Einleitung
Gertrud habe ich in der ersten Hälfte der neunziger Jahre kennengelernt. Sie hatte seit Jahren regelmäßig an Einkehrtagen des Gemeindedienstes der Nordelbischen Kirche teilgenommen, die von Mittwoch vor Himmelfahrt bis zum Sonntag danach dauerten. Ein Rhythmus von Tagzeitengebeten, Vorträgen über biblische Themen und persönlicher Stille prägten diese Schweigetage, bei denen auch das Angebot zu Gespräch oder persönlicher Beichte selbstverständlich war. Ein Bild aus einer dieser Tagungen hat sich mir tief eingeprägt: Bei einer kreativ-spielerischen Gestaltung eines biblischen Textes hatte sie ein großes, blaues Tuch ergriffen und um sich geschlungen. Ihr Gesicht mit den rosa Wangen, den gewellten, grauen Haaren und den unternehmungslustig leuchtenden Augen strahlte daraus hervor: „Sich von Gottes Liebe umhüllen lassen“ war das Thema gewesen.
Von November 1999 bis Juni 2000 nahm sie teil an dem Meditationskurs: „Meditation im Alltag – Christliche Feste meditativ erfahren“8. In dieser Zeit begann mein intensiver Gesprächs- und Briefkontakt mit ihr, der erst kurz vor ihrem Tod endete. Sie war damals 72 Jahre alt und starb in ihrem 78. Lebensjahr. Erst auf diesem schriftlichen Weg erfuhr ich in immer neuen Einblicken auch Einzelheiten aus ihrem Leben.
Gertrud wurde 1927 geboren. 1943 war sie 16 Jahre alt, als ein Bombenangriff weite Teile Hamburgs und auch ihr Elternhaus zerstörte. Seit 1949 war sie verheiratet und wurde Mutter von zwei Töchtern und einem Sohn, später auch mehrfache Großmutter. Tiefe seelische Verletzungen, verbunden mit depressiven Einbrüchen, brachten sie an eine Grenze, die sie eines Tages fast leibhaftig wie eine unüberwindliche Mauer erlebte. Gleichzeitig aber erfuhr sie eine Geborgenheit, die sie nur als Gottesbegegnung begreifen konnte.9 Nach diesem Erlebnis fand sie Anschluss an eine Gemeinde, in der sie sich mit Freude ehrenamtlich engagierte und Unterstützung auch für ihre schwierige persönliche Situation fand. Eine tiefe Krise in der Gemeinde und das wachsende Leiden an ihrer Ehe führte schließlich 1987 dazu, dass sie in einen anderen Stadtteil in ein eigenes Haus zog und sich scheiden ließ. Das Haus, in dem sie mit 60 Jahren ein neues Leben begann, bewohnte sie noch 18 Jahre lang bis zu ihrem Tod im Juli 2005.
Die tiefen Brüche und Verletzungen ihres Lebens blieben als dunkle Spur bis zuletzt wirksam in einbrechenden depressiven Episoden, aus denen sie sich jedoch immer wieder hin zu der Erfahrung göttlichen Lichtes und unbegreiflicher Liebe lösen konnte.
Schreiben war für Gertrud eine elementare Lebensäußerung, die sie auch zur Klärung ihrer eigenen Gedanken und Erfahrungen brauchte.10
Die Briefe berichten von Gertruds inneren Erfahrungen in zwei verschiedenen Phasen ihrer letzten Lebensjahre, die durch eine deutliche Zäsur voneinander unterschieden sind:
Die erste Phase (1999 – 2000) umfasst vor allem die Zeit, in der sie am Meditationskurs teilnahm. Sie reflektieren die Erfahrungen, die sie mit den Übungen dieses Kurses gemacht hat, aber auch die Nachwirkungen, verstärkt durch ihre Teilnahme an einem Einkehr-Wochenende im Gethsemanekloster bei Goslar, das besonders durch seine romanische Krypta eindrucksvoll weiter wirkte. Auch in der zweiten Phase klingen immer wieder einmal Motive aus dieser Zeit an, treten aber in den Hintergrund der Erinnerung bzw. der verinnerlichten Erfahrung.
Die zweite Phase (2001 – 2005) beginnt mit einem tiefen Einbruch, als sie im Januar 2001 in ihrer Wohnung stürzt und in der Folgezeit an Lähmungserscheinungen und Schmerzen leidet. Zunächst ist sie an das Haus gebunden wie auch in der letzten Phase ihres Lebens. Die ersten Briefe aus dieser Zeit sind sehr kurz, auch die späteren schreibt sie oft nur mit Mühe, obwohl sie schon nach einem halben Jahr wieder in fast derselben gepflegten Handschrift wie vor dem Unfall schreibt. „Ich bin nur froh, dass Gott mich nicht auch noch am Schreiben hindert. Das zählt ja zu den Dingen, die ich noch tun kann.“11
Gertrud muss nun allerdings zunehmend mit Nerven-Schmerzen leben, die ihr das Schreiben schwer machen. Sie ringt mit der Frage, welchen Sinn ihr Leben in diesem Zustand überhaupt noch haben kann. Sie macht jedoch die erstaunliche Erfahrung, dass Schmerzen und Gottes Nähe in einen eigenartigen Einklang kommen können: Gottes Nähe nicht trotz der Schmerzen, sondern in ihnen! 12 Dabei unterscheidet sie genau zwischen diesen Schmerzen, von denen sie weiß, dass sie – nach vergeblichen ärztlichen Bemühungen – nur ausgehalten werden können, und anderen, wie zum Beispiel Zahnschmerzen, für die sie sich durch kieferchirurgische Eingriffe noch im letzten Jahr ihres Lebens Hilfe holt.
