Bühnenbilder für Issues
Den Blick für die Welt von morgen schärfen – Impulse aus der Zukunftsforschung der Daimler AG
Frank Ruff
Gerade in Krisenzeiten, wenn sich gewohnte Spielregeln in Gesellschaft, Wirtschaft und Politik verändern, wird uns bewusst, dass Zukunft keine lineare Fortsetzung der Vergangenheit ist. In solchen Zeiten richtet sich auch die öffentliche und mediale Aufmerksamkeit wieder stärker auf Unsicherheiten moderner Gesellschaften und Einschätzungen zur Zukunft erfreuen sich verstärkter Nachfrage. Zukunftsorientierte Forschung kann nicht prognostizieren, welche Themen und Issues Unternehmen und Gesellschaft morgen herausfordern werden. Die vorbeugende Reflexion möglicher Entwicklungslinien kann aber dabei helfen, den Blick für die Welt von morgen zu schärfen und strategische Weichen frühzeitig zu stellen.
Zukunftsforschung und Issues Management
Zukunftsorientierte Forschung sowie Issues Management im Unternehmenskontext teilen gemeinsame Wurzeln. Beide Felder entwickelten sich in den 70er Jahren aus der Erkenntnis, dass langfristiger Erfolg von Unternehmen nicht allein über die Beherrschung der Kernfunktionen ertragreicher Wertschöpfung sowie erfolgreiche Positionierung in Markt und Wettbewerb zu erzielen ist, sondern dass dieser Erfolg auch strategisches Denken unter Einbeziehung des gesellschaftlichen Umfeldes erfordert. Beide Denkrichtungen sind von der Idee der Frühaufklärung geprägt, also Veränderungen im Umfeld des Unternehmens so früh wie möglich zu entdecken, zu bewerten und angemessene Antworten zu finden. Schließlich geht es beiden um die Identifikation zukünftiger Risiken und Chancen sowie die Unterstützung der strategischen Orientierung des Unternehmens. Der praktische Auftrag beider Disziplinen ist jedoch unterschiedlich. Zukunftsforschung untersucht mittel- und langfristige Entwicklungen im Unternehmensumfeld, die Bedeutung für Geschäfts-, Produkt- und Marktstrategien haben. Issues Management bearbeitet Herausforderungen, die über das Mediensystem und Kommunikationsprozesse in der Gesellschaft entstehen und ist deshalb notwendigerweise kurzfristiger orientiert. Die Gemeinsamkeiten in den Zielen sprechen jedoch für eine engere Zusammenarbeit der beiden Disziplinen.1
Makrotrends: Leitplanken einer zukunftsorientierten Analyse
Der Wunsch nach verlässlichen Prognosen wird verständlicherweise immer wieder artikuliert. Zukunftsorientierte Forschung hat jedoch nicht den Anspruch, die Zukunft vorherzusagen – das wäre unseriös. Andererseits können wir auf die gedankliche Analyse möglicher zukünftiger Entwicklungen nicht verzichten, denn unsere Entscheidungen orientieren sich an Erwartungen. Zu einer aufgeklärten Zukunftsanalyse gehört, Pfadabhängigkeiten und mögliche Wendepunkte ins Visier zu nehmen. Es geht also weniger um die Frage: „Was wird sein?“, sondern um die Frage: „Was wäre, wenn …?“
Die Kräfte des Wandels, die das Handlungs- und Kommunikationsumfeld von Unternehmen verändern, kommen aus vielen Quellen und haben unterschiedliche Geschwindigkeiten, Wirkungen und Reichweiten. Es gibt eher langsam voranschreitende, scheinbar unspektakuläre Veränderungen wie zum Beispiel die wachsende Bedeutung von Gesundheit und Wohlbefinden im Wertesystem von Konsumenten. Auch kleine und langsame Veränderungen in den Mikrowelten des Alltagslebens verändern in Markt und Wettbewerb langfristig die Erfolgsbedingungen und müssen im Rahmen gesellschaftlicher Zukunftsanalytik beobachtet werden. Zunehmendes Gesundheitsbewusstsein bei Konsumenten führt zum Beispiel dazu, dass Dienstleistungen zur Gesundheitsund Ernährungsberatung stärker nachgefragt werden.
