Langsam senkt sich die Lufthansamaschine, mit der ich soeben den Ärmelkanal überquert habe, durchbricht die dünne Wolkendecke, womit der Blick freigegeben wird auf die grüne, von zahllosen dünnen, blauen Streifen durchzogene Landschaft der Grafschaft Essex. Aus den vielen Wasserläufen und Seitenarmen bildet sich schließlich ein Fluss, dem der Pilot von nun an wie einem stummen Wegweiser zu folgen scheint: die Themse. Mein Blick heftet sich an den altehrwürdigen Fluss, der sich Tausende Meter unter mir durch die englische Landschaft schlängelt. Vielleicht spaziere ich schon heute Abend am Flussufer entlang, überlege ich und stellte mir vor, wie ich einen Fuß oder meine Hand in das Wasser tauche, diese ein wenig sanft durch das kühle Nass bewege, dabei die sanften Wellenbewegungen erspüre, während das Wasser durch meine weit gespreizten Finger strömt, als mein Handrücken unvermittelt an einen weichen Widerstand stößt und ich mit weit aufgerissenen Augen eine nackte, aufgedunsene Frauenleiche, unmittelbar unterhalb der Wasseroberfläche, entdecke.
Eine makabere Fantasie, die von Szenen aus Alfred Hitchcock- und Edgar Wallace-Filmen genährt wird. Ich denke an Nebel, flackernde Gaslaternen, Schritte auf regennassem Kopfsteinpflaster, einen Schatten an der Wand, Jack the Ripper und das Geräusch einer sich rasch entfernenden Pferdekutsche. Verbrechen und Krimis verbinde ich mit der Stadt, der ich mich unaufhaltsam nähere.
An einer markanten Biegung des Flusslaufs erkenne ich das von zwölf gelblichen Stahlpfeilern, die an das Ziffernblatt einer Uhr sowie an die zwölf Monate des Jahres erinnern sollen, durchbohrte weiße Kunststoffdach der O2-Arena. Schade - ein Konzertbesuch in diesem größten Kuppelbau der Welt ist bei diesem Aufenthalt nicht geplant. Wen würde ich hier gerne live erleben? Britisch sollte es auf jeden Fall sein.
Für The Who, Led Zeppelin oder Pink Floyd bin ich zu spät ... und irgendwie auch für die Rolling Stones. Selbst Britpopper wie Oasis, Blur oder The Verve haben sich aus dem Rampenlicht verabschiedet und Amy Winehouse gleich endgültig aus dem Leben. Blieben mir noch Robbie Williams, Coldplay, Arctic Monkeys oder am liebsten Radiohead. Rockmusik – ebenfalls ein Thema, das ich mit London assoziiere.
Der Flieger setzt zu einer weiten Kehre an, schwenkt nach rechts und überfliegt den Norden der britischen Hauptstadt, wo mir sogleich der charakteristische Bogen des Wembley-Stadions ins Auge fällt. Fußball, das Wembley-Tor, das bis heute den Puls meines Vaters spürbar in die Höhe treibt, Chelsea und Arsenal, Bobby Charlton und Wayne Rooney, Bierhoffs Golden Goal, „You never walk alone“ und „Football´s coming home“, die typischen Gesänge englischer Fans, kommen mir in den Sinn. Ich werde abrupt aus meinen Gedanken gerissen, als unverkennbar ein gesummtes „Rule Britannia!“ an mein rechtes Ohr dringt. Ich wende mich um und blicke in das grinsende Gesicht meines Reisebegleiters, der sich von nun an für die Hintergrundmusik zum Landeanflug verantwortlich zu fühlen scheint, wobei er zwischen „God Save the Queen“, „Land of Hope and Glory“ und dem patriotischen „Rule Britannia!”, das zum festen Repertoire der jährlichen „Last Night of the Proms“ zählt, wechselt, was mich gedanklich sogleich zum nächsten Themenkomplex führt: Politik, Geschichte, Patriotismus – Lord Nelson, die Schlacht von Trafalgar, Queen Victoria, die Luftschlacht über London, Churchill, Margret Thatcher, die Queen und ihre Klatschblätter füllende Familie. Die gütig lächelnde Queen Mum, mit ihrem breiten blauen Hut, die 2002 im stolzen Alter von 101 Jahren verstarb, erscheint vor meinem inneren Auge und winkt mir zu. Das hohe Alter sowie die heitere Gelassenheit, die sie Zeit ihres Lebens ausstrahlte, hatte sie womöglich ihrem täglichen Konsum von Gin Tonic zu verdanken. Ich nehme mir sogleich vor noch heute Abend in einem Pub ein Gläschen ihres Lieblingsdrinks zu bestellen und auf ihr Wohl zu trinken.
Vergeblich halte ich nach der Tower Bridge und dem berühmten Glockenturm, den viele fälschlicherweise „Big Ben“ nennen, obwohl dieses lediglich der Name einer der Glocken innerhalb des Turmes ist, Ausschau - zwei Wahrzeichen, die jeder unwillkürlich mit London in Verbindung bringt. Welche Bauten werden mich dort unter noch erwarten? Natürlich der Buckingham Palace und Westminster Abbey, St.
Paul´s Cathedral, der mittelalterliche Tower of London, aber auch hypermoderne Glasbauten im Bankenviertel der Finanzmetropole.
