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2) Eine kleine Geschichte der Sünde
Alles hat seine Geschichte, auch die Sünde. Der christliche Glaube hat seine historischen Wandlungen, ja selbst Gott lässt sich auf die Geschichte ein, er wird Mensch zu einer ganz bestimmten Zeit, unter Kaisern und Statthaltern einer bestimmten historischen Situation.
Ich möchte in diesem Kapitel einige Grundlinien beschreiben, wie das Thema Sünde im Laufe der Kirchengeschichte verstanden worden ist. Dabei möchte ich die Geschichte der Sünde gewissermaßen rückwärts erzählen. Ich möchte mit dem modernen Verständnis der Sünde beginnen, wie es in den letzten Jahrhunderten dominiert hat. Meine These lautet, dass das Sündenverständnis in der Neuzeit mehr und mehr moralisiert wurde, und dass darin ein großes Problem liegt. Dann möchte ich mich weiter und weiter zurückfragen, wie Sünde in der Reformationszeit und in der Christenheit vor der Kirchenspaltung verstanden wurde. Schließlich möchte ich zu den biblischen Texten zurückgehen und nach Aspekten suchen, die vielleicht zu stark in den Hintergrund getreten sind und die heute für uns hilfreich sein könnten.
Im Laufe der Zeit haben sich fünf wesentliche Grundformen herausgebildet, wie Sünde verstanden wird: als Schuld, Misstrauen, Maßlosigkeit, Verführung und Zielverfehlung. Jeweils steht etwas anderes im Zentrum: das Handeln, die Gottesbeziehung, unsere Person, der Machtcharakter der Sünde und unsere Bestimmung, die wir verfehlen. Alle diese fünf Verständnismöglichkeiten haben ihr tiefes Recht und sind auf ihre Weise unverzichtbar. Aber wir sollten auch ihre Grenzen und ihre Ergänzungsbedürftigkeit durch das ganze Bild wahrnehmen.
Woher weiß man, was Sünde ist? Die vertrauteste Antwort, die vielen zuerst einfällt, dürfte lauten: Das lernt man aus den biblischen Geboten, besonders aus den Zehn Geboten. Sünde ist, was dem Willen Gottes widerspricht. Sünde ist Übertretung der göttlichen Gebote.
So lautet tatsächlich eine klassische Verständnisweise der Sünde, die ich zunächst einmal würdigen möchte. Die Zehn Gebote stehen für eine ungeheure Freiheitsbotschaft. Sie sind die Lebensregeln des Gottes, der sein Volk Israel aus der Knechtschaft in Ägypten befreit hat. Diese Befreiungsbotschaft begründet ein Leben in verlässlichen Beziehungen.
Bei den Zehn Geboten unterscheidet man zwei Tafeln: Die erste Tafel (je nach Zählung die ersten drei bzw. vier Gebote) bezieht sich auf die Beziehung zu Gott. Gott allein ist zu verehren, und nichts und niemand neben ihm. Kein Bild wird ihm gerecht, jede menschliche Vorstellung greift zu kurz. Darüber hinaus warnen die Gebote vor einer fälschlichen Inanspruchnahme Gottes für selbstsüchtige Zwecke: Seinen Namen soll niemand missbrauchen. Der Feiertag ist zu heiligen, sodass das ganze Leben auf Gott ausgerichtet und von ihm geordnet wird.
Auf der „zweiten Tafel“ geht es um das zwischenmenschliche Verhalten. Diese Gebote kann man noch einmal in zwei Abschnitte unterteilen: Die Gebote zur Ehrung der Eltern, zum Schutz des Lebens und der Ehe sichern die Grundlagen des Lebens. Der zweite Abschnitt enthält wichtige Regeln für das menschliche Zusammenleben. Der Schutz des Eigentums und des guten Rufs sowie die Abwehr von Neid und Habgier richten Grenzziehungen für die Entfaltung unseres Lebens auf.
Die Wirkungsgeschichte dieser Gebote ist in der Menschheitsgeschichte allgegenwärtig. Sie sind Inbegriff der guten Ordnung, die jede Gemeinschaft braucht. Diese Regeln schützen unser Leben, unsere Beziehungen, unsere Freiheit. Sie stiften Vertrauen und Verlässlichkeit. Wir alle leben davon, dass unsere Grenzen respektiert werden. Solche Regeln sind bis heute das Grundgerüst jeder Moral.
Manchmal betonen einige Christen, das Evangelium habe nichts mit Moral zu tun. Gott liebt uns bedingungslos, unabhängig von unserem Verhalten. Mmmh, ja schon, aber Hand aufs Herz: Das ist nicht das, was man gerne von freudestrahlenden Neonazis, Dealern, Menschenhändlern oder Folterknechten hören möchte, bevor diese sich wieder ihrem Tagesgeschäft zuwenden, nicht wahr? Natürlich hat der christliche Glaube auch mit Moral zu tun. Er geht in Moral nicht auf, er ist viel mehr als das, aber das Christentum gibt es auch nicht ohne moralische Konsequenzen.
Wir können uns kein sinnvolles Leben ohne solche Regeln vorstellen. Wer gegen die Regeln verstößt, macht sich schuldig. Egal, ob im Straßenverkehr, im Fußball oder in der Familie. Darüber kann auch nicht die Tatsache hinwegtäuschen, dass einzelne Regeln immer wieder als strittig empfunden oder weiterentwickelt werden.
Lange Zeit gingen Christen davon aus, dass jeder Mensch aufgrund der Gebote Gottes doch wisse, was richtig und falsch sei. Doch diese Voraussetzung stößt heute offensichtlich an Grenzen.
