3. Autorität und Verdrängung
Das Individuum ist sowohl in die natürliche als auch in die gesellschaftliche Umwelt verflochten. Sie sind gleichzeitig der Gegenstand wie die Schranke seiner Triebbefriedigung. Seine Bedürfnisse treiben es dazu, die Umwelt im Sinne seiner Triebbefriedigung zu verändern. Andererseits zwingt die Umwelt das Individuum, seine Impulse und Bedürfnisse anzupassen, wofür freilich enge biologisch-physiologische Grenzen gezogen sind. Dabei erweisen sich die Selbsterhaltungstriebe als weniger elastisch, während die Sexualtriebe infolge ihrer Verschiebbarkeit, Verwandelbarkeit und Verdrängbarkeit einen außerordentlich hohen Grad an Anpassungsfähigkeit haben. Indem der Mensch im Laufe der Geschichte seine natürliche wie gesellschaftliche Umwelt verändert; verändert er seinen seelischen Apparat. Dies bedeutet auch eine Wandlung der Stärke und des Inhalts seiner libidinösen Bedürfnisse, andererseits eine Wandlung von Ich und Über-Ich. Die Bedürfnisse sind aber im Verlauf der bisherigen Geschichte (wenn wir von primitiven Gesellschaften absehen) immer größer gewesen als die Möglichkeit ihrer Befriedigung. In dieser Tatsache liegt einerseits die Bedingung für die Stärke der stets über das schon erreichte gesellschaftliche Niveau hinausgreifenden Tendenzen zur Veränderung der Umwelt, andererseits auch die Notwendigkeit zur Verdrängung solcher Impulse, die auf Grund der gesellschaftlichen Möglichkeiten nicht befriedigt werden können. Die Spannung zwischen den Bedürfnissen und den zu ihrer Befriedigung zur Verfügung stehenden gesellschaftlichen Mitteln wird noch verstärkt durch diejenige zwischen dem höheren Maß an Bedürfnisbefriedigung der herrschenden Klasse und dem geringeren der beherrschten.
Die seelische Instanz, welche die Bewältigung der inneren wie der äußeren Welt zu leisten hat, ist das Ich. Die Aktivität des Ichs geht in zwei Richtungen vor sich, in der Bewältigung der Außenwelt und in der der Innenwelt, d.h. der aus dem Es stammenden Triebe. Je umfangreicher und wirkungsvoller die Produktionsinstrumente sind, desto mehr wächst die Herrschaft über die Natur, und desto weniger sind die Menschen Sklaven der Natur. Diese wachsende Beherrschung der Natur führt aber niemals zur völligen Unabhängigkeit oder Freiheit von ihr.
Die Bewältigung sowohl im Sinne der Unterwerfung wie der Entfaltung der menschlichen Triebwelt ist ein Prozess, der mit dem der Bewältigung der Außenwelt aufs [I-156] Engste zusammenhängt. Das Ich des Menschen entwickelt sich erst allmählich in dem Maße, in dem seine aktive und planende Bewältigung der natürlichen und gesellschaftlichen Kräfte wächst. Solange es noch relativ schwach ist, ist es der Aufgabe der Unterdrückung und Abwehr von Triebimpulsen, die mit den gesellschaftlichen Notwendigkeiten unvereinbar sind, noch nicht gewachsen. Dies wird erst durch Herausbildung und Entwicklung des Über-Ichs und durch eine bestimmte seelische Beziehung zu den Autoritäten geleistet. Das Entscheidende am Verhältnis des Ichs zum Über-Ich wie des Individuums zu den Autoritäten ist ihr emotioneller Charakter. Der Mensch will sich sowohl vom Über-Ich als auch von der Autorität geliebt fühlen, fürchtet ihre Feindschaft und befriedigt seine Selbstliebe, wenn er seinem Über-Ich oder seinen Autoritäten, mit denen er sich identifiziert, wohlgefällt. Mit Hilfe dieser emotionellen Kräfte gelingt es ihm, die gesellschaftlich unzulässigen beziehungsweise gefährlichen Impulse und Wünsche zu unterdrücken. Diese mit Hilfe von Über-Ich und Autorität vorgenommene Triebabwehr ist sehr radikal. Der abzuwehrende Wunsch gelangt nicht mehr zum Bewusstsein, sondern wird von diesem und damit zugleich auch von der Motilität abgesperrt, er wird verdrängt. Die verdrängte Triebregung wird nicht vernichtet. Sie wird zwar vom Bewusstsein ausgeschlossen, bleibt aber im Unbewussten bestehen, und es bedarf des beständigen Aufwandes von psychischen Energien, um sie am Auftauchen im Bewusstsein zu verhindern. Die Neurosen dokumentieren eindringlich, welche aktive und häufig gefährliche Tätigkeit die verdrängten Triebregungen im Individuum entfalten können. Die Methode der Abwehr von Triebregungen durch ihre Verdrängung mit Hilfe des Über-Ichs beziehungsweise der Autoritäten lässt sich mit der Löschung eines Waldbrandes durch Entzündung eines Gegenbrandes vergleichen. Die nach Befriedigung drängenden Impulse werden durch stärkere Impulse, nämlich die emotionellen Beziehungen zur äußeren und verinnerlichten Autorität, bekämpft.
