2 Transfer auf partiell identische Aufgaben
Beginnend mit diesem Kapitel werden die Ergebnisse der Transferforschung vorgestellt. Im Mittelpunkt steht dabei die Auseinandersetzung mit Thorndikes Theorie der identischen Elemente, mit der er den Lerntransfer erklären wollte. Die Theorie besagt, Transfer ist insoweit möglich, als Lern- und Transferaufgaben einander ähnlich sind, also identische Elemente aufweisen.
Damit sind drei Behauptungen impliziert:
- Positiver Transfer ist möglich, wenn Lern- und Transferaufgabe partiell gleich sind.
- Positiver Transfer ist ausgeschlossen, wenn die Aufgaben nicht wenigstens partiell gleich sind.
- Negativen Transfer gibt es nicht.
Gegenstand des vorliegenden Kapitels ist insbesondere die erste der drei Behauptungen.
2.1 Der Ansatz von Thorndike
Im Jahre 1901 veröffentlichten Thorndike und Woodworth (1901a, b, c) einen dreiteiligen Artikel mit Untersuchungen zum Lernen und zum Transfer. Die Probanden wurden trainiert, sehr unterschiedliche Aufgaben zu lösen, wie beispielsweise das Schätzen der Größe von Figuren oder das Durchstreichen bestimmter Buchstaben oder Wörter in Texten. Anschließend wurden sie getestet, inwieweit ein Transfer auf andere, nicht geübte Aufgaben stattgefunden hat. Das Ergebnis war enttäuschend. Thorndike schloss aus den Untersuchungen, dass Transfer nur dann stattfindet, wenn Lern- und Transferaufgabe identische Elemente aufweisen.
Im Nachhinein betrachtet stellt dieses Konzept eine elegante Lösung des Problems der Transferdistanz dar: Die Transferdistanz ist eine Funktion der Ähnlichkeit von Aufgaben, und das Ausmaß der Ähnlichkeit wird durch das Ausmaß teilweise gleicher Elemente der Aufgaben definiert. Danach kann man dann – und nur dann – mit hilfreichem Transfer rechnen, wenn die neue Aufgabe Teile der zuvor gelernten Aufgabe enthält. Das ist vielleicht kein aufregender Transfer, wenngleich die Annahme solcher Übertragungsleistungen sinnvoll und notwendig ist und erst beim Ausbleiben dieser Transferleistung Enttäuschung entsteht. Wir werden aber sehen, dass gerade in neuerer Zeit der Transfer auf partiell gleiche Aufgaben große praktische Bedeutung gewonnen hat, insbesondere wenn es um das Training hochkomplexer Fertigkeiten geht.
In späteren Publikationen geht Thorndike über sein ursprünglich enges Konzept hinaus (Thorndike, 1913; 1979). Er unterscheidet dann zwei Arten von partieller Identität: neben der partiellen Identität des Stoffes auch die partielle Identität der Verfahren. Im letzten Fall kann es sich um stofflich ganz verschiedene Aufgaben handeln, die aber durch ein und dieselbe Verfahrensweise zu lösen sind, z. B. durch eine bestimmte Technik oder Strategie. Im vorliegenden Kapitel wird nur Thorndikes ursprüngliche Annahme betrachtet, wonach identische Elemente identische Teile der Aufgaben bedeuteten und Transfer nur zwischen partiell gleichen Aufgaben stattfindet.
Thorndike war schon sehr früh klar, dass er mit seinem Konzept der identischen Elemente in Widerspruch zu dem pädagogischen Prinzip der formalen Bildung geraten würde. Pädagogisch impliziert sein Ansatz, dass man von Transferleistungen nicht allzu viel erwarten darf und dass Lernende möglichst speziell auf die Anforderungen hin ausgebildet werden müssen, denen sie später gerecht werden sollen. Sind diese aber nicht bekannt, so kann man sie darauf auch nicht richtig vorbereiten. Diese skeptische Position wird gelegentlich auch heute wieder und teilweise sogar in intensivierter Form vertreten. Es handelt sich um die Bewegung des situierten Lernens, die behauptet, alles Lernen sei so eng an den situativen Kontext gebunden, in dem es stattgefunden hat, dass ein Transfer des Gelernten auf neue Aufgaben oder Probleme fast unmöglich ist (Rogoff, 1990; Lave & Wenger, 1991; Billett, 1996; Klauer, 1999a). Zum Beleg wird gern auf Beispiele verwiesen, bei denen Alltagshandeln und (besseres) Wissen auseinanderklaffen. Tatsächlich gibt es ausreichend Fälle, in denen jemand einen Vorgang wie die Rostbildung als eine Art langsame Verbrennung (Oxydation) erklären können müsste, stattdessen aber in vorwissenschaftlichen Alltagsvorstellungen verhaften bleibt. Der umgekehrte Fall kommt ebenfalls vor, dass jemand eine Leistung beherrscht, nur nicht in der Form, wie sie in der Schule verlangt wird. So berichten Carraher, Carraher und Schlieman (1985) von brasilianischen Straßenkindern, die jene Rechenaufgaben recht gut bewältigen, welche bei ihren Geschäften auf der Straße vorkommen, aber nicht damit zurecht kommen, wenn sie die mathematisch gleichen Aufgaben in der Schule formal nach den dort gültigen Verfahren lösen sollen (vgl. dazu auch Scribner & Cole, 1973). In diesen Fällen sind die Menschen nicht in der Lage, das Gelernte in anderen Zusammenhängen anzuwenden, eben weil sie es nicht in diesen Situationen und diesen Kontexten gelernt haben. Lerntransfer findet also nicht statt. Vertretern des situierten Lernens gilt diese Beschränkung als typisch für Lernvorgänge überhaupt.
