GUTE GENE, SCHLECHTE GENE UND SUPER-GENE
Was würden Sie in der Absicht, ein besseres Leben zu führen, als Erstes verändern? Praktisch niemand gäbe zur Antwort: »Meine Gene.« Aus gutem Grund. Denn die Gene, so hat man uns beigebracht, sind ein Fixpunkt, eine feste, unveränderliche Größe: Sie sind mit ihnen auf die Welt gekommen und werden sie ein Leben lang behalten. Sollten Sie ein eineiiger Zwilling sein, werden Sie und Ihre Zwillingsschwester beziehungsweise Ihr Zwillingsbruder sich beide darauf einstellen müssen, die gleichen Gene zu haben, egal wie gut oder schlecht die sind. Auch in unsere Alltagssprache hat die gängige Vorstellung von den unveränderlichen Genen Eingang gefunden. Warum sind manche Menschen im Übermaß mit Schönheit gesegnet oder außergewöhnlich intelligent? Sie haben gute Gene. Warum lässt sich andererseits eine weltberühmte Hollywood-Leinwandikone ohne das geringste Anzeichen einer Erkrankung beide Brüste amputieren? Aus Angst vor einer von schlechten Genen drohenden Gefahr, vor einer starken, seit Generationen in ihrer Familie zu verzeichnenden erblichen Veranlagung zu Brustkrebs. Die gleichen Medien, die die Öffentlichkeit damit in Schrecken versetzen, klären diese keineswegs darüber auf, wie selten eine solchermaßen drohende Gefahr tatsächlich vorkommt.
Die Zeit ist reif, derartige Vorstellungen ad absurdum zu führen. Ihre Gene sind nichts fest Umrissenes, sondern dynamische Gebilde, die auf alles reagieren, was Sie denken und tun. Ihre Aktivität unterliegt in hohem Maß unserem Einfluss. Das sollten wir begreifen. Dieser bahnbrechende Gedanke, eine Schlussfolgerung aus der neuen Genetik, markiert zugleich den Ausgangspunkt des vorliegenden Buches.
Eine Musikbox, die in einem Café in der Ecke steht und sich nie vom Fleck bewegt, kann dennoch Hunderte Songs spielen. Mit der »Musik« Ihrer Gene verhält es sich ähnlich. Unablässig produzieren sie eine Reihe von chemischen Substanzen, bei denen es sich um verschlüsselte Botschaften handelt. Was sie alles bewirken können, entdecken wir gerade erst. Indem Sie durch bewusste Entscheidungen gezielt die eigene Genaktivität beeinflussen, können Sie
sich in eine bessere Stimmung versetzen; verhindern, dass Sie Angst haben und niedergeschlagen sind
gegen den alljährlichen Schnupfen und sonstige Erkältungskrankheiten Abwehrkräfte entwickeln
wieder ganz normal, also tief und fest, schlafen
zu mehr Energie gelangen und einem Dauerstress standhalten
hartnäckige Schmerzen loswerden
sich von allerlei körperlichen Beschwerden befreien
den Alterungsprozess verlangsamen, ihn unter Umständen sogar umkehren
Ihren Stoffwechsel normalisieren – die beste Möglichkeit, Ihr Körpergewicht zu verringern und anschließend das niedrigere Gewicht zu halten
Ihr Krebsrisiko senken
Schon lange wurde vermutet, die Gene könnten mit im Spiel sein, wenn diesbezüglich etwas schiefläuft. Nunmehr aber wissen wir, dass die Gene auf jeden Fall dazu beitragen, solche Dinge wieder in Ordnung zu bringen. Das gesamte Geist-Körper-System wird durch die Genaktivität reguliert, oft auf ganz erstaunliche Weise. Beispielsweise betreffen die von den Genen in Ihrem Darm versendeten Botschaften alle möglichen Dinge, die mit einer so alltäglichen Aufgabe wie der Verdauung offenkundig in keinem Zusammenhang stehen. Diese Botschaften haben Auswirkungen auf Ihre Stimmungen, die Leistungsfähigkeit Ihres Immunsystems und Ihre Anfälligkeit für Gesundheitsprobleme, die entweder eng (wie etwa Diabetes und das Reizdarmsyndrom) oder auch nur ganz weitläufig mit der Verdauung zusammenhängen (wie zum Beispiel Bluthochdruck, die Alzheimerkrankheit und Autoimmunstörungen, von Allergien bis hin zu chronischer Entzündung).
Über die genetischen Botschaften spricht jede Zelle Ihres Körpers mit jeder anderen Zelle. Und Sie nehmen an diesem Gespräch unweigerlich teil. Ihr Lebensstil führt zu einer heilsamen oder zu einer schädlichen genetischen Aktivität. Potenziell kann jede starke Erfahrung in Ihrem Leben die Genaktivität verändern. Eineiige Zwillinge sind bei der Geburt zwar mit denselben Genen ausgestattet, weisen als Erwachsene jedoch eine höchst unterschiedliche Genexpression auf. Der eine Zwilling ist vielleicht übergewichtig, die Zwillingsschwester oder der Zwillingsbruder hingegen schlank. Möglicherweise leidet der eine Zwilling an Schizophrenie, der andere jedoch nicht. Der eine stirbt möglicherweise lange vor dem anderen. All diese Unterschiede werden durch die Genaktivität reguliert.
