Im eigenen Heim begegnete ihr dieselbe Zuneigung wie im Elternhause, wo sie die einzige, zärtlich geliebte und freudebringende Tochter und Schwester gewesen war. In den neuen Verhältnissen wie in den alten blieb die Dichtung ihr tiefstes Interesse, aber es wurde ihr als junger Frau ebenso schwer wie in ihrer Mädchenzeit, sich ungestörte Ruhe zu verschaffen, um sich ihr ernst zu widmen. Aus dem Briefwechsel mit dem damals im Ausland weilenden ältesten Bruder erhält man ein lebhaftes Bild dieser Schwierigkeiten. In einem Briefe (1874), in dem sie zuerst schildert, wie sie jeden Vormittag ihrer Mutter ein Weilchen widmen will, und wie sie jeden Nachmittag zusammen mit ihrem Manne verbringt und wie wenig Zeit dann für ihre Arbeit übrigbleibt, erwidert sie als Selbstverteidigung auf die Beschuldigung des Bruders, daß sie ihre eigene Entwicklung vernachlässige:
»Eine andere Sache, die auch viel Zeit nimmt, ist die schauderhafte Unsitte, die die Stockholmerinnen haben, Vormittagsvisiten zu machen. Wenn ich jemals eine bekannte Schriftstellerin werden und als solche das Recht haben sollte, mich von dem allgemeinen Brauch loszusagen, dann würde ich nie eine Vormittagsvisite machen, noch eine solche annehmen, sondern ich würde mir anstatt dessen an einem bestimmten Nachmittag der Woche einen Empfangstag einrichten. Das würde mir viel ungestörte Arbeitszeit verschaffen, auf die ich jetzt nie rechnen kann. Ich trauere fast über jeden Tag, der vergeht, weil ich meine Zeit so schlecht anwende. Wenn ich bedenke, daß ich nun seit fast zwei Jahren nichts geschrieben habe, so verliere ich den Mut und glaube, daß nie etwas aus mir werden wird. Ach, daß das Menschenleben so kurz ist, besonders ein Künstlerleben, denn man kann doch nur höchstens zwanzig Jahre lang produzieren.«
Der Bruder hatte sie, als er ihr seinen Rat in bezug auf selbständige Studien gab, auch ermahnt, Naturwissenschaftliches zu lesen. Sie antwortete darauf:
»– – – die Menschen direkt ohne Bücher zu studieren, ist und wird immer mehr für mich das interessanteste Studium, und wenn ich lese, will ich am liebsten von Menschen lesen. Für abstraktere Studien habe ich keine Neigung ... Der Hauptgrund, warum ich im ganzen so wenig studiert habe, war und ist, daß meine Zeit so unglückselig zersplittert ist. Du kannst einwenden, daß das von mir selbst abhängt, und daß ich mir, als ich noch ein Mädchen war, meine Zeit ebenso gut hätte einteilen können, als es ein Jüngling immer tut. Aber hier ist es die wunderbare Macht der Tradition, die Hindernisse in den Weg legt. Ein Jüngling denkt sich gar nicht die Möglichkeit, daß er herumgehen und nichts tun könnte, weil er von Kindheit an lernt, daß er sich einer bestimmten Lebensaufgabe widmen und seine Jugend dazu verwenden muß, sich auf diese Aufgabe vorzubereiten. Ein Mädchen hört hingegen nie, daß sie eine andere Aufgabe hat als sich gut zu kleiden und liebenswürdig zu sein (ja, möglicherweise zu sticken und ein bißchen zu spielen und aus der Speisekammer Vorräte herauszugeben), um einen Mann zu bekommen. Wenn sie das auch nicht zu Hause direkt zu hören bekommt, und es auch nicht bewußt zu ihrer Lebensaufgabe macht, so liegt es doch sozusagen in der Luft, und die ganze Art, wie ihr Leben vom sechzehnten Jahre an eingerichtet wird, trägt dazu bei, ihr jede Lust an eigentlicher Arbeit zu benehmen. Ihr Leben wird eine Art Zwischenzustand, eine Art Wartezustand ohne Ziel, ohne irgendwelche bestimmte, gebieterische Pflichten. Und wie kann man verlangen, das ein sechzehnjähriges Kind, ohne andere Kenntnisse als die primitivsten, genug Selbständigkeit, genug Urteil und Charakter besitzen soll, um das Schiefe ihrer Stellung einzusehen und sich eine andere Existenz zu schaffen? Nein, sie treibt mit dem Strome, sie macht Toilette, geht aus und promeniert, liest Romane, stickt Tapisserie, mit anderen Worten, sie zersplittert ihre Zeit, sie leistet nichts, ohne darum je mit den Händen im Schosse dazusitzen, sie kommt zu nichts, ohne je etwas zu tun zu haben. Und diese leichtfertige, unverantwortliche Vergeudung einer kostbaren Zeit läßt dann fürs ganze Leben einen Fleck auf dem Charakter der Frau zurück. Sie hat nie gelernt, daß ein Mensch nicht das Recht hat, zu leben, ohne für ein bestimmtes Ziel zu arbeiten, daß etwas Erniedrigendes im Müßiggang liegt, etwas, dessen sich jeder halbwegs achtungswerte Mann klar bewußt ist. Und dieser Fleck auf ihrem Charakter darf doch nicht so sehr ihr selbst als dem Zeitgeist zugeschrieben werden. Aber Gott sei Dank, eine Besserung in dieser Hinsicht ist schon eingetreten, seit ich die Schule beendet habe, und ich hoffe, daß wir uns in