2.2 Generalisierungsgradient und das Ähnlichkeitsparadox
Thorndikes Theorie der identischen Elemente wurde vor der kognitiven Wende oft in Untersuchungen mit sinnlosen Silben und vergleichbarem Material getestet. Im Lernversuch von Paar-Assoziationen wurden zwei Silben oder anderes wenig sinnhaltiges Material so miteinander verbunden, dass bei der Reizdarbietung mit der erwarteten Reaktion geantwortet werden konnte. Auf diese Weise ließ sich relativ gut die Ähnlichkeit der gebotenen Stimuli variieren.
So bot beispielsweise McKinney (1933) den Versuchspersonen immer eine von vier geometrischen Figuren an, wobei die Probanden auf jede Figur mit einem bestimmten Buchstaben reagieren mussten. Geübt wurde solange, bis die Assoziationen Figur-Buchstabe sicher beherrscht wurden. Darauf folgte die Transferphase. Die Figuren wurden systematisch abgewandelt. Es wurden nun abwechselnd teils sehr ähnliche, teils wenig ähnliche, teils ganz unähnliche Figuren geboten. Wie reagierten die Versuchspersonen? Bei sehr ähnlichen Figuren wurden die erwarteten Buchstaben genannt, und je verschiedener die Figuren wurden, desto seltener wurde der gelernte Buchstabe geäußert. Aus solchen Studien resultieren also Generalisierungsgradienten, wie sie in Abbildung 2.1 dargestellt sind. Ein solcher Gradient veranschaulicht die Beziehung zwischen der Häufigkeit des Transfers und der Transferdistanz, die zwischen den Aufgaben besteht.
Abb. 2.1: Generalisierungsgradient gemäß der Abweichung des neuen vom gelernten Stimulus (nach Osgood, 1962): die relative Häufigkeit der erwarteten Antwort als Funktion der Unähnlichkeit der Stimuli.
Ergebnisse genau dieser Art sind nach Thorndikes Konzept der identischen Elemente vorherzusagen. Normales Lernen stellt sich hier bei der Transferdistanz null dar, bei der die erwarteten Reaktionen relativ sicher eintreten. Mit zunehmend größerer Distanz wird Transfer immer seltener, also bei größer werdender Verschiedenheit der Aufgaben. Dadurch mag, wie oben erwähnt, bei den Forschern der Eindruck entstanden sein, dass Transfer ein seltenes Ereignis ist und zwar umso seltener, je stärker sich Lern- und Transferaufgaben unterscheiden.
In anderen Untersuchungen ging man dazu über, ebenfalls zunächst Stimulus-Response-Assoziationen lernen zu lassen, um danach lernen zu lassen, auf den bekannten Stimulus mit einer neuen Reaktion zu antworten. Diese kann der ursprünglich gelernten sehr ähnlich sein, sie kann aber auch ganz unähnlich, also neutral sein. Es ist denkbar, dass die neue Reaktion eine gegenteilige, ja antagonistische Antwort erfordert (z. B. statt mit der linken Hand nun mit der rechten Hand zu reagieren). Ist die neue Reaktion der gelernten sehr ähnlich, so erfolgt positiver Transfer. Sind Stimulus und Reaktion neu, findet keinerlei Transfer statt. Dies ist der Fall, wenn einfach Neues gelernt werden soll, das mit dem Früheren nichts zu tun hat. Soll zu einem Stimulus, der schon mit einer Reaktion assoziiert wurde, eine gänzlich neue oder gar antagonistische Reaktion gelernt werden, dann führt das rasch zu negativem Transfer. Seither gilt, dass Umlernen schwieriger ist als Neulernen.
Diese Zusammenhänge bezeichnete Osgood (1949) später als das Ähnlichkeitsparadox, das er in einem dreidimensionalen Transfermodell aufzulösen suchte: Je unähnlicher die Reize sind, desto kleiner wird der positive Transfer, und je unähnlicher die Reaktionen sind, desto größer stellt sich der negative Transfer dar. Danach wird Transfer nach Maßgabe der Ähnlichkeit der Stimuli einerseits und der Ähnlichkeit der Reaktionen andererseits erwartet, nur gegebenenfalls mit umgekehrten Vorzeichen. Für Aufgaben, bei denen es um das Erlernen von Paar-Assoziationen ging, bewährte sich das Modell vielfach.
Nach Thorndike darf es aber überhaupt keinen negativen Transfer geben. Seiner Annahme zufolge ist der Transfer entweder positiv – sofern nämlich identische Elemente in den Stimuli gegeben sind –, oder es gibt keinen Transfer. Die Existenz negativen Transfers widerlegt bereits Thorndikes ursprüngliche Vorstellung vom Transfergeschehen.
2.3 Neuere Studien zum Transfer bei partiell identischen Aufgaben
Lässt sich der Transfer auf Aufgaben, die partiell gleiche Elemente enthalten, auch bei komplexeren Aufgaben nachweisen? Im Laufe des 20. Jahrhunderts wurde eine Fülle von...