Wir wollen, dass Sie an Ihre Genaktivität höher gesteckte Erwartungen richten. Nicht zuletzt deshalb haben wir diesem Buch den Titel Super-Gene gegeben. Allerdings sollte man sich die Geist-Körper-Verbindung nicht wie eine Fußgängerbrücke vorstellen, die beide Ufer eines Flusses miteinander verbindet. Eher gleicht sie einer Telefonleitung, eigentlich zahlreichen Telefonleitungen, über die unwahrscheinlich viele Informationen hin und her schwirren. Und jede noch so unscheinbar wirkende Information wird überall im gesamten System empfangen, ob es nun um den Orangensaft geht, den Sie am Morgen trinken, um den ungeschälten Apfel, den Sie essen, um eine Verringerung des Geräuschpegels am Arbeitsplatz oder um den Spaziergang, den Sie vor dem Schlafengehen unternehmen. Jede Zelle vernimmt, was Sie denken, sagen und tun.
Die Optimierung Ihrer Genaktivität wäre alleine schon Grund genug, die kontraproduktive Vorstellung von den guten im Unterschied zu den schlechten Genen, mit der Sie sich wahrhaft keinen Gefallen tun, über Bord zu werfen. Tatsächlich aber hat sich unser Verständnis des menschlichen Genoms, der Gesamtheit aller in Ihrem Erbgut enthaltenen Gene, im Verlauf der letzten beiden Jahrzehnte enorm erweitert. 2003 endete das Humangenomprojekt nach nahezu zwanzigjähriger Forschung und Entwicklung mit einer vollständigen Kartierung der drei Milliarden chemischen Basenpaare – dem Alphabet des Lebenscodes –, die sich als DNS-Doppelhelix in jeder Zelle spiralförmig umeinanderwickeln. Auf einmal befindet sich das menschliche Dasein auf dem Weg zu völlig neuen Zielen. Als hätte uns jemand die Landkarte eines noch unentdeckten Kontinents in die Hand gedrückt. In einer Welt, in der es vermeintlich kaum noch Neues zu erkunden gibt, erschließt uns das menschliche Genom ganz neue Territorien.
Wir möchten Ihnen klarmachen, was der Bereich der Genetik heute tatsächlich alles umfasst: Sie verfügen über ein Super-Genom, das die herkömmlichen schulbuchmäßigen Vorstellungen von guten und schlechten Genen weit in den Schatten stellt. Zu diesem Super-Genom gehören drei Bestandteile:
- Die rund 23 000 Gene, die Sie von Ihren Eltern geerbt haben. Hinzu kommt die zu 97 Prozent auf den Strängen der Doppelhelix zwischen diesen Genen befindliche DNS.
- Die in jedem DNS-Strang angesiedelte Umschaltfunktion, mit deren Hilfe die DNS an- und ausgeschaltet oder aber hochreguliert und runterreguliert werden kann, ähnlich wie man mit einem Dimmerschalter dafür sorgt, dass das Licht einer Lampe heller oder dunkler leuchtet. Gesteuert wird diese Funktion grundsätzlich durch Ihr Epigenom, einschließlich der Pufferproteine, welche die DNS wie ein Umschlag umhüllen. Das Epigenom mit seinen komplexen und faszinierenden Reaktionen auf Ihre Erfahrungen ist genauso dynamisch und lebendig wie Sie.
- Die Gene, die in den Mikroben Ihrer Darm-, Mund- und Hautflora, insbesondere aber Ihrer Darmflora, enthalten sind. Die Anzahl dieser »Darmmikroben« ist ungleich größer als diejenige Ihrer Körperzellen. Wir beherbergen schätzungsweise einhundert Milliarden Darmmikroben in uns, zu denen zwischen 500 und 2000 Bakterienspezies zählen. Und diese Mikroben sind keineswegs »Fremdkörper« für uns. Wir und sie haben uns über Jahrmillionen hinweg gemeinsam entwickelt. Ohne sie wären Sie heutzutage zu einer gesunden Verdauung der Nahrung nicht in der Lage, wären außerstande, Krankheiten zu überstehen, und hätten vielen chronischen Störungen, von Diabetes bis hin zu Krebs, nichts entgegenzusetzen.
Das – alle drei Komponenten des Super-Genoms – sind Sie. Es sind sozusagen die Bausteine, aus denen Sie bestehen, und genau jetzt im Augenblick versenden die Bausteine überall in Ihrem Körper Instruktionen. Wer Sie sind, können Sie in der Tat nicht wirklich erfassen, ohne Ihr Super-Genom zu verstehen. Wie die Super-Gene zueinandergefunden haben, um das Geist-Körper-System zu formieren, diese Frage umreißt das spannendste Forschungsgebiet in der heutigen Genetik. In einer wahren Flut von Erkenntnissen, die uns alle betreffen, tauchen neue Forschungsergebnisse auf. Das verändert die Art und Weise, wie wir leben, lieben und unseren Platz in der Welt begreifen.
Vereinfachend lässt sich die neue Genetik so zusammenfassen: Wir lernen, wie wir unsere Gene dazu bringen können, uns zu unterstützen. Anstatt zuzulassen, dass Ihre schlechten Gene Ihnen schaden und Ihre guten Gene Ihnen eine Verschnaufpause im Leben verschaffen – so die früher vorherrschende Auffassung –, sollten Sie im Super-Genom einen bereitwilligen Diener sehen, der Ihnen helfen kann, das Leben zu führen, das Sie gern leben möchten. Sie sind geboren worden, damit Sie sich Ihrer Gene bedienen, nicht umgekehrt. Wir geben uns hier wahrhaftig nicht einem Wunschdenken und der Erfüllung von Wunschträumen hin. Vielmehr geht es in der neuen Genetik schlicht und einfach darum, die Genaktivität zum Vorteil zu verändern.
Super-Gene fasst die wichtigsten uns heute vorliegenden Forschungsergebnisse zusammen, um anschließend näher auf...