Einleitung
Jugendliche im Hochstress – dieses Phänomen ist kaum einer Zeitungsausgabe fremd und prägte bereits viele Schlagzeilen, insbesondere in den vergangenen fünf Jahren, in denen wir von Sprengstoffanschlägen, Messerattacken und Axtanschlägen lesen mussten. Allgemeine Aufregung ist eine natürliche Folge, löst aber das Problem nicht.
Die Bedürfnisse von schwer belasteten Kindern und Jugendlichen mit starken Stresserleben und Traumafolgen und auch den Belastungen nach Flucht und Kriegserlebnissen werden in Ausführungen in diesem Buch validiert. Wenn nach Stress- und Traumbelastungen vieles im Leben fremd geworden ist, Gefühle aus dem Gleichgewicht geraten sind, verändert sich nicht nur das eigene Leben gravierend, sondern auch die Partizipation am sozialen Leben. Nicht in jedem Fall entwickeln sich bei extrem bedrohlichen Ereignissen eine Posttraumatische Belastungsstörung, psychische Erkrankungen oder Traumafolgestörungen. Vielmehr befähigen Resilienzfaktoren Kinder und Jugendliche trotz belastender sozioökologischer Faktoren wie Armut, Gewalterfahrung und Traumatisierung, immer wieder eine ausreichende psychosoziale Anpassung zu erreichen und sich dennoch altersentsprechend entwickeln zu können.
Laut Shaffera et al. (2009) haben andererseits schwere Gewalterfahrungen zur Folge, dass die Fähigkeit zur Bewältigung typischer Entwicklungsschritte in den verschiedenen Altersstufen beeinträchtigt ist. In der Säuglings- und Kleinkindzeit führt Misshandlung zu Bindungsstörungen (Ciccetti und Barnett 1991). Dies bedeutet langandauernde, persistierende Störungen im Beziehungs- und Bindungsverhalten, insbesondere mit desorganisierten und/oder hochambivalenten Bindungsmustern. Im Kleinkindalter haben misshandelte oder anderweitig traumatisierte Kinder Schwierigkeiten, über innere Zustände und Gefühle von sich und anderen zu erzählen (Beeghly und Ciccetti 1994). In fortschreitender Kindheit und Adoleszenz treten vermehrt Verhaltensprobleme auf. In der Schulzeit kommt es zu Problemen im Umgang mit anderen Kindern: Die missbrauchten Kinder sind im Vorschulalter und in den ersten Schuljahren oft impulsiver, weniger beliebt und eher verschlossen oder distanzlos (Shaffera et al. 2009; Dodge et al. 1994). In der Adoleszenz zeigen sie dann vermehrt impulsives und/oder antisoziales Verhalten (Shaffera et al. 2009). Auch Selbstverletzungen oder Depressionen sind beschrieben. Impulshaft ausagierendes Verhalten wiederum kann zu Störungen in vielen Bereichen führen, insbesondere hinsichtlich Promiskuität, Drogen- und/oder Alkoholkonsum, Schulversagen, Delinquenz und/oder Weglauftendenzen.
Diese Kinder und Jugendliche, die aufgrund außergewöhnlicher und bedrohlicher Erlebnisse psychisch belastet sind, können von psychotherapeutischen und psychiatrischen Hilfen sehr profitieren. Aber gerade auch die Schwere der Beeinträchtigungen und Erkrankungen verhindert häufig, dass sich Kinder und Jugendliche für eine weiterführende aufarbeitende Psychotherapie überhaupt entscheiden können. Sie greifen nicht selten zu maladaptiven Bewältigungsstrategien, die negative Auswirkungen auf die psychische Entwicklung und sie soziale Integration in die Familie, Kindergarten, Schule, Ausbildungsstelle und in der Gruppe der Peers haben. Erste stabilisierende Hilfen sind wichtig bei schwer belasteten Jugendlichen, denen buchstäblich der Boden unter den Füßen weggezogen worden ist. Erste stabilisierende Hilfen, um Krisen selbstwirksam überstehen zu können, können der Türöffner zu weiteren Hilfen und Regulationsprozessen sein. Hier setzen niedrigschwellige Hilfen wie START an.
Interventionen bei psychischen Stress- und Traumafolgen im Kindesalter
Grundsätzlich gibt es zwei Schwerpunkte der Psychotraumatologie, die parallel oder aber auch einzeln zur Anwendung kommen können.
Schwerpunkt 1 – Ressourcenarbeit
Der Ressourcenarbeit kommt nicht nur in der Psychotherapie, sondern auch im häuslichen Umfeld, Schule, Jugendhilfe etc. eine wesentliche und wichtige Stabilisierungsfunktion zu. Letztere ist unerlässlich insbesondere bei schwer und komplex traumatisierten Kindern und Jugendlichen und arbeitet an Basis-Kompetenzen wie Affektregulation, Impulskontrolle, Selbstwertstärkung und Selbststeuerungskompetenzen sowie Selbstwirksamkeitserwartungen und den Objektbeziehungen, und insbesondere bei Patienten mit maladaptiven Bewältigungsversuchen wie z. B. Selbstverletzungen und impulsdurchbrechende Verhaltensweisen kommen diesen Kompetenzen eine Schlüsselrolle in der Therapie zu. Der Ressourcenarbeit, in ihren gesamten Aspekten, trägt ganz besonders das eigens von den Autorinnen entwickelte START-Programm Rechnung, dessen Komponenten im Einzelnen in diesem Buch beschrieben werden.
