Einleitung
Frühsommer 2011. Auf dem Dach eines Hotels in Beirut wird gefeiert. Michael Jansen, langjährige Korrespondentin der Irish Times im Mittleren Osten, hat Freundinnen und Freunde eingeladen, die sie persönlich und beruflich ein halbes Jahrhundert begleitet haben. So lange lebt und arbeitet sie schon in der arabischen Welt. Die Diskussionen drehen sich um den »Arabischen Frühling« und besonders um die Ereignisse in Syrien, wo seit März eine Protestbewegung das Land und die ganze Region in Atem hält. Alle Gäste haben familiäre und/oder berufliche Verbindungen mit Syrien. Bald gehen die Erinnerungen zurück in eine Zeit, als noch keine Grenzen den Libanon und Syrien trennten, als es den Staat Israel noch nicht gab. Als man noch von Damaskus auf einen Besuch nach Jerusalem fahren konnte und Eltern in Bagdad, Damaskus oder Bethlehem ihre Kinder, auch ihre Töchter, zum Studium an die Amerikanische Universität (AUB) nach Beirut schickten, wenn sie es sich leisten konnten.
Michael Jansen – ihr Vater hatte sie »Michael« genannt, weil er eigentlich einen Jungen haben wollte – war 1961 als junge Politikstudentin aus den USA nach Beirut gekommen, um beim UN-Hilfswerk für palästinensische Flüchtlinge (UNWRA) ein Praktikum zu machen. Die Organisation war am 8. Dezember 1949 vom UN-Sicherheitsrat gegründet worden, um palästinensische Flüchtlinge zu unterstützen. 700 000 Palästinenser waren heimatlos geworden, als der Staat Israel 1948 gegründet wurde.
Michael schloss ihr Grundstudium in den USA ab und kehrte nach Beirut zurück, an die AUB. Sie lernte ihren Ehemann kennen, der Korrespondent des Economist war, eine Tochter wurde geboren. Den Beginn des libanesischen Bürgerkrieges 1975 erlebte die Familie in einem kleinen Dorf in den Bergen östlich von Beirut. Mörsergranaten flogen aus allen Richtungen mal über das Dorf hinweg, mal in das Dorf hinein. Die Fahrt nach Beirut, von wo ihr Mann und sie ihre Berichte verschicken mussten, wurde lebensgefährlich. 1976 floh die Familie nach Zypern. Nach dem Tod ihres Mannes blieb sie dort und bereist bis heute unermüdlich den »Muddle East«, wie sie manchmal scherzhaft sagt: den verworrenen Osten.
Anfang der 1960er-Jahre war die Zeit der Ost-West-Konfrontation, aber auch der politischen Aufbrüche. In Berlin wurde die Mauer gebaut, Europa wurde geteilt. USA und UdSSR, die NATO und der Warschauer Block rüsteten auf. Auch in der arabischen Welt waren die Auswirkungen dieser Konfrontationen zu spüren. Der arabische Nationalismus begeisterte die Massen, die den Verrat von Briten, Franzosen und den USA nicht vergessen hatten: Die Teilung der Region nach dem Ersten Weltkrieg, die französische und die britische Mandatsherrschaft, die Verweigerung der selbstständigen Entwicklung einer arabischen Nation und die westliche Hilfe bei der Gründung des Staates Israel, die Hunderttausende Palästinenserinnen und Palästinenser heimatlos gemacht hatte. Doch es gab auch politische und wirtschaftliche Eliten, die nicht ihre Rechte durch Israel, sondern ihren Besitzstand durch den Aufbruch der arabischen Massen gefährdet sahen. Die christliche Gemeinschaft der Maroniten hatte seit Langem einen eigenen Staat gewollt und nicht nur in Frankreich ihre Schutzmacht gefunden. Für sie schien der arabische Nationalismus eine Bedrohung.
Die junge Generation in den arabischen Ländern aber war begeistert, es herrschte Aufbruchstimmung. Die AUB in Beirut brodelte. Ständig wurde gelesen und diskutiert, kaum ein Ort in der Levante, wo die unterschiedlichen Interessen von Ost und West so sehr aufeinanderprallten. Doch jenseits des politischen Blockdenkens entstand ein dichtes, buntes Gewebe von Menschen, die von den großen Ideen der damaligen Zeit überzeugt waren: dem nationalen Unabhängigkeitskampf kolonisierter Völker, Gleichberechtigung der Frauen und von der Überwindung der Grenzen zwischen dem reichen Norden und dem abhängig gehaltenen Süden, vom gerechten Frieden.
Die meisten Gäste an diesem Frühsommerabend 2011 haben sich in dieser Zeit an der AUB in Beirut kennengelernt.
Sofia Saadeh, die Tochter von Antoun Saadeh, der in den 1930er-Jahren gegen das französische Mandat, für ein Großsyrien und die Gleichberechtigung aller dort lebenden Menschen eingetreten war, ungeachtet ihrer Herkunft und Religion.
Sawsan Jabri, deren Vater Rashad Jabri Anfang der 1950er-Jahre Gouverneur von Damaskus war. Ihr Elternhaus, ein geräumiges altes Damaszener Haus mit einem großen Innenhof, Orangenbäumen und einem Brunnen, steht im Herzen der Altstadt und ist heute ein viel besuchtes Restaurant.
