KAPITEL 2
Storytelling – historisch und wissenschaftlich erklärt
»Die Abenteuergeschichten zuerst, bitte. Erklärungen brauchen immer so schrecklich lange.«
Lewis Carroll in ›Alice im Wunderland‹
»How am I feeling? Well, surprisingly good« – Mit diesen Worten fährt 2013 das am längsten gebaute Automobilmodell in den Ruhestand: der VW T2 Kombi. Der Wagen, der von seinen Fans liebevoll »Bulli« genannt wird, hatte fast sechzig Jahre lang Autofahrer, Camper, Studenten, Hippies, Abenteurer, Familiengründer, Kleinunternehmer, Künstler und viele mehr befördert, beeinflusst und inspiriert. 1957 lief der Wagen erstmals vom Band. Er kann also auf eine lange Geschichte zurückblicken. Grund genug für VW Brasilien, dem Bulli einen würdevollen Abschied zu bereiten und die besten Geschichten des Kombis zusammenzutragen.
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Ein Testament zum Abschied – der VW Kombi erzählt seine eigene Geschichte zum Abschied und die seiner Fans. Auf YouTube zu sehen: http://bit.ly/18fBDY1
In dem Kurzfilm »Kombi Last Wishes« nimmt uns der Bulli mit auf eine Reise zu seinen größten Fans: zu Frank und Ivy, die mit dem robusten Wagen eine Weltumrundung schafften – eine Fahrt durch über 25 Länder. Und zu Nene, einem verrückten Fußballfan, der der brasilianischen Nationalmannschaft über Tausende von Kilometern hinterherfuhr, um sie bei drei Fußballweltmeisterschaften immer vor Ort anzufeuern. Und zu Vivian Meyer, die tatsächlich in einem Bulli geboren wurde. Und zu Bob, jenem Hippiekünstler, der den Bus zur Ikone einer ganzen Generation machte, indem er ihn psychedelisch und bunt anmalte und zu dem berühmtesten Festival aller Zeiten fuhr: im Woodstock-Kombi. Sie alle besucht der Bulli noch einmal, um sich bei ihnen mit einem individuellen Abschiedsgeschenk für ihre Treue zu bedanken und um sich schließlich zu seiner letzten Fahrt aufzumachen. Die führt nach Holland. Zu seinem »Bruder«, dem Sohn jenes Mannes, der das erfolgreichste Automobil der Welt Anfang der 50er-Jahre geschaffen hatte: dem holländischen Designer Ben Pon.
Das Ende der Geschichte ist bekannt. Es heißt Abschied nehmen. Abschied von einem Wagen, der eine ganz entzückende Geschichte mit seinen eigenen kleinen Detail-Geschichten erzählt.
»Kombis Letzer Wille« (»Kombi Last Wishes«) ist eine Lehrstunde in »Storytelling«. Die Geschichte über die Geschichten des VW T2 zeigt uns, wie einfach Storytelling sein kann, aber auch wie vielschichtig der Begriff ist.
»Storytelling« lässt sich schlicht mit »Geschichten erzählen« übersetzten. Doch hinter dem englischen Fachbegriff verbirgt sich viel mehr als einfach nur das »Erzählen und Wiedergeben von Erlebtem«.
Geschichte = historia + narratio
Der deutsche Begriff »Geschichte« hat eine interessante Doppeldeutigkeit. Während die Angelsachsen zwischen »history« und »story« unterscheiden, gibt es im deutschen Sprachgebrauch dafür nur einen gemeinsamen Begriff: »Geschichte«. Dieser Begriff ist gleichsam Vergangenheit (historia) und Erzählung (narratio).
»Geschichte« beschreibt für uns den Rückblick auf die reale, historische Entwicklung der Menschheit oder einer bestimmten Zeitspanne in der Vergangenheit. »Eine Geschichte« ist für uns aber auch gleichbedeutend mit »Erzählung«, der narrativen Form der Darstellung – dies sind Ereignisse aus der Vergangenheit, Gegenwart oder Zukunft, real oder auch fiktional.
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Doppeldeutigkeit des Begriffs Storytelling = Historie und Narration
»Kombis letzter Wille«, die kleine Reise des Bullis, nutzt beide Bedeutungen. Einerseits ist die Geschichte ein Rückblick auf die Entstehung, den Erfolg und die Historie des VW-Busses. Gleichzeitig werden dem Zuhörer eine ganze Reihe von Geschichten in der Form kleiner Episoden präsentiert, um die Story lebendig und emotional zu bebildern.