Immer wieder einmal taucht die Frage auf, wie lange sie das noch aushalten müsse. Dabei beschreibt sie mit erstaunlicher Klarheit einen eigenartigen Zwischenzustand, zwischen dem Leben, an dem sie nun nicht mehr ungebrochen teilhaben kann, und dem Leben, auf das sie jenseits des Todes hofft. Dieser Zustand hat für sie nichts mit stumpfer Gleichgültigkeit zu tun, sondern ist wache Teilhabe am Leben – jedoch aus einer anderen Perspektive als der handelnden.13 Gleichzeitig leidet sie aber auch unter der Distanz und sehnt sich danach, „irgendwo zu Hause „ zu sein.14
Nach viereinhalb Jahren des Leidens wird es ihr geschenkt, endlich ganz in der anderen Wirklichkeit anzukommen.
Gertrud war eine Frau mit ausgesprochen visueller Begabung. Auch nach ihrer ersten starken Gotteserfahrung tauchten immer wieder Bilder auf – ungewollte Imaginationen bei Tag oder auch in Träumen. So erlebte sie auch biblische Geschichten weniger von ihrer rationalen Bedeutung als von deren bildlich-symbolischem Gehalt her. Sie war in der Bilderwelt der Bibel zu Hause; das erwies sich gerade in der schwierigsten Phase ihres Lebens als wertvolle Quelle, aus der sie immer wieder schöpfen konnte. Was im „betrachtenden Gebet“ seit Ignatius von Loyola systematisch geübt werden kann, war für sie selbstverständlich.
Dabei hatte sie ein gesundes Unterscheidungsvermögen zwischen der Welt ihrer inneren Bilder und der Welt der äußeren Realitäten: Die inneren Bilder waren ein Teil ihrer Begegnung mit der göttlichen Wirklichkeit. Sie hatten zu tun mit ihrem innersten Wesen, hinderten jedoch in keiner Weise ihre Fähigkeit, ihren Alltag zu bewältigen.15
Für mich als geistlichem Begleiter war zunächst wichtig abzuklären, welche Qualität dieses innere Bilderleben für Gertrud hatte. Spirituelle Erfahrung und seelisch krankhafte Entwicklungen sind bisweilen nahe beieinander. Aus diesem Grund hatte wohl auch eine Seelsorgerin einmal zu ihr gesagt, sie dürfe ihre „Bilder nicht ernst nehmen, weil das Schwärmerei ist“16. Nachdem mir klar war, wie selbstverständlich sie in ihrer Alltagswirklichkeit zu Hause war, konnte ich auch auf die heilende Kraft ihrer Bilder17 vertrauen, die sie sowohl spontan als auch in Zusammenhang mit der Meditation von biblischen Texten und Symbolen entwickelte. So schrieb sie rückblickend: „Es begann vor einigen Jahren damit, dass Du mir Mut gemacht hast, meine Bilder zuzulassen. Später, wenn ich Fragen hatte, hast Du mir keine direkten Antworten gegeben, sondern Denkanstöße und die Ermutigung, meinen eigenen Weg zu finden. Und das ist es wohl, was mir wirklich hilft.“18
In dem Meditationskurs „Meditation im Alltag – Christliche Feste meditativ erfahren“ sind die Grundschritte meditativer Übung immer wieder verbunden mit Übungen zur Wahrnehmung des Körpers.19 Dahinter steht die Einsicht, dass unser Körper immer schon präsent ist – wie auch Gott schon gegenwärtig ist und nicht erst durch unsere Übung vergegenwärtigt werden muss. Allerdings sind wir mit unserem Bewusstsein meist nicht ganz an diesem Ort, an dem unser Körper schon ist: Hier. Auch sind wir mit unserer Aufmerksamkeit meist nicht ganz in dieser Zeit, in der wir einzig unseren Körper – und damit unser Leben – erfahren: Jetzt20. Die Grundübung ist also ganz schlicht: Einfach nur da sein, wie Gott bereits da ist. Der Leib wird dabei begriffen als „Tempel des Heiligen Geistes“.21 Darin ist der Meditationsweg, den auch Gertrud in der Gruppe mit uns gegangen ist, ein kontemplativer Weg. Zur Kontemplation führen in diesem Kurs sowohl die Übungen zur Wahrnehmung des Körpers als auch die Themen, Bilder und Symbole aus dem Kirchenjahr, die oft mit imaginativen Anregungen verbunden sind. Notwendig gehört zu diesem Weg aber auch das Angebot persönlicher Begleitung, die Gertrud dann bei mir wahrnahm.
Sowohl in der Körperwahrnehmung als auch in den symbolischen Bildern liegt die Tiefenwirkung begründet, die solch ein meditativer Weg haben kann und die Begleitung notwendig macht: Im Körper sind viele, wenn nicht sogar alle Erfahrungen unserer Biographie gespeichert, die unser Bewusstsein längst...