Da ist zunächst die zunehmende Pluralität der Gesellschaft. Noch in der Reformationszeit war es undenkbar, dass es auf dem selben Territorium Christen unterschiedlichen Bekenntnisses gibt. Der Landesfürst oder Stadtrat gab die Glaubensrichtung vor. Die Erlaubnis auszuwandern, galt als tolerant. Noch komplizierter wird es in einer Welt, in der viele Religionen nebeneinander bestehen. Die Berufung auf die Religion als Garant der Moral funktioniert nicht mehr in Gesellschaften, die keine gemeinsame Glaubensgrundlage kennen. In einer multireligiösen Gesellschaft ist der Verweis auf die Gebote Gottes keine Klärungshilfe mehr. Diese Funktion haben längst die Menschenrechte und das Bekenntnis zur Menschenwürde als Basis gemeinsamer Werte übernommen. Das ist für Christen im Grunde kein Problem, sie haben mehr und mehr gelernt, die Menschenrechte und den Gedanken der Menschenwürde als heute gültigen Ausdruck der Gottebenbildlichkeit aller Menschen anzuerkennen. Aber die biblischen Gebote rücken so in der Öffentlichkeit auch ein wenig in den Hintergrund und können immer weniger als allgemein bekannt vorausgesetzt werden.
Ein weiteres Problem besteht darin, dass viele moralische Fragen immer komplizierter werden. An Fragen des Umweltschutzes hängt das Überleben der Menschheit, mindestens der Fortbestand menschlichen Lebens in vielen gefährdeten Regionen der Welt. Aber der Zusammenhang von menschlichem Verhalten und der Veränderung der Umwelt ist so kompliziert, dass solche Fragen des richtigen und guten Lebens nur noch im Gespräch der Experten zu klären sind.
Schließlich ist unsere Zeit zunehmend durch moralische Grundkonflikte bestimmt. Wir werden empfindlicher im Blick auf Differenzen. Konservative und progressive Werte stehen einander gegenüber. Viele reden von Werteverfall und meinen jeweils die andere Seite. Die Berufung auf Moral wird teilweise wie ein verbaler Kampfsport betrieben. Und es geht in solchen Auseinandersetzungen nicht nur um Richtig und Falsch. Wer die falschen Werte hat, irrt nicht nur: Er führt in die Irre, ist gefährlich und muss bekämpft bzw. ausgegrenzt werden.
Im Grunde ist es ja merkwürdig. Denn gerade dieses Thema, der erbitterte Streit um die Geltung einzelner Vorschriften, wird in der Bibel häufig und kritisch thematisiert. Mit kaum einer Gruppe setzt Jesus sich so intensiv auseinander wie mit denjenigen, die sich als Wächter über die Einhaltung der Gebote verstehen. Beim Apostel Paulus ist es ähnlich. Die schwersten Auseinandersetzungen hat er mit Menschen, die die Einhaltung des Gesetzes bedroht sehen. Die Botschaft ist eindeutig: Nicht nur die Gesetzesübertreter, nein, gerade diejenigen, die besonders eifrig die Einhaltung des Gesetzes fordern, stehen in Gefahr sich zu versündigen.
Sünde ist Schuld. Niemand bestreitet, dass Menschen schuldig werden können, dass immer wieder Einsicht (Reue) und Vergebung nötig sind, um im zwischenmenschlichen Bereich miteinander klarzukommen. Dafür bedürfte es den christlichen Sündengedanken im strengen Sinne gar nicht.
Dies ist kein Buch über Ethik. Ich möchte hier nicht strittige ethische Einzelfragen erörtern, weder Grundfragen, bei denen wir gemeinsame Überzeugungen teilen, noch heiß debattierte Sonderprobleme des Verhaltens, die eine gründliche Erörterung der jeweiligen Situation und der grundlegenden biblischen Normen und Maßstäbe erfordern würden. Sünde ist Schuld, aber auch mehr als das. In diesem Buch geht es vor allem um dieses „mehr“.
Ich habe beim Schreiben dieses Buches ein wenig rumgefragt: Was würdest du sagen, was Sünde ist? Die häufigste Antwort lautete: Sünde ist Trennung von Gott. Und was genau trennt uns von Gott? Dass wir ihm nicht vertrauen. In der Tat, das ist eine grundlegende Einsicht, die für den christlichen Sündengedanken unverzichtbar ist. Für Martin Luthers Auslegung der Zehn Gebote war eine Sache grundlegend: Das erste Gebot ist das Haupt aller Gebote. Alles hängt an der Gottesbeziehung. Die Person macht die Werke gut, nicht umgekehrt. Wo das Vertrauen auf Gott geschwunden ist, auf das, was trägt, da verliert der Mensch seinen Halt. Sünde ist Unglaube, Misstrauen gegenüber Gott. So schreibt der Apostel Paulus: „Was nicht aus Glauben geschieht ist Sünde“ (Röm 14,23; vgl. auch Mt 7,16-18).
Wer wir sind, bestimmt, was wir tun. Was aber bestimmt – wer wir sind? Luther brachte dies auf die berühmte Formel: „Woran Du dein Herz hängst, das ist dein Gott.“14 In seiner Auslegung des Sündenfalls zeichnet Luther diesen Ursprung nach: Da, wo das Vertrauen auf Gott beschädigt ist, nimmt das Gespräch seinen verhängnisvollen Lauf. Diesen Zusammenhang halte ich nach wie vor für wesentlich: Sünde ist eine Verkehrung des Vertrauens. Als begabtes wie bedürftiges Lebewesen muss der Mensch etwas aus sich machen, ohne alle Lebensbedingungen...