2. Eine erste Annäherung an den christlichen Begriff von Sühne
2.1 Eine biblische »Definition« von Sühne: Kol 1,24
Oft spricht die Bibel nur vage und andeutend von den Einsichten, die uns der Glaube schenkt. Manchmal aber haben wir »Glück«, und es finden sich mehr als bloße Hinweise; manchmal erstrahlt aus Formulierungen der Schrift schlaglichtartig die Fülle der göttlichen Weisheit. Ein solcher Glücksfall liegt beim Thema »Sühne« vor. An einer Stelle gibt uns die Heilige Schrift im Kolosserbrief, freilich ohne das Wort »Sühne« zu nennen, eine Definition, wie sie erhellender nicht sein könnte. Der Kolosserbrief wird heute von den meisten Exegeten – ebenso wie der Epheserbrief – für das Werk eines Paulusschülers gehalten.
Der Autor gibt sich als Paulus aus (vgl. Kol 1,1; 4,18), der aus der Gefangenschaft an die Gemeinde von Kolossä in Kleinasien schreibt, einer Gemeinde, die er nicht selbst gegründet hat und der er persönlich nicht bekannt ist (vgl. Kol 2,1). Auch wenn der Autor nicht mit Paulus identisch sein sollte, so bewegt er sich doch ganz in der Geisteswelt des Apostels. Er kennt nicht nur dessen Grundanliegen in der Verkündigung, sondern auch seine persönlichen Erfahrungen bei der Missionsarbeit. Indem sich der Autor auf diese Erfahrungen des Apostels bezieht, bezeugt er, dass die Gestalt des Paulus »unbestrittenes Ansehen und nahezu heilsrelevante Bedeutung gewonnen« hat.1 Die historische Identität des Autors ist deshalb für uns hier von untergeordnetem Interesse.
Der Autor, nennen wir ihn weiterhin Paulus, eröffnet den Brief mit dem üblichen Gruß und einem Christushymnus (vgl. Kol 1,12–20), um dann zu einem sehr persönlichen Bekenntnis überzugehen, das lautet: »Jetzt freue ich mich in den Leiden, die ich für euch ertrage. Für den Leib Christi, die Kirche, ergänze ich in meinem irdischen Leben, was an den Leiden Christi noch fehlt« (Kol 1,24). Wer wissen will, was gläubige Christen unter Sühne verstehen, der wird in Kol 1,24 wichtige Hinweise finden. Wir werden auf diese bedeutsame Stelle weiter unten noch ausführlich zu sprechen kommen, wenn wir den Sinn der Sühne von Christus her dargestellt haben. Hier wollen wir von dem Wort des Kolosserbriefes her einige erste Hinweise gewinnen.2 Das Auffälligste ist zunächst der Tonfall. Paulus, der so viel mitmachen musste und von den Leiden seiner apostolischen Tätigkeit so manches Lied zu singen weiß,3 klingt hier keineswegs entmutigt und niedergeschlagen. Wenn er seine Leiden mit einem Chairo – »Ich freue mich!« – zur Sprache bringt, dann nicht in jenem jammernden Ton, mit dem Menschen oft um Mitleid, ja Anerkennung heischen, weil sie sich viel auf ihre Mühen zugutehalten. In der Bewertung seiner Leiden ist bei Paulus überhaupt keine Spur von Sentimentalität oder Bedrückung zu finden: Er stöhnt und jammert nicht über das Leiden, er jubelt.
Man hat jedenfalls den Eindruck, dass Paulus diese Worte in einer Art Triumphgefühl, zumindest aber mit Enthusiasmus schreibt: »Jetzt freue ich mich in den Leiden, die ich für euch ertrage. Für den Leib Christi, die Kirche, ergänze ich in meinem irdischen Leben das, was an den Leiden Christi noch fehlt.« So paradox uns auch Freudengefühle über Leiden scheinen, sie sind bei Paulus keine Seltenheit: An anderen Stellen »rühmt« er sich unbekümmert des Kreuzes Jesu Christi (Gal 6,14) oder wünscht sich, dass der »Tod Christi ihn prägen« möge (Phil 3,10). Die Freude, ja der Triumph des Paulus ist aber menschlich gesehen rätselhaft. Wie soll man es verstehen, dass sich hier einer »in den Leiden« freut? Wie ist es möglich, dass einer einen Grund findet, über das eigene Leiden zu jubeln?
