Was ist ein Massenmörder?
Wenn Menschen, die eine gleiche Erziehung genossen haben wie ich, die gleichen Worte sprechen wie ich und gleiche Bücher, gleiche Musik, gleiche Gemälde lieben wie ich – wenn diese Menschen keineswegs gesichert sind vor der Möglichkeit, Unmenschen zu werden und Dinge zu tun, die wir den Menschen unserer Zeit, ausgenommen die pathologischen Einzelfälle, vorher nicht hätten zutrauen können, woher nehme ich die Zuversicht, daß ich davor gesichert sei?
Max Frisch, 1946
Als die Hauptkriegsverbrecher, unter ihnen Hermann Göring, Rudolf Hess, Albert Speer, Hans Frank und Julius Streicher, im Nürnberger Gefängnis saßen, galt ihrer psychischen Verfassung erhebliches Interesse: Was waren das für Leute, die das größte Menschheitsverbrechen der Geschichte jeder auf seine Weise geplant und durchgeführt hatten, die die Entwürfe für das Großdeutsche Reich, für seine Hauptstadt Germania, für die Niederwerfung des Bolschewismus, die Vernichtung der Juden, des »Untermenschentums« überhaupt, vorbereitet und veranlasst hatten? Die Maßstabslosigkeit der nationalsozialistischen Verbrechen ließ den Schluss nahe liegend erscheinen, dass man es mit psychologisch irgendwie auffälligen Persönlichkeiten zu tun haben müsste, und die Vorstellung, dass die Verantwortlichen für den millionenfachen Mord, psychologisch betrachtet, ganz normale Männer hätten sein können, wäre den meisten Zeitgenossen auch angesichts der gelegentlich operettenhaften oder bizarren Züge, die die NS-Führungselite in Gestalt etwa von Hermann Göring, Joseph Goebbels oder Rudolf Hess zeigte, als völlig absurd erschienen. Entsprechend wurden die Angeklagten sorgfältig psychologisch untersucht, mit Hilfe von Interviews, Beobachtungen und Tests. Der in Nürnberg zunächst verantwortliche Gerichtspsychologe Douglas Kelley notierte 1946: »Das erhobene Material enthielt Rorschachtests in vollständiger Form, dazu zahlreiche verwandte Persönlichkeitstests sowie sorgfältige psychiatrische Beobachtungen, graphologisches Material, Intelligenztests.« [1]
Kelleys Interesse galt den Ergebnissen dieser Rorschachttests, jenes damals als höchst zuverlässig betrachteten projektiven Verfahrens, bei dem Patienten oder Versuchspersonen amorphe Tintenklecksbilder unter verschiedenen Aspekten zu interpretieren hatten. Je nach den protokollierten Assoziationen – welche Tiere etwa in den abstrakten Bildern gesehen werden, wofür Schattierungen stehen, ob die Probanden vom Detail oder vom Ganzen ausgehen usw. – meinen versierte Psychologen, Aufschluss über die psychische Befindlichkeit und die Persönlichkeit der Testpersonen ziehen zu können. Die Hoffnung, etwas über die Geistesverfassung der Hauptkriegsverbrecher gerade mit Hilfe der Rorschachtests herausfinden zu können, zeigte sich besonders darin, dass Kelley beabsichtigte, das erhobene Material »führenden Rorschachexperten [zuzusenden] und später ihre Gutachten zusammenzuführen, um ein möglichst klares Bild dieser Individuen zeichnen zu können – der schlimmsten Verbrechergruppe, die die menschliche Gattung jemals kennengelernt hat.« [2]
Es sollte noch ein Jahr dauern, bis Kelleys Absicht in die Tat umgesetzt wurde. Dann wurden zehn führende Rorschachexperten mit der Bitte angeschrieben, »signifikante Charakteristika dieser Menschen herauszuarbeiten, um die Untersuchungen der weniger erfahrenen Psychologen zu ergänzen«, die in Nürnberg vor Ort mit den Angeklagten konfrontiert gewesen waren. [3]Das Ergebnis war durchaus verblüffend. Obwohl es sich doch um ein absolut einzigartiges Fallmaterial handelte, schien das Interesse der Experten äußerst gering. Genauer gesagt: Kein einziger der zehn Experten kam der Aufforderung nach, ein Gutachten zu erstellen; die Entschuldigungen, falls solche formuliert wurden, waren lau: Man hatte keine Zeit, kam gerade nicht dazu oder sah sich mit unvorhergesehenen privaten Problemen konfrontiert.