Wir müssen uns hier mit einem naheliegenden Einwand befassen: Brauchen wir überhaupt zum Verständnis der Abwehr von Triebregungen die Konzeption des Über-Ichs, beziehungsweise der Autorität? Ist nicht vielmehr das Motiv, das in allen Fällen ausreichend für die Triebabwehr ist, die Angst vor den Folgen der verbotenen Triebregung? Die Erfahrung zeigt, dass tatsächlich die Angst in vielen Fällen zur Triebabwehr völlig ausreicht. Wenn etwa ein Kind weiß, dass es geschlagen wird, wenn es Süßigkeiten nascht, so kann die Angst vor der Strafe völlig ausreichend sein, um die Unterdrückung des Wunsches zu ermöglichen. Das Gleiche gilt für viele Erwachsene, die allein durch die Angst vor Strafe von Handlungen, wie etwa Diebstahl oder Betrug, zurückgehalten werden. In allen Fällen, in denen diese Impulse durch Angst vor Strafe nicht zur Ausführung kommen, spielen sich der Konflikt und die Entscheidung im Bewusstsein ab. Der Impuls als solcher ist bewusst und durchaus nicht verdrängt, die Angst ist bewusst, und je nach der Stärke des Impulses, der Größe der Gefahr und dem Risiko des Erwischtwerdens, fällt es dem Menschen leichter oder schwerer, den Impuls abzuwehren. Ganz anders verhält es sich mit der Angst vor dem Über-Ich und den Autoritäten und der aus der Beziehung zu ihnen stammenden Kraft zur Abwehr eines Impulses. Gewiss ist neben dem Wunsch, von der Autorität beziehungsweise dem eigenen Über-Ich geliebt zu werden, auch hier die Angst ein [I-157] entscheidender Faktor. Sie ist aber von anderer Art als die „Realangst“, von der wir eben sprachen. Es ist nicht eine klar umrissene Angst vor einer bestimmten Folge, die das verbotene Handeln nach sich zieht, sondern eine irrationale, unbestimmte, emotionelle vor der Autoritätsperson beziehungsweise ihrem verinnerlichten Repräsentanten. Man fürchtet zum einen, seine Liebe, Achtung, Fürsorge zu verlieren, und andererseits seinen Zorn mit den sich daraus ergebenden unbestimmten, aber furchtbaren Konsequenzen zu erregen. Infolge der Irrationalität und Emotionalität dieser Angst vor der Autorität sind ihre Wirkungen unter Umständen viel größer als die der klar abgegrenzten Realangst; wo nur diese vorliegt, wird der Impuls selbst bewusst, aber unter Umständen aus Angst abgelehnt. Die spezifische Über-Ich- oder Autoritätsangst wirkt jedoch so stark, dass der Impuls selbst gar nicht bis ins Bewusstsein dringt, sondern gleichsam bevor er schon so weit kommt, verdrängt wird.
Machen wir uns diesen Unterschied an einem einfachen Beispiel klar. Denken wir an zwei junge Mädchen, von denen die eine puritanisch erzogen wurde; ihre Eltern, zu denen sie in einem liebevollen ehrfürchtigen Verhältnis steht, haben sie gelehrt, dass sexuelle Beziehungen, ja schon sexuelle Wünsche außerhalb der Ehe eine entsetzliche und unverzeihliche Sünde sind. Sie hat die Eltern mit diesen ihren moralischen Anschauungen gleichzeitig zu einer selbständigen Instanz in sich als Über-Ich gemacht. Denken wir daneben an ein ohne diese sexual-einschränkende moralische Anschauung aufgewachsenes modernes Großstadtmädchen, das außerehelichen Sexualverkehr in keiner Weise für unmoralisch oder sündig hält. Nehmen wir nun an, beide Mädchen begegneten einem Manne, der sexuelle Wünsche in ihnen auslöst. Im ersten Falle mag es sich ereignen, dass die sexuellen Wünsche als solche dem jungen Mädchen gar nicht bewusst werden, sie werden von ihm unmittelbar verdrängt und mögen sich, falls diese Verdrängung nicht ganz glückt, vielleicht in einem Symptom wie dem des Errötens äußern. Im zweiten Falle werden die Wünsche ganz bewusst sein, aber es könnte sich ereignen, dass unter bestimmten Bedingungen die Realisierung des Wunsches für das junge Mädchen gefährlich wäre, etwa den Verlust ihrer Stellung nach sich ziehen könnte. Wenn die Angst davor entsprechend groß ist, wird sie unter Umständen auf die Realisierung des Wunsches verzichten. Aber als solcher wird er ganz bewusst sein, und seine Abwehr erfolgt nicht als Verdrängung. Man wird mit Recht sagen können, dass in beiden Fällen der Triebabwehr die Angst ein ausschlaggebendes Motiv bildet, aber ihre Qualität und damit ihre Wirkung ist eben in beiden Fällen recht verschieden. Im ersteren Falle ist sie unlöslich mit der Angst vor dem Liebesverlust der Autoritäten vermischt, sie ist aber auch insofern irreal, als sie in gar keinem Verhältnis mehr zu dem steht, was dem Mädchen wirklich geschehen würde, sondern sie ist ebenso unbestimmt und phantastisch groß wie die Figuren der Autorität beziehungsweise des sie repräsentierenden Über-Ichs.
Es ist ohne weiteres klar, welche ungeheure soziale Bedeutung die Verdrängung von tabuisierten Impulsen mit Hilfe der emotionellen Bindungen an die Autorität beziehungsweise des Über-Ichs gegenüber der Abwehr durch Realangst hat. Die Abwehr durch Realangst bedeutet keine Garantie für absolute Wirksamkeit. Das Individuum mag sich die Gefahr geringer vorstellen, als sie ist, oder mag sogar bereit sein, das Risiko der Gefahr oder gar selbst die Strafe für die Befriedigung seines Wunsches [I-158] auf sich zu nehmen. Dies umso mehr, je weniger der Wunsch ein rein egoistischer ist, der verhältnismäßig leicht durch...