Gesunde Gelenke
Wenn wir von Gelenken sprechen, meinen wir bewegliche Verbindungen zwischen einem oder mehreren Knochen. Davon gibt es in unserem Körper gleich mehrere Hundert, und ein großer Teil von ihnen sind einfache, »unechte« Gelenke, auch Haften genannt. Dabei handelt es sich um knorpelige oder bindegewebige Verbindungen, die übrigens aufgrund der Einfachheit ihrer Beschaffenheit sehr robust und nur selten von krankhaften Veränderungen betroffen sind. 99% der Gelenkbeschwerden spielen sich nämlich im Bereich der »echten« Gelenke ab. Diese haben einen Gelenkspalt, und die Enden der Knochen sind mit Knorpel überzogen, um Druck und Stoß auffangen und abfangen zu können. Zugleich müssen sie glatt sein, denn nur so sind geschmeidige Bewegungen möglich.
Die echten Gelenke sind entwicklungsgeschichtlich gesehen Neuentwicklungen, vielleicht nicht gerade Prototypen, kommen aber doch erst seit einigen Hundert Millionen Jahren bei Lebewesen vor und werden von der Evolution wahrscheinlich in Zukunft noch einige Updates erhalten müssen, um weniger krankheitsanfällig zu sein. Die gegenwärtige Konstruktion sieht so aus: Diese Gelenke haben eine bindegewebige Kapsel, die das Innere schützt und ihm auch eine gewisse mechanische Stabilität verleiht. Die Innenseite der Kapsel ist weich und feucht. Sie produziert die Gelenkschmiere, ein hoch kompliziertes Stoffgemisch, das nicht nur die Knorpeloberfläche glatt halten, sondern auch den Knorpel nähren soll. Die Gelenkschmiere in ihrer Menge und Zusammensetzung hat einen großen Einfluss auf das Wohlergehen eines Gelenks. Die Knochenenden sind mit einem Knorpel überzogen, zum Großteil handelt es sich dabei um hyalinen Knorpel, der chemisch gesehen zu 70% aus Wasser besteht, der Rest sind schwefelreiche, saure Proteoglykane, darunter die Hyaluronsäure. Der Knorpel hat keine Nerven und keine Blutgefäße, weshalb es für den Körper schwierig ist, Knorpelschäden zu registrieren und mit seinen Reparaturmechanismen zu beheben.
Wenn wir Gelenke, ihre Bedeutung und ihre Aufgaben für den menschlichen Körper verstehen wollen, sollten wir jetzt mal einen Schritt zurücktreten und einen Blick auf alle Lebewesen werfen, beginnend mit Einzellern, die entwicklungsgeschichtlich noch zwischen der Tier- und Pflanzenwelt stehen und aus denen heraus sich die Komplexität der Lebewesen dieser Erde entwickelt hat. Wir erkennen bei dieser Betrachtungsweise sehr rasch, dass das Leben auf der Erde über Hunderte Millionen von Jahren ganz ohne Gelenke auskam. In der Mehrzahl waren es Pflanzen, die sich an ihrem Standort verwurzelten, ihr Leben an dieser Stelle zubrachten und je nach Umfeldbedingungen gediehen oder verdarben. Sie konnten sich nur insofern differenzieren, als sie im Laufe der Zeit lernten, sich gegen Unwirtlichkeiten durch bestimmte Maßnahmen zu wappnen wie zum Beispiel durch die Einlagerung von Mineralien. Andere Maßnahmen bestanden darin, den Stoffwechsel so zu entwickeln, dass Farb- oder Lockstoffe entstanden, die manche Tiere anlockten, deren Beweglichkeit die Pflanzen für sich nutzen lernten. Oder es entstanden Giftstoffe, mit denen sich diese beweglichen Tiere abwehren ließen. Fortpflanzung und Ausbreitung dieser Pflanzenarten konnten nur stattfinden, indem man sich der Beweglichkeit des Windes anvertraute, seine Samen verstreute oder sie in Früchte packte, die von beweglichen Tieren gegessen und wieder ausgeschieden wurden.