Andererseits gibt es auch große Veränderungen, oft als „Makrotrends“ oder „Megatrends“ bezeichnet, die verschiedene Bereiche in Wirtschaft, Politik, Gesellschaft und Umwelt tief und nachhaltig verändern. Sie beeinflussen die Wachstumspotentiale von Wirtschaft und Unternehmen und fordern dazu auf, über das Portfolio von Produkten und Dienstleistungen, über Geschäftsmodelle sowie die Kommunikation mit dem gesellschaftlichen Umfeld grundsätzlich nachzudenken. Es gibt keine einheitliche Systematik von Makrotrends. Ein Ansatz besteht darin, Makrotrends in bestimmte Einflussbereiche einzuordnen und in deren fachlicher Begrifflichkeit zu beschreiben. Ein Beispiel wäre hier der Makrotrend „Fortschritte in der Bio- und Gentechnologie“, der als ein Bündel technologischer Entwicklungen beschrieben werden kann. Andere Bestimmungen von Makrotrends versuchen dagegen, gerade deren querschnittartige, verschiedene Subsysteme übergreifende Charakteristik zu fassen. Ein Beispiel wäre hier das Thema „Globale Machtverschiebungen“, das politische, wirtschaftliche und gesellschaftliche Machtverschiebungen in einer Trendformulierung verdichtet. Es gibt eine prinzipiell offene Liste von Makrotrends, die für Wirtschaft und Unternehmen relevant sein können:
• Globale Machtverschiebungen,
• Regionale politische bzw. wirtschaftliche Integration,
• Globale Kapitalströme und Finanzbeziehungen,
• Einflussgewinn staatskapitalistischer Systeme,
• Urbanisierung,
• Internationale Migration und gesellschaftliche Integration,
• Demografischer Wandel/alternde Gesellschaften,
• Steigendes Gesundheitsbewusstsein/neue Märkte für Gesundheit,
• Aufstieg einer neuen Mittelklasse in neuen Industrie- und Schwellenländern,
• Schrumpfende Mitte in reifen Industrieländern,
• Frauen auf dem Vormarsch in Bildung, Politik und Wirtschaft,
• Rückkehr der Religion,
• Klimawandel,
• Zunehmende weltweite Wasserknappheit/Konflikte um Wasser,
• Wachstum der Bevölkerung und Nahrungsmittelknappheit,
• Neue Pandemien,
• Informationstechnische Vernetzung/Connectivity,
• Auf dem Weg in die Wissensgesellschaft,
• …
Im Rahmen dieses Beitrags ist eine Beschränkung auf ausgewählte Themen erforderlich. Unser Augenmerk liegt hier auf fünf Makrotrends, die einerseits querschnittartige gesellschaftliche Auswirkungen haben und andererseits zugleich für das Issues Management von Bedeutung sind, da sie neue Themenkarrieren und Issues erzeugen können. Die zu den Makrotrends formulierten Zukunftsprojektionen sind nicht als Prognosen, sondern als Hypothesen zu möglichen und wahrscheinlichen Entwicklungsrichtungen zu verstehen. Sie sollen Denkanstoß zum Vorausdenken sein.
Globalisierung: Wird die Welt „flacher“?
Politische und wirtschaftliche Eliten pflegten auf internationalen Foren und in der öffentlichen Kommunikation bis zu Beginn des Jahres 2008 lebhafte Diskurse zur Zukunft der Globalisierung. Bei allen Bewertungsunterschieden der Folgen der wirtschaftlichen und politischen Internationalisierung für verschiedene Gesellschaften war man sich doch weitgehend einig, dass die Globalisierung unter dem Einfluss liberalisierter Wirtschaftsprozesse und der Ausweitung internationaler Kooperationen kontinuierlich weiter voranschreiten wird. Da diese Perspektive des stetigen Fortschreitens der Globalisierung bis vor kurzem als alternativlos betrachtet wurde, blieb der Mehrheit der Gesellschaften nichts anderes übrig, als mit optimistischen oder gemischten Gefühlen daran zu glauben, Gewinner oder Verlierer, in jedem Fall aber Zeitgenosse der Globalisierung zu sein.
Abbildung 1: Beschleunigte Globalisierung seit 1990. (Quelle: Dreher, 2006; dargestellt ist ein an der ETH Zürich entwickelter Index, der die drei Hauptdimensionen der wirtschaftlichen, sozialen und politischen Globalisierung erfasst)2
Der amerikanische Journalist Thomas Friedman beschrieb die ungestüme Dynamik dieser dritten Welle internationaler Integration und Vernetzung euphorisch in der ersten Ausgabe seines Bestsellers „The World Is Flat“.3 Friedman und andere Prediger der Globalisierung trafen den Zeitgeist in der Mitte dieses Jahrzehnts, als hohe wirtschaftliche Wachstumsraten, das ungestüme Wachstum des Welthandels und der internationalen Kapitalströme die Erwartung auf eine niemals endende Fortsetzung der Globalisierungsprozesse nährten. Friedman diagnostizierte, dass mit dem Ende der Ost-West-Konfrontation seit 1989, der informationstechnischen Vernetzung seit den 1990er Jahren und der heute weltweit möglichen Verknüpfung und Verteilung von Wertschöpfungsketten ein neues Zeitalter der Globalisierung angebrochen ist. Diese Entwicklung erschien bis vor kurzem so mächtig und dominant, dass von den Eliten, die das Feld kommunikativ beherrschten, nur die Möglichkeit kleinerer „Störungen“ oder Verzögerungen in Betracht gezogen wurde, die den stetigen Prozess der Globalisierung im Prinzip nicht aufhalten können. Ähnlich wie die Vorzeichen der jüngsten Finanzkrise nur von ca. einem Dutzend Experten erkannt, jedoch von der öffentlichen Diskussion kaum zur Kenntnis genommen wurden, gab es bei der Diskussion zur Globalisierung nur wenige kritische Stimmen, die mögliche Gegenkräfte oder Krisen thematisierten. Erst seit den durch die Finanzund Wirtschaftskrise 2008 ausgelösten breiteren Verwerfungen wird öffentlich wieder stärker über Gegenkräfte zur Globalisierung gesprochen, zum Beispiel in Form der befürchteten protektionistischen Tendenzen in einigen Wirtschaftsräumen als Reaktion auf die einbrechenden nationalen Wirtschaftsysteme.
Die...