1 Einleitung
Der Wunsch, nicht mehr leben zu wollen, und die Ausführung von Suizidhandlungen, d. h. von Suiziden und in noch stärkerem Maße Suizidversuchen, sind Ausdruck tief greifender persönlicher Belastungen und Krisen, die nicht bewältigt werden können. Ihre Prävention und Behandlung innerhalb des Gesundheitssystems und der Gesundheitspolitik eines Landes bereiten gesellschaftlich betrachtet nicht zu unterschätzende Probleme. Nach Schätzungen der Weltgesundheitsorganisation (WHO) sterben weltweit jedes Jahr etwa eine Million Menschen durch Suizid, in den europäischen Mitgliedsstaaten waren es 2006 rund 59 000 Personen, die sich das Leben nahmen, 45 000 Männer und 14 000 Frauen. In Deutschland gibt es im Jahr mehr als 9 000 Tote durch Suizid. Der Suizid gehört damit zu den Hauptursachen für vorzeitige Sterbefälle (premature death) (Wahlbeck & Mäkinen, 2008). Noch erschreckender ist die Zahl der Suizidversuche, die von keiner amtlichen Statistik erfasst wird. Sie übersteigt nach übereinstimmender Schätzung die der Suizide mindestens um das Zehnfache.
Besonders von tödlichen Suizidhandlungen betroffen sind in allen Industrieländern die alten Menschen. Das gilt besonders für Männer, aber auch für Frauen. In Deutschland beträgt z. B. der Anteil der 60-Jährigen und Älteren an der Gesamtbevölkerung rund 26 %, ihr Anteil an allen Suiziden dagegen rund 41 %. Diese seit langem bekannte Tatsache wird im Unterschied zu anderen Ländern, in denen das Problem des Alterssuizids durch Public-Health-Programme, durch Forschung und Aufklärungsarbeit stärker ins öffentliche Bewusstsein gerückt wird (Beispiel: USA), in Deutschland eher als gesundheitliches Randphänomen behandelt und in politischen Kreisen und damit auch in der Öffentlichkeit kaum zur Kenntnis genommen. Publizität bekommen Selbsttötungen erst dann, wenn sich bekannte Persönlichkeiten aus Industrie, Kultur und Geistesleben, die man eigentlich für erfolgsverwöhnt hält, das Leben nehmen. Generell wird dem Alterssuizid im Unterschied zu Suizidhandlungen jüngerer Menschen ein größeres Verständnis und eine größere Akzeptanz entgegengebracht. Mit ihm wird häufig assoziiert, dass das Alter so unerträglich sein muss, dass es, solange noch Handlungsfreiheit besteht, besser ist, das Leben vorzeitig zu beenden als es unter Leiden bis zum bitteren Ende zu erdulden. Durch diese größere Akzeptanz wird es auch schwieriger, Prävention und Therapie in der Öffentlichkeit zu rechtfertigen und politisch durchzusetzen. Erst das Nationale Suizidpräventionsprogramm für Deutschland (NaSPro) hat u. a. die besondere Suizidgefährdung alter Menschen in seinen Aktionsplan aufgenommen und zur Bewusstseinsbildung in Sachen Prävention und Therapie beigetragen.
Dieses bundesweite Programm, das sehr wertvolle Arbeit leistet, gibt es seit 2002, weitgehend getragen vom freiwilligen Engagement zahlreicher Verbände, Organisationen und Einzelpersonen, die die Notwendigkeit von Suizidprävention in unserem Lande erkennen und sich für deren Umsetzung und Weiterentwicklung einsetzen. Es ist bemerkenswert, was sich im Rahmen von Fachgesellschaften, Institutionen und Arbeitsgruppen, die sich unter dem Dach des Nationalen Suizidpräventionsprogramms für Deutschland zusammengeschlossen haben, in der Zwischenzeit alles entwickelt hat. Zu diesen positiven Entwicklungen gehört auch die Beobachtung, dass das Thema des Alterssuizids von Medien, Verbänden, Weiterbildungsträgern und Berufsgruppen stärker als bisher aufgegriffen und bearbeitet wird. Auf Kongressen und Tagungen einschlägiger Fachgesellschaften wird der Alterssuizid ebenfalls thematisiert und in Publikationen einer breiteren Öffentlichkeit zugänglich gemacht. Dazu beigetragen haben vor allem die Aktivitäten der Arbeitsgruppe Alte Menschen im NaSPro, in der sich Experten für Fragen des Alterssuizids aus unterschiedlichen Disziplinen und Praxisfeldern zusammengetan haben. Eine zentrale Aufgabe, die sich die Arbeitsgruppe Alte Menschen gestellt hat, besteht im Erfahrungsaustausch und in der Zusammenarbeit mit Berufsgruppen, die in ihrer Praxis mit der Suizidgefährdung (Suizidalität) alter Menschen zu tun haben und nach Ansätzen und Methoden suchen, diesem Problem persönlich und fachlich gerüstet zu begegnen. Zu diesem Zweck werden Informationsmaterialien erstellt, Fort- und Weiterbildungsangebote gemacht und sonstige Gelegenheiten genützt, um das Thema des Alterssuizids ins Gespräch zu bringen. Auch das vorliegende Buch, das zahlreiche Anregungen zu diesem Thema aus der Zusammenarbeit mit Kolleginnen und Kollegen aus anderen Fachdisziplinen aufgreift und verarbeitet, dient diesem übergeordneten Ziel.