2.2 Eine Entdeckung: »Freude im Leiden«!
Woher kommt bei Paulus die »Freude im Leiden«? Bewegend ist die Interpretation, die Papst Johannes Paul II. hierzu gegeben hat. Er deutet die genannte Stelle im Kolosserbrief so, dass Paulus hierin eine endgültige Entdeckung ausdrückt, welche er am Ende seines langen persönlichen Weges des Leidens gemacht hat. Die Entdeckung des Paulus besteht demnach in seiner Erkenntnis, dass sein Leiden, dass menschliches Leiden insgesamt Sinn haben kann. Paulus hat begriffen, dass Leiden sogar so sinnvoll zu sein vermag, dass es Freude macht, zu leiden: Chairo – »Ich freue mich in den Leiden, die ich für euch ertrage!«
Dieser Sinn des Leidens muss aber von jedem Einzelnen in seiner ganzen Tiefe persönlich entdeckt werden. Papst Johannes Paul II. macht diese wichtige Bemerkung über die »Entdeckung« des Paulus gleich am Anfang seines Apostolischen Schreibens Salvifici doloris: »Über den christlichen Sinn des menschlichen Leidens«4 vom 11. Februar 1984. Durch das Attentat vom 13. Mai 1981 war der Papst selbst in einer unnachvollziehbar persönlichen Weise mit den Abgründen menschlichen Leidens konfrontiert worden. Und ohne Zweifel ist das Apostolische Schreiben selbst die Frucht dieser existenziellen Erfahrung. Johannes Paul II. konnte durch sein Lebensschicksal die »Entdeckung« des Paulus persönlich nach- und mitvollziehen. Das gibt dem päpstlichen Schreiben nicht nur eine faszinierende geistliche Tiefe, sondern auch eine theologische Dimension, die über vieles, was bislang über Leiden, Opfer und Sühne geschrieben wurde, hinausgeht. Was der Sinn des Leidens ist, kann ja auch gar nicht in bloß theoretischen und lebensfernen Spekulationen aufgearbeitet werden, sondern muss durch persönliche Erfahrung gedeckt sein.
Doch zurück zu Paulus, der als Christ fasziniert ist von der Entdeckung des Leidens. Worin gründet nun die Sinnhaftigkeit des Leidens? Auch darauf gibt der kurze Text aus dem Kolosserbrief eine Antwort. Der Ursprung einer Sinnhaftigkeit menschlichen Leidens ist das Vorbild Christi. Von großer Bedeutung ist, dass Paulus nach dem griechischen Text nicht eigentlich von den »Leiden Christi«, sondern von Christi thlipseis spricht. Der Autor von Kol 1,24 möchte an Christi thlipseis »ergänzen«, was noch fehlt. Die Einheitsübersetzung gibt dies zwar mit »Leiden Christi« wieder, wörtlich ist aber von den »Bedrängnissen« oder »Drangsalen« die Rede. Paulus möchte hier offensichtlich nicht von jenen Leiden Christi sprechen, durch die dieser objektiv und endgültig die Erlösung gewirkt hat. Paulus hat das einzigartige Leiden Christi hier nicht im Sinn, denn die Erlösung an sich ist allein und einzig die Tat Christi, Folge seines Kreuzes.5
Bei den »Bedrängnissen Christi«, die Paulus ergänzen möchte, ist also zuerst an die konkreten Mühen des Apostels im Dienst an den Menschen zu denken: Es gehört zum Aposteldienst an Christi statt, im Einsatz für das Evangelium aufgerieben zu werden. Wie die Bedrängnisse Christi sinnvoll waren, so sind es auch die Bedrängnisse des Apostels. Erlaubt ist auch, an die psychologische Dimension dieses mühevollen Heilsdienstes Christi zu denken: an den Schmerz und die Erschütterung über die bleibende Verhärtung der Menschen, die Paulus mit Jesus teilt (vgl. Mt 23,27; Röm 9–11). In Verbindung mit diesen konkreten Drangsalen und Betrübnissen Christi wird das Leiden des Christusjüngers sinnvoll, ja freudvoll. Die Quelle der Sinnhaftigkeit des Leidens ist also das Leiden Christi; dieses ist etwas so Wertvolles, dass von daher jedes menschliche Leiden den Charakter einer ebenso wertvollen »Ergänzung« erhalten kann.
2.3 Leiden »für euch«
Man könnte Paulus hier freilich unterstellen, es handle sich bei diesen Grußworten an die Christen von Kolossä um eine rhetorische Übertreibung, wodurch der Verfasser nur euphorisch seine liebevolle Zuneigung und seinen mühevollen Einsatz für die Adressaten unterstreichen wollte; als ob Zuneigung und Einsatz so intensiv wären, dass sie sogar das Dunkle des Leidens überlagern, das mit dem Aposteldienst verbunden ist; als ob die Freude des Apostels über sein Leiden nur ein psychologisches Selbstablenkungsmanöver oder eine Beschwichtigung der besorgten Leser wäre: »Es ist schon nicht so schlimm…!« Paulus aber scheint tiefer zu denken. Sein »Ich freue mich im Leiden« ist keineswegs künstliche Euphorie, die bloß die Qualen des Einsatzes verharmlosen soll. Im Gegenteil: Das Leiden wird nicht bagatellisiert, es hat bei Paulus als Leiden einen Sinn, ja mehr noch: einen Zweck. Es soll nämlich jemandem zugutekommen, gleichsam für andere wirksam werden. Was Paulus hier ausdrückt, ist eine Art Versicherung, ja Garantie, dass sein Leiden ein sinnvolles »Für-euch-Leiden« ist, ein Leiden »für die Kirche«, das er deshalb mit Freude zu ertragen bereit ist.
Da das Leiden, von dem hier die Rede ist, ein...