1. Die Erfahrung des Höchsten
DIE ERFAHRUNG DES HÖCHSTEN IST ÜBERHAUPT KEINE ERFAHRUNG – weil der Erfahrende dabei verloren geht. Und wenn es keinen Erfahrenden gibt, was lässt sich dann darüber sagen? Wer soll es sagen? Wer soll von der Erfahrung berichten? Wenn es kein Subjekt mehr gibt, verschwindet auch das Objekt – beide Ufer verschwinden, und nur der Fluss der reinen Erfahrung bleibt. Das Wissen ist da, aber der Wissende nicht.
Das war schon immer das Problem aller Mystiker. Sie erreichen das Höchste, aber sie können denen, die nachfolgen, nichts darüber berichten. Sie können es den anderen nicht mitteilen, die es gern intellektuell nachvollziehen möchten. Sie sind eins damit geworden. Ihr ganzes Wesen drückt es aus, aber intellektuell können sie es nicht ausdrücken. Sie können es euch geben, wenn ihr bereit seid, es in Empfang zu nehmen; sie können euch auch dazu verhelfen, wenn ihr es zulassen könnt, wenn ihr empfänglich und offen seid. Aber Worte nützen nichts, Symbole nützen nichts. Theorien und philosophische Lehrmeinungen nützen nicht das Geringste.
Diese Erfahrung ist so beschaffen, dass man es eher ein „Erfahren“ als eine „Erfahrung“ nennen muss. Es ist ein Vorgang – und er beginnt, ohne je zu enden. Du trittst in ihn ein, aber du bestimmst nie seinen Lauf. Es ist, als ob ein Tropfen in den Ozean fällt, oder vielmehr der ganze Ozean in den Tropfen. Es ist ein tiefes Verschmelzen, es ist Einheit, du verlierst dich einfach darin. Nichts bleibt zurück, keine Spur – wer also soll darüber berichten? Wer soll in die Welt des Tals zurückkehren? Wer soll in diese dunkle Nacht zurückkehren, um euch davon zu berichten? Alle Mystiker der Welt haben sich jedes Mal außerstande gefühlt, ihre Erfahrung mitzuteilen. Kommunion ist möglich, aber Kommunikation – nein!
Das müsst ihr von Grund auf verstehen. Eine Kommunion ist eine vollkommen andere Dimension: Zwei Herzen treffen sich, es ist eine Liebesgeschichte. Kommunikation geht von Kopf zu Kopf; Kommunion geht von Herz zu Herz. Kommunion ist ein Gefühl. Kommunikation ist Wissen: Man gibt nur Wörter und man nimmt nur Wörter, nur Wörter werden verstanden. Und Wörter sind ihrer wahren Natur nach so leblos, dass sie nichts Lebendiges vermitteln können. Das lehrt uns schon das gewöhnliche Leben – ganz zu schweigen also von der höchsten Erfahrung. Schon wenn du unter gewöhnlichen Umständen irgendeinen Höhepunkt erlebst, einen ekstatischen Augenblick, in dem du wirklich etwas fühlst, in dem du wie umgewandelt bist, dann wird es unmöglich, das in Worten auszudrücken.
In meiner Kindheit ging ich oft früh am Morgen zum Fluss. Es ist ein kleines Dorf. Der Fluss ist sehr, sehr träge, fast fließt er überhaupt nicht. Und am frühen Morgen, wenn die Sonne noch nicht aufgegangen ist, kann man nicht erkennen, ob er überhaupt fließt, so träge und still ist er. Am Morgen, wenn niemand da ist, wenn noch kein Mensch zum Baden gekommen ist, herrscht eine ungeheuere Stille. Selbst die Vögel haben noch nicht ihr Morgenlied angestimmt – so früh, dass noch kein Laut die Lautlosigkeit stört, die alles durchdringt. Und der Duft der Mango-Bäume hängt über dem ganzen Fluss. Dort ging ich oft hin, an die entfernteste Biegung des Flusses, nur um dort zu sitzen, nur um dort zu sein. Es gab nichts zu tun, einfach da zu sein war genug, es war ein so herrliches Erlebnis. Dann stieg ich jedes Mal in den Fluss, schwamm eine Zeitlang, und wenn dann die Sonne aufging, stieg ich ans andere Ufer, legte mich dort auf den breiten Sandstrand und ließ mich von der Sonne trocknen. Dann blieb ich dort liegen, und manchmal schlief ich sogar ein.