diesem Falle in einer guten Richtung vorwärts bewegen. Wenn ich eine Tochter zu erziehen hätte, würde ich vor allem Gewicht darauf legen, ihr einzuprägen, daß sie eine bestimmte, individuelle Aufgabe im Leben hat, und daß ihre ganze Jugend dazu verwendet werden muß, sich auf diese Aufgabe vorzubereiten. Ich würde nicht gestatten, daß ihre Lehrzeit vor dem zwanzigsten Jahre abschlösse, und ich würde zusehen, daß sie während dieser ganzen Zeit auch gründlich arbeitete. Aber ich fürchte, daß ich in dieser Sache zu wortreich geworden bin. Ich werde so aufgeregt, wenn ich daran denke, wie meine eigene Jugendzeit und die meiner Altersgenossinnen verflossen ist, daß ich über diesen Gegenstand gar nicht genug sprechen kann. Ich war kürzlich in einer Versammlung, wo Herren und Damen über Frauenbildung diskutierten. Ich brannte vor Verlangen, das Wort zu ergreifen, um eine Menge Gedanken und Ansichten vorzubringen, von denen die anderen keinen Begriff zu haben schienen, aber ich war zu schüchtern, um so öffentlich aufzutreten, und ich ging darum nie mehr hin, weil ich es ebenso unmöglich fand zu schweigen wie zu sprechen. Wenn die Frage einmal schriftlich diskutiert wird, will ich es doch nicht unterlassen, das Wort zu ergreifen.«
Man sieht in dem eben Angeführten den Kampf eines von Natur weichen Temperaments, sich unter Verhältnissen, deren Druck für einen intensiveren und stärkeren Charakter gering oder gleich null gewesen wäre, zur Persönlichkeit durchzuringen. Tatsächlich waren ihre Schwierigkeiten sehr klein, aber alle Kraftproben müssen ja relativ bemessen werden, und für sie war es eine Kraftprobe, sich trotz der eben geschilderten Umstände Zeit für ihr eigentliches Interesse zu verschaffen. In den oben erwähnten selbstbiographischen Aufzeichnungen erzählt sie, daß einige Monate nach ihrer Verheiratung die Lust zur Schriftstellerei so unbezwinglich hervorbrach, daß sie in vierzehn Tagen »Die Schauspielerin« schrieb. Es ist sehr eigentümlich, daß A. Ch. Leffler ihre erste, mehr beachtete Arbeit fürs Theater verfasste. Sie war dem Theater aus religiösen Gründen lange ausgewichen. »Erst als Braut«, sagt sie, »war ich einige wenige Male ins Theater gekommen; ich hatte Hamlet gesehen und war tief ergriffen gewesen, ein paar moderne Lustspiele und hatte mich durch den leichtsinnigen und oberflächlichen Ton derselben in meinem ganzen rigorosen, noch halb pietistischen Sittlichskeitsgefühl tief empört gefühlt, und dies war meine ganze Theatererfahrung. Es war also unleugbar ein mehr als kühnes Unterfangen, ein Stück, das in vierzehn Tagen geschrieben und nur von einem jüngeren, befreundeten Mädchen gelesen war, dem dramatischen Theater einzuschicken.« Sie schildert das entzückte Staunen, mit dem sie die Nachricht von der Annahme des Stückes empfing, den Reiz und die Pikanterie, die darin lag, selbst in Gesellschaft auf die Frage zu antworten, wie das Stück ihr gefalle, und ob sie nicht wisse, wer es geschrieben habe, usw. Sie fährt fort:
»Das Gefühl, mitten im Parkett zu sitzen, zu hören, wie das Publikum den Verfasser ruft und wie ein Schauspieler vortritt und mitteilt, daß die Theaterdirektion selbst nicht wisse, wer der Verfasser ist – und dabei ruhig in dem Bewußtsein zu sein, daß kein einziger neugieriger Blick sich auf einen selbst richtet, daß man bloß ein Zuschauer unter den anderen ist – das ist eine Freude, die man später nie mehr kostet; auch bekommt man nie mehr die vollkommen unverfälschten Urteile über seine Arbeit zu hören, nachdem man einmal genötigt gewesen ist, seine Person als Repräsentantin seiner Dichtung hinauszustellen.«
Über dieses erste, heimliche, berauschende Dichterglück schrieb sie auf einer Nordlandsreise ein Gedicht in Prosa. Sie nannte es »Phantasie am Sollefteåfall«. Es erzählt in Märchenform von einer jungen Fichte, die rascher wächst als alle ihre Schwestern, um bald abgehauen zu werden und dem Falle zuzueilen, der ihr ganzes Herz gefangen genommen. Für diesen beseligenden, ersehnten Augenblick, in dem der Fall sie in seine große feurige Umarmung schließen wird, opfert sie alles. Das Märchen schließt so:
»Ein langes Leben des Leidens und des langsamen Dahinsiechens erwartete die arme Fichte auf der anderen Seite des Wasserfalls; sie sollte nie mehr den grünen Wald sehen, nie mehr den Gesang der Vögel hören, nie, nie das Rauschen des Falles vernehmen und seine schäumenden Wellen erblicken. Aber was weiter! Sie hatte ja die Stunde ihrer Seligkeit gehabt, und die füllte ihr ganzes übriges Leben aus. Laßt uns die junge Fichte nicht beklagen! Der ist nicht unglücklich, der eine wahrhaft glückliche Erinnerung besitzt!«
Was beim...