Schwerpunkt 2 – Traumatherapie-Verfahren im Rahmen der Psychotherapie
Trauma-Exposition, die auf verhaltenstherapeutische Trauma-Therapieverfahren basiert, funktioniert nach dem Prinzip der Habituation, bzw. Desensibilisierung.
Inwieweit eine Trauma-Exposition wichtig und anzustreben ist, muss der Therapeut1 abwägen unter Berücksichtigung der individuellen Gegebenheiten des Patienten, seines Umfelds, seiner Stabilität und nicht zuletzt auch seiner Motivation. Eine Exposition setzt in der Regel immer eine vorherige Stabilisierungsarbeit voraus im Sinne einer Stärkung der Ressourcen, z. B. hinsichtlich einer Regulation der bei einer Exposition unvermeidlich entstehenden heftigen Affekte. Auf Expositionsarbeit basiert unter anderem die traumafokussierte, kognitiv-behaviorale Therapie (TF-KVT), das am besten evaluierte Verfahren, dessen Einsatz auf der kinderpsychiatrischen Station wird im Folgenden beschreiben wird.
Die wertschätzende Wahrnehmung der jeweils anderen Perspektive, das konstruktive Aushandeln von Vereinbarungen und tragfähigen Kompromissen unter gleichzeitiger Beachtung von Beziehungssicherung und Selbstachtung sind zentrale Ziele dieser therapeutischen Arbeit.
Eine affektive Instabilität, aber insbesondere die Symptome von Trauma-Folgestörungen wie dissoziative Störungen, Wiedererleben in Form von Intrusionen, Flashbacks, Albträume, Vermeiden/emotionale Taubheit als auch ein vegetatives Hyperarousal und damit einhergehende Reizbarkeit, Wutausbrüche und Konzentrationsprobleme sowie dysfunkionale Coping-Strategien wie Alkohol- und Cannabisabusus machen eine aufarbeitende Trauma-therapeutische Behandlung oft nicht möglich.
Vor der Exposition muss dabei immer und unbedingt auch eine Stabilisierung stattfinden.
Für eine spezifische expositionsbasierte Arbeit ist eine vorausgehende, ausführliche spezifische Diagnostik zu Traumatisierung und Trauma-Folgestörungen (CATS, IBS-KJ, KIDDIE-SADS) unerlässlich, denn nicht jedes Kind oder jeder Jugendliche, das oder der eine Traumatisierung erfahren hat, entwickelt auch eine Trauma-Folgestörung.
Weitere Voraussetzungen für eine traumatherapeutische Behandlung sind grundlegend die Wiedererlangung und Kontrolle über Bereiche wie Umgang mit Suizidalität, Selbstverletzungen und Dissoziationen. Ein Ziel besteht in der Verbesserung der Lebensqualität. Therapeuten sollten in einem trauma-therapeutischen Verfahren gut ausgebildet sein und über entsprechende Erfahrung verfügen.
Dieses Buch beschreibt daher auch Elemente der »Traumafokussierten kognitiven Verhaltenstherapie« (Cohen et al. 2006, deutsche Übersetzung Goldbeck 2009) und der »Narrative Exposure Therapy« (Schauer et al. 2005) und EMDR (Shapiro 1999/2014) und als möglichen Ausblick auch im Adoleszentenbereich das Konzept der DBT-PTBS Behandlung (Bohus 2013, Steil et al. 2015).
Einen besonderen Schwerpunkt des Buches bildet die Darstellung von START, das kulturintegrative, niedrigschwellige Erststabilisierungskonzept für Kinder und Jugendliche zur Arousalregulation und Bewältigung von Hochstressphasen. Die Intervention fokussiert im zweiten Schritt auf die Stärkung der Selbstwirksamkeit und Resilienzförderung.
Grundlagen und Basiswissen zum Thema Trauma, Stress und Behandlungsstrategien, sowie die besondere Situation von Kindern und Jugendlichen mit Fluchterfahrungen werden dem interessierten Laien und Fachmann in diesem Band im vermittelt. Besonders für die Anwendung des START-Programms wird eine fundierte Wissensbasis zugrunde gelegt.
Die Aktualität und Brisanz der Situation wird deutlich durch den Abschnitt über die psychosoziale und emotionale Situation von Flüchtlingskindern. Die Vorstellung des von den Autorinnen selbstentwickelten Stabilisierungsprogramm START, das für alle belasteten Kinder und Jugendlichen interkulturell und integrativ einsetzbar ist, sollte den Leser ermutigen, seine eigenen Schritte damit zu wagen.2
Neben den Grundlagen zu Trauma- und Stressfolgen und der Vorstellung des START-Programms werden in diesem Buch exemplarisch evidenzbasierte Therapiemethoden vorgestellt. Anhand von Fallbeispielen werden die einzelnen Themenschwerpunkte plastisch präsentiert.
Die...