Man kann sich den Neid einer Pflanze auf diese Fortbewegungsmöglichkeit der Tiere vorstellen, denn mit der Beweglichkeit ist eine höhere Form des Lebens möglich, tun sich für die Tiere, die damit ausgestattet sind, neue Horizonte auf, erschließen sich neue Welten. Die Beweglichkeit eines Lebewesens aber hängt direkt mit der Ausbildung von Gelenken zusammen, denn ohne sie wird man sich wie beispielsweise die Qualle im Wesentlichen Meeresströmen anvertrauen müssen, um weiterzukommen, oder man muss sich wie die Schnecke auf einen kleinen Radius beschränken, der nur sehr langsam und in langen Zeitabläufen überwunden werden kann. So gab es also im Laufe der Entwicklung der Lebewesen anfänglich ganz primitive Gelenke, die sich aus bindegewebigen Verbindungen heraus entwickelten, und auch dann, sobald beispielsweise ein Gelenkkopf mit einer Pfanne zusammentraf, nur geringe Bewegungsumfänge zuließen.
Von dort bis hin zu den Möglichkeiten der Gelenke, die die heutigen Säugetiere oder Vögel aufweisen, ist es ein langer Weg, und dieser führt zu dem am höchsten entwickelten Säugetier, dem Menschen. Er hat mit seinem Daumensattelgelenk – wie einige Affenarten auch – ein Gelenk, das es ihm ermöglicht, mit seinen Händen sehr differenziert umzugehen: Werkzeuge zu halten, Waffen zu führen, grobmotorisch wie auch feinmotorisch vorzugehen, zu zeichnen, zu malen, Dinge zu fertigen. Der Mensch geht aufrecht und hat in vielen seiner Gelenke, selbst in der noch relativ unbeweglichen Wirbelsäule, einen erstaunlichen Bewegungsradius. Vergleichen Sie damit das relativ ungelenke Schwein, das sich doch genetisch kaum vom Menschen unterscheidet, und Sie beginnen zu staunen. Sicherlich ist auch das Gehirn des Menschen höher entwickelt als das der anderen Säugetiere, doch ein noch wichtigerer Unterschied sind seine Gelenke und ihre eindrucksvolle Nutzbarkeit, die auch über jene nah verwandter Affenarten hinausgeht.
Die Härte des Gelenkknorpels hängt neben der guten Ausstattung mit Glykosaminoglykanen auch von der Fähigkeit ab, Calcium zu nutzen. Die Härte des Knochens, die den Muskeln Halt und Bewegungsspiel erlaubt, beruht ebenfalls auf der Fähigkeit, Calcium aus der Erdkruste aufzunehmen. Diese Fähigkeit haben Lebewesen erst vor etwa 400 Millionen Jahren entwickelt, also über vier Milliarden Jahre nach der Entstehung der Erde und mehr als zwei Milliarden Jahre nach der Entstehung des Lebens. So beginnt die Geschichte der Gelenke eigentlich erst mit der der Wirbeltiere.
Die individuelle Entwicklung des Menschen im Mutterleib ahmt diese große Entwicklungsgeschichte der Lebewesen nach, und eine Spur davon findet sich auch in der ersten Zeit nach der Geburt, während der das Baby sehr wenig Bewegungsmöglichkeiten hat und vornehmlich im liegenden Zustand erst langsam lernt, Haltung und Festigkeit seiner Strukturen zu üben und seine Gelenke zu benutzen, um die Welt zu erfahren, zu beeinflussen und sich in dieser Welt fortzubewegen.
