelpunkt der Behandlung gestellt werden. Bei der postpartalen Depression erfolgt die Behandlung daher idealerweise zweisträngig. Die ursächlichen Gründe der gestörten Mutter-Kind-Interaktion sind bisher nur teilweise erforscht (Laucht et al. 1994), und Vorschläge für standardisierte Behandlungskonzepte sind in der Entwicklung (Murray et al....