Ob historisch oder narrativ, die gemeinsame sprachliche und inhaltliche Bedeutung des Begriffs »Geschichte« brachte der Historiker Gordon A. Craig schön auf den Punkt. In seiner Dankesrede zur Verleihung des Historikerpreises, der ihm von der Stadt Münster für sein Buch Deutsche Geschichte 1866–1945 verliehen wurde, beschrieb er das Wesen von »Geschichte« folgendermaßen:
»Geschichte ist nicht ›exakte Wissenschaft‹ – sie ist eine humanistische Disziplin. Ihr Hauptgegenstand sind Menschen, und Geschichte ist, wie Thukydides vor langer Zeit sagte, das Studium nicht von Umständen, sondern von Menschen in Umständen.«
»Wie Menschen mit und in bestimmten Umständen umgehen« – das ist es, was Historie und genauso jede Erzählung ausmacht und warum beide Begriffe den gleichen Ursprung haben.
Storytelling ist demnach die Kunst, einerseits Handlungen und Erfahrungen der Vergangenheit wiederzugeben, andererseits zeitunabhängige Ereignisse – ob real oder fiktiv – zu erzählen. In beiden Konzepten erfahren Rezipienten, wie Menschen in bestimmten Umständen agieren. Mit beiden Konzepten können Menschen aus der »Geschichte« und »Geschichten« lernen.
Geschichte des Storytellings
Die Geschichte des Geschichtenerzählens beginnt wahrscheinlich vor mehr als 40.800 Jahren. So alt ist die älteste Zeichnung der Welt: die rote Scheibe von La Castillo.
Mit der Entdeckung dieser Höhlenzeichnung im Juni 2012 gelang den britischen Forschern Alistair Pike und Paul Pettitt zusammen mit ihrem spanischen Wissenschaftsteam eine Sensation. In mühevoller Kleinarbeit analysierten sie Kalkschichten und Tropfsteine in elf Höhlen, die 50 steinzeitliche Gemälde bedeckten. Mithilfe der Uran-Thorium-Methode gelang es ihnen, das Alter dieser Zeichnungen genau zu datieren. Die bis zu dieser Entdeckung bekanntesten Höhlenbilder im französischen Chauvet mit ihren zahlreichen Tier- und Menschdarstellungen sind 4000 Jahre jünger. Pike und Pettitt hatten die älteste Zeichnung der Menschheit entdeckt.
Abgebildet ist eine rote Scheibe, umgeben von anderen Scheiben und etwa 40 Abbildungen von Händen. Prähistoriker fragen sich seit ihrer Entdeckung, wer genau diese Steinzeitkünstler waren. Waren es die ersten Vertreter des Homo sapiens? Oder waren es Neandertaler, die uns hier ein Zeichen ihrer Existenz hinterließen?
Wer auch immer die Schöpfer der roten Scheibe waren, die Zeichnungen dienten einem bestimmten Zweck. Paläoanthropologen gehen dabei von zwei Deutungen aus: Höhlenmalerei diente entweder als religiöses Instrument und Ausdruck von Schamanismus. Die Zeichnungen könnten daher Markierungen heiliger Stätten sein. Oder es sind künstlerische Interpretationen: Höhlengemälde als Symbolsprache und Traumdeutung – und als Erzählungen.
Storytelling als Knowledge-Sharing-System
Das Festhalten und Wiedergeben von Gesehenem und Erlebtem – diese erzählerischen Elemente – spielen eine große Rolle in vielen Höhlen- und Felsenzeichnungen. So auch in den 2007 entdeckten Gravuren in der südfranzösischen Höhle Abri Castanet. Die über 37.000 Jahre alten Zeichnungen zeigen zahlreiche Tiere und geometrische Formen. Die Schöpfer dieser Bilder waren vermutlich Rentierjäger, Jäger und Sammler des Aurignacien, der ältesten archäologischen Kultur des Jungpaläolithikums, die den Anfang des Homo sapiens, des modernen Menschen, markiert.
Was nicht an die Wand geritzt und gemalt wurde, das wurde verbal, »am Lagerfeuer«, weitererzählt. »Storytelling« ist das älteste Knowledge-Sharing-System der Welt.
Warum die Hyäne humpelt
Die Hyäne und der Schakal machten gemeinsam einen Spaziergang, als sich am Himmel eine Wolke bildete. Da der Schakal sehr, sehr hungrig war, kletterte er in den Himmel und aß ein Stück von der Wolke, gerade so, als wäre es Schmalz. Als er genug hatte, überlegte der Schakal, wie er wieder herunterkommen sollte. Er rief zur Hyäne: »Meine liebe Schwester, ich möchte wieder runter, bitte fang mich auf.«
Und die Hyäne fing den Schakal auf. Nun war die Hyäne dran. Sie kletterte in den Himmel, und als sie genug von der Wolke gegessen hatte und herunterkommen wollte, versprach der Schakal, sie...