Wenn man die anfängliche Hilflosigkeit des Babys aufgrund seiner mangelnden Mobilität unter dem Einfluss der Schwerkraft betrachtet und das mit Menschen vergleicht, die an der schwerwiegendsten Form der Gelenkerkrankung, der rheumatoiden Arthritis, erkrankt sind, erkennt man im Rheuma eine mächtige Metapher für die Rückkehr zu einem »pflanzenartigen« Zustand des Lebendigseins und als Rückschritt des Erwachsenen in den »babyhaften« Zustand, den er zu Lebensbeginn erlebte. Nicht mehr handeln und nicht mehr für sich sorgen zu können wird hier aufgrund der zunehmenden Steifigkeit oder Instabilität der Gelenke zum Fluch der Machtlosigkeit. Dadurch verstehen wir auch, was gesunde Gelenke für unsere Seele bedeuten: Freiheit, die Kraft, etwas zu gestalten, zu beeinflussen, tätig zu werden. Durch unsere Wirbelsäule werden wir »selbstständig«, durch die Gelenke der Extremitäten gewinnen wir Handlungsfähigkeit.
Der Mensch ist jenes Lebewesen, das sich durch die Beweglichkeit seiner Gelenke am weitesten von der Wesenhaftigkeit der Pflanze entfernt hat. Überlegen ist er anderen Tieren keinesfalls durch die Größe oder Leistungsfähigkeit seines Gehirns, wie früher vermutet wurde, wohl aber in Bezug auf seine Gelenke. Hier hat er ein Alleinstellungsmerkmal, ist die exponierteste Spitze der Entwicklung des Lebens auf unserem Planeten. Er nennt 143 echte Gelenke sein Eigen, und einige davon sind Hochtechnologie der Natur, was auch erklären könnte, warum seine Gelenke insgesamt weit störanfälliger sind als die anderer Säugetiere und warum es praktisch keinen Menschen im hohen Alter gibt, der gar keine Gelenkveränderungen und -beschwerden hat. Das betrifft vor allem das Kniegelenk, das in der Regel bei den meisten von uns schon in der Mitte des Lebens erste Störanzeichen vermittelt. Es mag auf den ersten Blick einem einfachen Scharniergelenk wie den Fingergelenken ähneln, doch im Zusammenspiel mit der Kniescheibe wird es unglaublich komplex in seiner Funktionalität, kann im gestreckten Zustand großes Gewicht tragen und ermöglicht erst dadurch den zweibeinigen Stand und Gang. Und erst durch diese Stabilität des Kniegelenks haben wir die Arme und Hände frei bekommen. Je mehr wir das Kniegelenk aber beugen, desto größer werden auch seine Bewegungsmöglichkeiten. Man entdeckt die Fähigkeiten des Kniegelenks zum Beispiel sehr gut beim Klettern, wo es verschiedenste Fußdrehungen ermöglicht. Oder: Welches andere Lebewesen beherrscht denn sonst den Schneidersitz bis hin zum Lotussitz, den wir vom Yoga kennen? Sicherlich nicht das Schwein, das uns doch genetisch so ähnlich ist, dass unser Immunsystem die knorpeligen Herzklappen eines Schweins anstandslos als unsrige akzeptiert. Das Knie eines Schweins gibt Stabilität im Laufen, aber gebeugt ist es eine primitive Vorstufe eines menschlichen Kniegelenks ohne dessen Möglichkeiten.
Nachdem Beweglichkeit so eng mit unserem Ich und unserer Einzigartigkeit verbunden ist, ergibt sich für uns als beweglichstes Lebewesen aber auch eine starke psychosomatische Komponente für die Entstehung von Gelenkkrankheiten. Es ist ein Erkranken aus der Empfindung heraus, die Freiheit, die Ungebundenheit, die Möglichkeit, sich zu entfalten, in seinem Leben nicht ausleben zu können. Und dabei kann es so weit kommen, dass man seine Gelenke zum »Theaterschauplatz« dieser Befindlichkeit macht. Wie häufig sieht man dann...