Rosemary Sayigh, die mit ihrem Ehemann, dem Wirtschaftswissenschaftler Yusif Sayigh, zu den genauesten Chronisten palästinensischer Politik und palästinensischen Lebens gehört.
Anni Kanafani, die mit einer Stiftung für Kinder an den palästinensischen Schriftsteller Ghassan Kanafani erinnert. Das Paar hatte 1961 geheiratet, Ghassan Kanafani wurde 1972 durch eine Autobombe in Beirut ermordet.
Nora Shawwa, Palästinenserin aus Gaza, vertrieben 1967. Sie lebte in Kuwait mit ihrer Familie und wurde 1991 infolge des Irakkrieges aus dem Emirat vertrieben. Auf Zypern konnte sie mit einem Verlag eine neue Existenz gründen. Mit Romanen und Büchern zum Zeitgeschehen, mit Kinder- und Kunstbüchern hält sie die Erinnerung an ihre palästinensische Heimat, Geschichte, Kultur des Mittleren Ostens und des östlichen Mittelmeerraumes lebendig.
Da ist Ma Radi aus Bagdad, die nach Beirut gekommen war, als ihr Mann in den 1950er-Jahren irakischer Botschafter im Libanon war. Sie hat einen Korb voller süß duftender Gardenien mitgebracht, die sie an alle verteilt, während sie sich selbst einige ins Haar gesteckt hat.
Nicht gekommen sind andere Freundinnen aus Bagdad, aus der Familie Gailani, Nachfahren des Islamgelehrten, Sufi und Gründers des Qadiriya-Ordens im 12. Jahrhundert. Amal Gailani, die Tochter von Rashid Ali, der in den 1940er-Jahren eine Revolte gegen die britische Mandatsmacht im Irak führte. Und Lamia Gailani, Archäologin, die nach der Plünderung des irakischen Nationalmuseums in Bagdad 2003 geholfen hatte, die Schäden zu dokumentieren.
Und auch George Jabbour und seine Frau Mariya aus Damaskus haben sich entschuldigt. Sie wollten in der Zeit der Unruhe ihre Heimat nicht verlassen.
Syrien, Irak, Libanon, Palästina – für die Festgesellschaft an diesem Abend sind diese Länder ihre Heimatländer, auch für die Zugereisten, die nach ihrer Ankunft in der Levante blieben. »Jeder Mensch hat zwei Zuhause«, so ein syrisches Sprichwort, »das erste ist das Geburtsland, das zweite ist Syrien.« Gemeint ist damit vielleicht am ehesten ein Gespür, eine Offenheit, Distanz und Freundlichkeit zugleich, die dem Fremden in Syrien begegnet, wenn er dafür offen ist.
Jeden willkommen zu heißen, ist Tradition in dieser Region, die man einst den »Fruchtbaren Halbmond« genannt hat. Dieses Gebiet erstreckt sich vom Nildelta entlang der östlichen Mittelmeerküste über Palästina und Syrien nach Norden, zieht sich über die beiden großen Wasserläufe Euphrat und Tigris nach Osten und Süden durch Mesopotamien, das »Land zwischen den zwei Strömen«, den heutigen Irak, bis dorthin, wo beide Flüsse vereint als Schatt al-Arab (Küste der Araber) in den Golf fließen. Das Gebiet hat die Form eines Halbmondes und war wegen seines Wasserreichtums Ursprung menschlicher Zivilisation und Hochkulturen. Handelsstraßen verbanden das Mittelmeer mit dem fernen Osten (Seidenstraße) und den Süden der Arabischen Halbinsel mit dem Mittelmeer (Gewürzstraße). Altertümer, die in Jahrzehnten in mühsamen Ausgrabungen zutage gefördert wurden, legen Zeugnis über die Entstehung und den Untergang großer Reiche ab. Das über Jahrtausende entstandene Wissen in Medizin, Astronomie, Architektur, Schrift, Kunsthandwerk, Wasserwirtschaft und Rechtswesen eigneten sich Römer, Griechen und schließlich auch die Europäer an. In der Kultur des »Fruchtbaren Halbmondes« sind die Erfahrungen tief verankert.
Jeder neue Griff nach der Region – ob durch Krieg, Plünderung, Besiedlung oder Besatzung, durch Grenzen, die gezogen oder wieder aufgehoben werden – droht, diese Erfahrungen, diese Kultur zu zerstören. Die Gäste an diesem Abend 2011 haben es an sich selbst oder in ihrer Familie erlebt. Keiner lebt mehr in seiner ursprünglichen oder – als Zugereiste – in der gewählten »zweiten« Heimat, durch Gewalt haben sie Angehörige und Freunde verloren. Fast alle wurden durch neue und willkürliche Grenzen, Krieg und Verfolgung vertrieben. Sie haben Aufbrüche, Umbrüche und viel Ungerechtigkeit erlebt, das Gegenteil von dem, wofür sie als junge Studierende angetreten waren. Doch alle sind geblieben. Ob im Herzen, in Gedanken, durch die Arbeit oder weil sie hier wohnen: Hier ist ihr Zuhause, solange sie leben. Und – wenn ihre Geschichte erzählt wird – auch darüber hinaus. Wer die...