Und dann geht alles ganz schnell. Die Dächer scheinen schlagartig zum Greifen nahe, der Flugzeugmotor dröhnt laut auf, dann ein kurzes, sanftes Rumpeln und ich befinde mich auf englischem Boden – London Heathrow.
Etwa zwei Stunden später spaziere ich, aufgeregt und gespannt auf das, was mich erwartet, meinen grauen Koffer rumpelnd hinter mir herziehend, durch die Straßen Londons, der mit Abstand teuersten Stadt in Großbritannien. Besonders eklatant ist die Preissituation auf dem Wohnungsmarkt, denn von den Immobilienpreisen, die ohnehin in England in den vergangenen Jahren drastisch nach oben geschossen sind, hat sich London völlig abgekoppelt. In begehrten Wohngegenden wie Kensington oder Chelsea liegt der Durchschnittspreis für eine Immobilie bei etwa 6 Millionen Euro. Es existieren ernst zu nehmende Berechnungen die besagen, dass es für einen Londoner unter dem Strich billiger sei, zum Shoppen nach Italien zu fliegen, als in der eigenen Innenstadt seiner Konsumlust nachzugehen. Aus all dem ergibt sich die paradoxe Situation, dass die Gehälter in London zwar stolze 30 % über dem britischen Durchschnitt liegen, die Londoner aber dennoch über einen niedrigeren Lebensstandard verfügen, als die Bürger im restlichen Land.
Aber selbst in einer derart teuren Stadt wie London gibt es tatsächlich kostenlose Vergnügungen und das sind Museumsbesuche. Nicht ein einziges staatliches Museum verlangt auch nur einen Penny Eintrittsgeld. Egal ob Sie die Tate Modern, die National Gallery, das Museum of London oder das altehrwürdige British Museum besichtigen möchten - es wird ihre Reisekasse nicht belasten.
Restaurantbesuche, insbesondere wenn Sie hochwertigen, gehobenen Standard beim Essen gewohnt sind und auf ein gutes Glas korrespondierenden Wein bestehen, können in London für verheerende Folgen im Portemonnaie sorgen. Doch mittlerweile bieten auch manche Pubs und Cafés ordentliches Essen zu annehmbaren Preisen an.
Generell ist das kulinarische Angebot im multikulturellen London nahezu grenzenlos.
Sie können während ihres Aufenthaltes, beginnend mit einem portugiesischen Törtchen in Notting Hill, gefolgt von einem afrikanischen Schmorgericht in einem der Restaurants an der Harrow Road, arabischen Köstlichkeiten in „Little Beirut“ an der Edgware Road, der obligatorischen Pekingente in Chinatown oder einem köstlichen Currygericht in der Brick Lane, jederzeit zu einer kulinarischen Weltreise aufbrechen.
Beißen Sie auf einer Bank im Hydepark, herzhaft in ein Sandwich, schlürfen Sie Austern im Savoy, bestellen Sie traditionelle Fish & Chips und ein Bier im Pub an der Ecke oder schauen Sie bei Englands bekanntestem Koch Jamie Oliver im „Fifteen“ vorbei.
Ein roter Doppeldeckerbus schnauft an mir vorbei und an der nächsten Straßenecke entdecke ich eine Telefonzelle gleicher Farbe. Jetzt fehlt noch ein Polizist mit lustiger Kopfbedeckung und ich habe die gängigen Postkartenmotive beisammen. Doch in den nächsten Tagen bin ich vor allem daran interessiert die Vielschichtigkeit Londons zu entdecken, die überraschenden Kontraste, wenn Tradition auf Moderne trifft, denn auch wenn Bräuche wie die Schlüsselzeremonie im Tower, die Wachablösung am Buckingham Palace oder die jährliche Geburtstagsparade der Queen überdauert haben, ist London eine junge und quirlige Stadt, deren knapp acht Millionen Bewohner mehrheitlich jünger als 35 Jahre alt sind.
Bereits Mitte des 19. Jahrhunderts staunte Theodor Fontane über die „summende, rastlose Geschäftigkeit“ der damals fortschrittlichsten Metropole der Welt, die der internationalen Moderne den Takt vorgab. Anders als in weiten Teilen Kontinentaleuropas herrschte hier Meinungsfreiheit, der König hatte den Großteil seiner Macht an das Parlament abtreten müssen und Erfindungen wie die Dampfmaschine hatten die industrielle Revolution ermöglicht. London war das Zentrum eines differenzierten Schienennetzes und die Trassen für die erste U-Bahn der Welt, die mich vom Flughafen hierher gebracht hat, wurden in den Boden der Themsestadt gegraben. Beim Hinaustreten aus der unterirdischen Station, trafen mich, statt des zu erwartenden Regens, warme Sonnenstrahlen. Aber der Londoner Regen ist ein Klischee, das keiner Statistik standhält, denn man mag es kaum glauben – in London fällt weniger Regen als in Rom, Sydney oder New York.
Londinium hieß die Stadt nicht nur in „Asterix bei den Britten“, sondern so lautete der Name der Siedlung, die von den Römern 43 n. Chr. an diesem Ort gegründet wurde.
Die Bezeichnung „Londinium“ geht möglicherweise auf den keltischen...