Kapitel Eins
Kristallnacht
Augustusplatz Leipzig, Schauplatz des „Kristallnacht“-Berichts. Im
Zentrum Bamberger & Hertz
Am 9. November 1938 befand ich mich auf dem Weg von der Redaktion meiner Stiefmutter im Zentrum von Leipzig zum Augustusplatz. Ich war 18 Jahre alt. Es war kurz vor dem Abendessen, die Geschäfte waren am Schliessen und die Sonne ging im Westen hinter einem blutroten Himmel unter. Der Augustusplatz war der grösste und zentralste Platz dieser Stadt mit 650'000 Einwohnern, umrahmt von vielen bedeutenden Gebäuden: der Oper, der Hauptpost, dem Universitätshauptgebäude mit der alten Paulinerkirche und dem erstklassigen Kaffeehaus Felsche, Treffpunkt der Oberschicht. Auf der einen Seite des Platzes befand sich ein hohes, zehnstöckiges Gebäude mit einem schönen Bekleidungsgeschäft, Bamberger & Hertz, von welchem wir noch immer ein wollenes, kariertes Ski Hemd besitzen, das nie nur einen Knopf verloren hat und in über fünfzig Jahren kaum ausgebleicht ist. Ein Mitglied der Bamberger Familie hat überlebt, wohnt jetzt – 1992 – in Los Angeles und ist im Begriff, dieses Leipziger Gebäude für die Familie zurückzufordern.
Als ich mich der Strassenbahnhaltestelle in der Mitte des riesigen Platzes näherte, nahm ich eine grosse Unruhe wahr und bemerkte, wie sich der Himmel verdüsterte. Dann sah ich, dass Bamberger und Hertz in Flammen stand und die Polizei das Gebäude und die Querstrasse abgeriegelt hatte. Oh ja, da waren überall Feuerleitern und Wasserschläuche, aber anscheinend nur, um die benachbarten Häuser zu schützen. Wie konnte dies nur möglich sein? Würden sie es brennen lassen? Ich vermutete, das Kleidergeschäft gehörte möglicherweise Juden. Vor der Kristallnacht diskriminierte niemand die Besitzer grösserer Immobilien, man interessierte sich nicht einmal besonders für sie. Und überhaupt wussten wir bis zu dieser schicksalhaften Nacht auch nicht, ob Bamberger ein „jüdischer“ Name sei, und es kümmerte uns auch nicht.
Wir glaubten Leute an den Fenstern der oberen Stockwerke zu sehen, sahen herunterfliegende Gegenstände, hörten Schreie. Ich sage „wir“, weil die Leute auf der Strasse sich gegenseitig anstiessen und offen mit dem Finger auf was sie sahen zeigten. Diese Art der offenen Kommunikation begann jedoch in ebenjener Nacht rasch zu schwinden. Die Leute ahnten wohl bereits, dass es nicht klug war, Mitgefühl mit den Juden zu zeigen, falls dies der Grund der Inaktivität der Polizei und Feuerwehrleute sein sollte. Und da war noch mehr. Leute rannten, verfolgt von Männern in Uniformen. War es die SA (Sturmabteilung)? Als ich mich näherte – später würde keiner sich mehr nähern – sah ich, dass in einer Ecke sich eine Gruppe dunkel gekleideter Gestalten zusammenkauerte und dann in einen Gefangenenwagen verladen wurde. Ich sah stämmige Männer Leute anschreien, sah Schlagstöcke über die Köpfe wirbeln, sah wie ein alter Mann auf die Strasse fiel, rücksichtslos wiederaufgerichtet und in den Wagen geworfen wurde. Juden? War es das? Körperliche Gewalttaten gegen Juden? Durch Nazis? Keine Polizei- oder Militäruniformen, nur eine Armbinde mit dem Hakenkreuz? Aufgewühlt, da mein Instinkt mir sagte, dass dies kein gewöhnlicher Brand war, versuchte ich, näher in die Innenstadt zu gelangen, um zu erfahren, was da vor sich ging. So arglos waren wir in jenen Tagen. Als ich die Grimmaische Strasse erreichte, die alte Einkaufsstrasse mit den eleganten Gebäuden, sah ich viele leere oder beschädigte Geschäfte, wovon eines einem bekannten Juwelier gehörte, bei welchem meine Eltern jeweils einkauften. Die Fenster waren zerbrochen, drinnen waren einige SA Männer, die Auslagen zertrümmerten und plünderten, ich nehme an, dass sie einige der schönsten Stücke für sich selbst aussuchten. Hin und wieder schrien sie die Leute an, die still und verständnislos dort standen: „Ach, ihr mögt diese Judenschweine?