Diese offenbar unabgestimmte, aber völlig einheitliche kollektive Verweigerung der Experten hatte allerdings einen tieferen Grund, der selbst etwas mit dem Untersuchungsmaterial zu tun hatte. Wie Molly Harrower, die zu dem Kreis der eingeladenen Gutachter gehörte, dreißig Jahre später schrieb, waren sich die Experten nur allzu klar über die Erwartung der Öffentlichkeit gewesen, dass die Tests eine einzigartige Psychopathologie aufdecken würden, eine den Nazis »gemeinsame Persönlichkeitsstruktur von besonders abstoßender Art«. [4]Aber genau die war in dem übersandten Material nicht zu entdecken, und diese Botschaft mochten die Experten der Welt offenbar nicht überbringen. Lediglich Kelley selbst hatte den Mut, in seinem abschließenden Statement die so schlichte wie dramatische Schlussfolgerung zu formulieren: »Aus unseren Befunden müssen wir nicht nur schließen, dass solche Personen weder krank noch einzigartig sind, sondern auch, dass wir sie heute in jedem anderen Land der Erde antreffen würden.« [5]
Nun hat dieser ernüchternde Befund, wie wir wissen, den Wunsch nicht versiegen lassen, dass man über die abnorme Geistesverfassung der NS-Verbrecher doch irgendetwas herausfinden möge, was eine Erklärung für das liefere, was sie getan bzw. verantwortet hatten. Theodor W. Adorno etwa, der Psychoanalyse deutlich stärker zugeneigt als psychologischen Tests, regte in seinem Essay »Erziehung nach Auschwitz« an, »die Schuldigen an Auschwitz mit allen der Wissenschaft verfügbaren Methoden, insbesondere mit langjährigen Psychoanalysen, zu studieren, um möglicherweise herauszubringen, wie ein Mensch so wird.« [6]Es wäre wohl nicht viel dabei herausgekommen. Wie Kelley konstatierten George Kren und Leon Rappoport 1980 in einer Untersuchung über die Psychologie des SS-Personals, dass ihrer Überzeugung nach die überwiegende Mehrheit der SS-Männer, sowohl innerhalb der Führung als auch der Mannschaften, mit Leichtigkeit die psychologischen Eignungstests der amerikanischen Armee oder der Polizei von Kansas City passiert hätten. Sie schätzen auf der Grundlage von Zeugenaussagen, dass nach klinischen Kriterien allenfalls zehn Prozent der SS-Männer als pathologisch einzustufen gewesen wären. [7]Die Ratlosigkeit, die einen angesichts dieser Unauffälligkeit der Täter befallen mag, kommt prägnant in dem zum Ausdruck, was ein Gutachter 1961 über Adolf Eichmann gesagt hat: nämlich, dass er normal sei. Und er fügte hinzu: »normaler jedenfalls, als ich es bin, nachdem ich ihn untersucht habe.« [8]
Aber wie Adorno und viele andere hat auch Molly Harrower die Frage, wes Geistes Kind die Täter waren, nicht ruhen lassen. 1974 holte sie das Nürnberger Material wieder hervor und unterzog es mit ihrem in nunmehr drei Jahrzehnten angesammelten Knowhow einer erneuten Analyse – wobei sich wiederum ein uneinheitliches Bild zeigte. Während etwa Hess emotionale Auffälligkeiten aufwies und Ribbentrop klare Anzeichen einer Depression zeigte, die aber wohl eher mit seinen trüben Zukunftsaussichten als mit seiner Vergangenheit zu tun hatten, wiesen andere Täter das Profil von in jeder Hinsicht psychisch gesunden Persönlichkeiten auf – angesichts des Schicksals, das sie zum Zeitpunkt des Tests noch erwartete, ein bemerkenswerter Befund. Harrower wollte es nun aber noch einmal genauer wissen und forderte 15 Rorschachexperten auf, das Material zu sichten und zu bewerten – dieses Mal freilich mit einer entscheidenden methodischen Änderung: Während die Experten 1947 wussten, von welchen Personen das Material stammte, wählte Harrower nun acht Tests aus der Gruppe der Hauptkriegsverbrecher aus, anonymisierte die Urheber und kombinierte es mit analogem Testmaterial von acht Personen aus anderen Untersuchungen. Dieses Paket übersandte sie mit der Bitte an die Gutachter, sie mögen herausfinden, ob sich die sich zeigenden Persönlichkeitsprofile erkennbar unterschieden und sich womöglich zu bestimmten Personengruppen zusammenfügen bzw. zuordnen ließen.
In diesem Fall erstatteten zehn der aufgeforderten Sachverständigen ausführliche Gutachten (drei hatten aus verschiedenen Gründen abgelehnt, zwei nie geantwortet), mit dem Ergebnis, dass kein einziger auch nur eine entfernt zutreffende Vorstellung davon entwickelte, mit welcher Art Personen er es zu tun hatte. Im Gegenteil: Die Hypothesen, um welche Gruppen es sich bei denjenigen handelte, die in den Tests am eindrucksvollsten abgeschnitten hatten, reichten von Bürgerrechtlern bis zu höchst intelligenten, fantasievollen und tatkräftigen Persönlichkeiten – und wohl nicht zuletzt dieser Eigenschaften wegen äußerte einer der Gutachter denn auch die Vermutung, es würde sich wahrscheinlich um Psychologen handeln.
Barry Ritzler, der 1978, angeregt durch die Veröffentlichung Harrowers, selbst eine subtile Re-Analyse von 16 originalen Tests veröffentlichte, kam zu dem Ergebnis, dass die einzige Auffälligkeit bei den Angeklagten in einem eher geringen Empathiepotential bestand, resümierte aber insgesamt, dass sich keinerlei klinische Auffälligkeiten finden ließen. [9]Allerdings, so Ritzler, entsprächen die Persönlichkeitsprofile keineswegs Hannah Arendts Charakterisierung von der »Banalität des Bösen« – dazu waren die sich zeigenden Profile zu schillernd, kreativ und fantasiebegabt. Und auch eine letzte Ironie der Geschichte sei nicht verschwiegen: Insgesamt am bemerkenswertesten fand Ritzler, dass immerhin fünf der 16...