Wenn ich zurückkam, fragte meine Mutter jedes Mal: „Was hast du den ganzen Morgen getrieben?“
Und ich antwortete: „Nichts!“, denn wirklich, ich hatte nichts getan. Und sie sagte dann: „Wie ist das nur möglich? Vier Stunden warst du fort, und du willst gar nichts getan haben? Irgendetwas musst du doch getan haben.“
Und natürlich hatte sie Recht, aber ich hatte darum nicht Unrecht. Ich hatte nichts Besonderes getan. Ich war nur am Fluss gewesen, in seiner Gesellschaft, ohne etwas zu tun, und hatte die Dinge geschehen lassen. Wenn es sich nach Schwimmen anfühlte – wohlgemerkt, wenn es sich danach anfühlte –, dann schwamm ich, aber das war kein eigentliches Tun meinerseits, ich brauchte nicht meinen Willen einzuschalten. Wenn ich mich nach Schlaf fühlte, schlief ich. Dinge geschahen, aber ich war nicht der, der sie tat. Und mein erstes Satori-Erlebnis begann an diesem Fluss. Ohne dass ich etwas tat, nur indem ich da war, geschahen tausend Dinge. Aber meine Mutter bestand darauf, dass ich irgendetwas getan haben musste. Und so sagte ich: „Okay, ich war baden und hinterher habe ich mich in der Sonne trocknen lassen.“ Und damit war sie zufrieden. Aber ich war es nicht: Denn das, was da am Fluss geschehen war, ließ sich nicht mit den Worten ausdrücken: „Ich war baden.“
Das machte es so arm und blass! Das Spielen im Wasser, das Treiben mit der Strömung, das Schwimmen im Fluss war eine so tiefe Erfahrung gewesen, dass die Worte „ich war baden“ barer Unsinn waren. Oder wenn ich gesagt hätte: „Ich bin am Fluss entlanggegangen, bin spazieren gegangen und hab am Ufer gesessen“ – dann wäre damit genauso wenig gesagt gewesen. Selbst im gewöhnlichen Leben spürst du die Sinnlosigkeit von Wörtern.
Und wenn du die Sinnlosigkeit von Wörtern nicht spüren kannst, dann beweist das nur, dass du noch gar nicht gelebt hast, dass du nur sehr oberflächlich gelebt hast. Wenn alles, was du erlebt hast, in Worten ausgedrückt werden kann, dann bedeutet das, dass du gar nichts erlebt hast. Erst wenn etwas geschieht, das sich nicht in Worte fassen lässt, erst dann hat sich das Leben bemerkbar gemacht, erst dann hat das Leben an deine Tür geklopft. Und wenn das Höchste an deine Tür klopft, gehst du einfach über Worte hinaus – dann wirst du stumm, dann kannst du nicht sprechen, kein einziges Wort wird sich dann in dir bilden.
Alles, was du sagen könntest, sieht so blass, so tot, so sinnlos, so völlig bedeutungslos aus, dass es dir wie eine Verletzung der Erfahrung vorkommen muss, die dir zugestoßen ist. Das vergesst nicht, denn Mahamudra ist die letzte, die höchste Erfahrung. Mahamudra bedeutet: der totale Orgasmus mit dem Universum.
Wenn du einmal einen anderen geliebt hast und manchmal das Verschmelzen und die gemeinsame Auflösung erfahren hast – wo zwei nicht mehr zwei sind; wo zwar die Körper getrennt bleiben – aber sich zwischen beiden Körpern eine Brücke bildet, eine goldene Brücke, und die innere Zweiheit verschwindet, und eine einzige Lebensenergie vibriert an beiden Polen –, wenn dir das schon einmal widerfahren ist, dann kannst du verstehen, was Mahamudra ist. Millionen- und millionenfach tiefer, millionen- und abermillionenfach höher ist Mahamudra.
Es ist der totale Orgasmus mit dem All, mit dem Universum. Es ist ein Verschmelzen mit der Quelle des Seins. Und dies ist ein Gesang des Mahamudra. Es ist schön, dass Tilopa es einen Gesang genannt hat. Man kann es nur singen, nicht sagen. Man kann es tanzen, nicht sagen. Es ist eine so ungeheure Erscheinung, dass nur im Gesang ein winzig kleines Fünkchen davon aufleuchten kann – nicht in dem, was du singst, sondern wie du singst.
Viele Mystiker haben nach ihrer höchsten Erfahrung nichts getan als getanzt, sie konnten nichts anderes tun. Mit ihrem ganzen Wesen und Körper brachten sie so zum Ausdruck, was geschehen war; alles war beteiligt: Körper, Sinn, Seele, alles. Sie haben getanzt, und ihr Tanz war kein gewöhnlicher Tanz. Ja, alles Tanzen überhaupt geht nur auf diese Mystiker zurück – es war eine Möglichkeit, die Ekstase, die Glückseligkeit, die Freude mitzuteilen. Etwas ist vom Unbekannten zum Bekannten durchgedrungen, etwas aus dem Jenseits ist auf die Erde gelangt – was kann man anderes tun als tanzen? Man kann es tanzen, man kann es singen. Dies ist der Gesang des Mahamudra.
Und wer soll singen? Tilopa ist nicht mehr. Es ist das orgiastische Gefühl selber, das singt. Dieser Gesang wird nicht von Tilopa gesungen: Tilopa ist nicht mehr. Die Erfahrung selber vibriert und singt. Und so ist es der Gesang des Mahamudra, der Ekstase selbst – der Ekstase, die sich selber singt. Tilopa hat nichts damit zu tun. Tilopa ist überhaupt nicht da. Tilopa hat sich aufgelöst. Erst wenn der Suchende verloren gegangen ist, ist das Ziel erreicht. Erst, wenn der Erfahrende nicht ist, ist die Erfahrung da. Suche, und du gehst am Ziel vorbei, denn durch dein Suchen wird der Suchende nur noch gestärkt. Suche nicht, und du wirst es finden. Das bloße Suchen, die bloße Anstrengung, wird zur Schranke, denn je mehr du suchst, desto mehr wird das Ego, der Sucher, gestärkt. Suche nicht.
Das ist die tiefste Botschaft dieses gesamten Gesangs von Mahamudra: Suche nicht, bleibe einfach wo du bist, du brauchst nirgendwo hinzugehen. Niemand kommt je bei Gott an; niemand kann...