“ Und jedermann drehte sich schweigend ab, sein Gesicht verbergend, seine wahre Menschlichkeit verbergend, seine Ehrlichkeit und seine Scham, und ging seines Weges. Ich wusste gar nicht, dass einige dieser Geschäfte Juden gehörten, aber sie hatten Judensterne auf die Fenster oder das Wort JUDE in Grossbuchstaben auf die Mauern gemalt. Natürlich hatte ich zu dem Zeitpunkt überhaupt keine Ahnung, welchem Schicksal die verhafteten Juden entgegensahen. Niemand hatte all die hässlichen Drohungen in „Mein Kampf“, Hitlers politischer Bibel, gelesen und das Wort „Ausrottung“ war zu diesem Zeitpunkt noch nicht ins Bewusstsein der Deutschen gerückt. Man konnte sich schlicht nicht vorstellen, dass diese zivilisierte Nation sich der Herrschaft des Pöbels nicht würde widersetzen können. Ich erfuhr später, dass die Opfer auf die Polizeistation geschleppt und ihre Fingerabdrücke abgenommen wurden und dass man sie zwang, irgendwelche Geständnisse abzulegen, sie hätten selber in versicherungsbetrügerischer Absicht Brandstiftung begangen und ihre Geschäfte zerstört. Oder dass sie die Schuld begangen hätten, die antisemitische Regierung zu verurteilen. Und dann mussten sie bestätigen, dass sie mit ausgesuchter Höflichkeit behandelt worden waren, und dass die Polizei ihr Möglichstes getan hatte, um sie vor dem berechtigten Volkszorn auf die jüdischen Blutsauger zu schützen. Danach durften sie nach Hause gehen, um nachzusehen, was von ihren Besitztümern und ihrem Lebenswerk übriggeblieben war, ihr Sparbuch und ihren Tresor suchen und dann ihren Familien die furchtbare Nachricht überbringen. Und in schlaflosen Nächten würden sie überlegen, ob für sie noch Aussicht bestand, zusammenzupacken und sich den Weg aus der bedrohlichen Verfolgung zu erkaufen. Nach offiziellen Angaben wurden an jenem Tag in Deutschland 814 Geschäfte und 171 Häuser zerstört sowie 191 Synagogen in Brand gesteckt. 36 Juden wurden getötet und weitere 36 ernsthaft verletzt. Doch Heydrich selbst gab zu, dass diese Zahlen erheblich übertroffen wurden: Innert drei Tagen müssen wohl 20'000 Juden in Konzentrationslager ausgeschafft worden sein.
Während ich also dort stand und die Bedeutung dieser unglaublich barbarischen Handlung gegen die Juden zu begreifen suchte, erspähte mich einer der SA Männer mit meiner Adlernase und der zivilen Kleidung eines im Militärdienstalter stehenden jungen Mannes. Er muss meine Qual gesehen haben und offenbar die Furcht, die mir ins Gesicht geschrieben war und schrie: „He, hier ist noch einer!“ Ich stammelte: „Ich bin kein Jude“ und fühlte mich wie Judas. Ich hatte den flüchtigen und furchtbar edlen und mutigen Gedanken, mich zu einem von ihnen zu bekennen und dessen Schicksal zu teilen. In dem Augenblick packten mich zwei Männer in Zivilkleidung und einer Hakenkreuzarmbinde und sagten: „Gut, du Scheisskerl, wenn du kein Jude bist, musst du ja ein niedliches Stück Haut haben da unten. Lass mal sehen“. Ich stand auf dem Bürgersteig der Einkaufsstrasse mitten in einem Haufen johlender Verrückter und Hundert schweigender Zeugen und war gezwungen, meine Hose und Unterhose runter zu lassen. Ich hatte keine andere Wahl. Einer der Kerle fasste mich unten an, um das entscheidende Stück Vorhaut abzutasten. Und als er es fand und etwas zu fest zusammendrückte sagte er: „Glück gehabt, Freundchen“. Dann trat er mir in den Hintern, sodass ich vom Gehsteig auf die Strasse stolperte. Irgendwie kriegte ich die Kleider wieder an, stand auf und rannte zur Strassenbahn. Ich war drauf und dran, eine Lobeshymne auf mein geliebtes Präputium zu singen, das mir vielleicht das Leben gerettet hatte. Vielleicht muss ich für die amerikanischen Leser anfügen, dass die deutschen Knaben nicht beschnitten wurden, ausser aus medizinischen Gründen, während aus irgendeinem Grund praktisch alle amerikanischen Jungen gestutzt wurden.
Plötzlich dachte ich, ich sollte besser aufhören zu rennen. Man könnte denken, ich sei auf der Flucht. Ich weinte und war zu Tode erschrocken. Die Strassenbahn war wegen des Feuers nicht in Betrieb und ich lief nach Hause – 45 Minuten – und wollte mit niemandem sprechen. Aber Mutter Louise hatte das Feuer auch gesehen und ein Taxi nach Hause genommen. Und alles, was ich gesehen hatte, sprudelte aus mir raus in die ungläubigen Ohren meiner Eltern. Den letzten Teil aber liess ich aus, bis viel später. Auf einem grossen öffentlichen Platz nackt da zu stehen, war nicht gerade das, worüber ein Achtzehnjähriger in jenen Tagen leicht reden konnte. Oder vergessen konnte.
In den Abendnachrichten lautete die amtliche Darstellung: Der plötzliche und entschuldbare Ärger der rechtschaffenen Bürger gegen die semitischen Blutsauger, welche für die Missstände der Gesellschaft verantwortlich waren, hatte die Unruhe verursacht.
„Wir bedauern mitteilen zu müssen, dass wegen blindwütiger Kampfhandlungen und Widerstand, einige Aussenseiter getötet worden sind. Ihre Geschäfte werden geschlossen bleiben, um weitere Ausbrüche berechtigter Empörung zu...