Es gehört zu den zentralen Anliegen der Suizidprävention, durch Information, Aufklärung und Unterrichtung grundlegende Aspekte wie Häufigkeit, Entstehungsbedingungen und Erklärungsansätze von Suizidalität (hier besonders im Alter) zu thematisieren. Ferner ist es ein Anliegen, präventive, diagnostische und therapeutische Hilfen bei Suizidgefährdung praxisnah zu erarbeiten. Es gibt seit geraumer Zeit einen Kreis von Wissenschaftlern und Praxisvertretern, die sich mit der Suizidgefährdung alter Menschen beschäftigen und Fortschritte in Prävention und Therapie suizidaler alter Menschen herbeiführen wollen. Darüber hinaus muss es gelingen, noch weitere Personen für dieses Thema zu interessieren, die dann als Multiplikatoren in ihrem Lebens- und Berufsumfeld tätig werden können. Arbeiten zum Thema der Suizidalität und Suizidprävention im höheren Lebensalter liegen mittlerweile in großer Anzahl aus dem deutschen, vor allem aber aus dem englischen Sprachraum vor. Sie werden hier angemessen berücksichtigt.
Gegliedert wird das Buch nach folgenden Gesichtspunkten. Da der Autor sich dem Thema der Alterssuizidalität aus seiner längjährigen Tätigkeit als Lehrer und Forscher auf Gebieten der Gerontopsychologie nähert, wird der Einstieg über Aspekte und Fragen des Alter(n)s gewählt. Diese sollen aufzeigen, dass es im Verlauf des Altwerdens zu Belastungskumulierungen und krisenhaften Zuspitzungen kommen kann, die Suizidalität und suizidales Handeln nach sich ziehen. Insbesondere werden körperliche und psychosoziale Alternsveränderungen aufgegriffen, die das Leben im Alter erschweren und es unter bestimmten Bedingungen unerträglich machen. Der Mehrheit alter Menschen gelingt es zwar, mit Hilfe personaler und sozialer Ressourcen (Schutzfaktoren) den Einbußen und Verlusten des Altwerdens zu begegnen, einer Minderheit dagegen stehen diese Ressourcen im hohen Alter nicht zur Verfügung. Die Bewältigung der körperlichen, seelischen und sozialen Herausforderungen des Altwerdens scheint für diese Gruppe so aussichtslos, dass sie nicht mehr weiterleben möchte.
Thematisiert werden zu Beginn des ersten Kapitels Lebensqualität und Wohlbefinden als übergreifende Zielkonzepte der persönlichen Lebensführung, der körperlichen und seelischen Gesundheit sowie der politischen Weichenstellungen im Alter, zu denen auch die vorherrschenden Altersbilder in der Gesellschaft ihren Beitrag leisten. Behandelt werden dann Belastungsfaktoren auf der einen und Schutzfaktoren des hohen Alters auf der anderen Seite. Gefragt wird auch nach dem heuristischen Wert von psychologischen Modellen des Alterns für das Verständnis von krisenhafter und suizidaler Entwicklung im Alter.
Das zweite Kapitel wendet sich dem eigentlichen Thema der Suizidalität im Alter zu. Terminologische und epidemiologische Fragen werden geklärt und durch internationale Untersuchungsbefunde untermauert. Für die Früherkennung suizidaler Gefährdung wichtig ist die Vermittlung von diagnostischen Zugangsmöglichkeiten und Methoden, die besonders bei alten Menschen erschwert sein können. Ein umfangreicher Abschnitt des Buches befasst sich mit den Entstehungsbedingungen von Suizidalität alter Menschen, die gut mit Belastungsmerkmalen des Alters verknüpft werden können (s. Kapitel 1). Sind diese Entstehungsbedingungen empirisch gut belegt und prognostisch von Relevanz, spricht man auch von Risikofaktoren.
Um die Suizidalität alter Menschen in ihrer Genese, Mehrdimensionalität und Psychodynamik besser begreifen zu können, muss auf Erklärungsansätze eingegangen werden, die besonders aus psychiatrischer und psychologischer Perspektive entwickelt wurden. Dabei verbietet sich jede monokausale Erklärung, die z. B. nur auf psychische oder körperliche Erkrankungen im Alter als Ursache für Suizidalität im Alter rekurriert. Psychologisch relevant sind vor allem tiefenpsychologische, verhaltenspsychologische und stresstheoretische Erklärungsansätze. Psychologische Modelle der Suizidalität haben den Vorteil, die biografischen und persönlichkeitsspezifischen Einflussgrößen in ihrer wechselseitigen Bedingtheit ins Blickfeld zu rücken. Sie sind auch in der Lage, Art und Verlauf der Auseinandersetzung mit Belastungen des Alters zu fokussieren, einschließlich der Schutzfaktoren, die krisenhaften Entwicklungen bis hin zu suizidaler Gefährdung entgegenwirken können.
Das dritte Kapitel leitet über zu den Schwerpunktthemen Suizidprävention, Krisenhilfe und Psychotherapie im Alter. Angesprochen werden Formen der Suizidprävention. Des Weiteren wird ein Blick geworfen auf Stand und Entwicklung der Suizidprävention im internationalen und nationalen Raum, unter besonderer Berücksichtigung der suizidpräventiven Konzepte und Programme für alte Menschen. Wichtig ist in diesem Zusammenhang auch die Beschreibung der gegenwärtigen Versorgungslage suizidaler alter Menschen in der Bundesrepublik. Diese lässt in mehreren Punkten noch zu wünschen übrig und muss verbessert werden, insbesondere was den Umgang mit Suizidalität alter Menschen in Pflegekontexten betrifft. Zu den Einflussfaktoren für...