Einleitung
Der Bus von »On Location Tours« parkte im Schatten des New Yorker Plaza Hotels, im Leerlauf stand er in der feuchten Januarkälte, und die Passagiere kehrten nach und nach von den Sehenswürdigkeiten in der Nähe zurück. Sie waren Anfang 20 bis Ende 50 und kamen ebenso aus Long Island wie dem fernen Schweden. Mit Ausnahme zweier Ehemänner und mir waren nur Frauen an Bord. Sie reisten alleine oder in Gruppen. Alle einte eine große Leidenschaft: Carrie, Charlotte, Miranda und Samantha, die vier Protagonistinnen der HBO-Serie Sex and the City, die zwischen 1998 und 2004 ausgestrahlt wurde und auf die noch zwei Filme folgten. Für meine Reisegefährtinnen waren Carrie und Konsorten aber nicht bloß Figuren in einer Fernsehserie, sie waren vielmehr hochverehrte Prophetinnen und Ikonen weiblicher Identität, sexuelle Befreierinnen sowie Symbole für alles, was der Big Apple zu bieten hatte.
»Okay, Ladys«, sang Staci Jacobs fast schon ins Mikrofon, als sich die Türen schlossen und der Bus die Fifth Avenue hinunterfuhr. »Willkommen bei der Sex and the City-Tour!« Jacobs wollte ihr Alter nicht verraten, war aber »alt genug für die Serie« (wahrscheinlich war sie wie ich Anfang 30). Seit 2005 leitete sie die Tour zwei Mal täglich. Die trendbewusste Rothaarige in engen Jeans und kniehohen Stiefeln (denken Sie an Charlotte mit Mirandas Haarfarbe) war schon Tausende Male an denselben Sehenswürdigkeiten vorbeigefahren und gab überall einstudierte Anekdoten zum Besten.
»Erinnert sich noch jemand an Ed«, fragte Jacobs vor dem Plaza Hotel, wo Samantha in Staffel zwei einmal einen betagten Liebhaber auf einen Drink traf, »den Typen mit dem Hängearsch?« Im Bus ertönte wissendes Gekicher.
»Wenn ihr denkt, dass es hier jugendfrei zur Sache geht, sitzt ihr im falschen Bus«, sagte Jacobs. »Und jetzt alle: ›Fuck yeah!‹«
»Fuck yeah!«, tönte es zurück, und Jacobs warf – genau wie Samantha – diabolisch lächelnd ihre rote Mähne zurück. Weiter ging es nach Downtown, vorbei an der Bücherei, in die sich Carrie – Spoiler-Alarm! – vor ihrer rauschenden Hochzeit verdrückte, und der Kirche von Friar Fuck, dem gutaussehenden Mönch. Nach zwei Stopps und einem Dutzend Videoclips hielt der Bus an der Ecke von Bleecker und der West Eleventh Street im Herzen des West Village, dem Mittelpunkt des Sex and the City-Universums, wo sich eine Boutique an die andere reihte. Die Serie hatte das grüne Künstlerviertel in ein Paradies aus reizenden Cafés, edlen Bekleidungsgeschäften und riesigen Handtaschen verwandelt. Hunderttausende Fans kamen jedes Jahr und durchschritten die engen Straßen in ehrfürchtigem Staunen wie mittelalterliche Pilger in Jerusalem.
Beim Aussteigen sagte Jacobs, wir hätten eine gute Stunde Zeit für die Erkundung des Viertels. »Und wenn ihr zurückkommt, habe ich Cupcakes für euch«, flötete Jacobs, wobei sie das letzte Wort sirenenähnlich gurrte; ihre Stimme erhob sich bei »cakes« zu einem Crescendo. Die Ankündigung wurde mit Oohs, Ahhs und freudigem Gekicher quittiert, die eingefleischten Fans hatten bereits damit gerechnet.
»Sind die Cupcakes von Magnolia?«, fragte eine Frau aus Alabama hoffnungsvoll und blickte durch ihr Fenster auf die Magnolia Bakery schräg gegenüber dem Bus.
»Nein«, antwortete Jacobs mit einem gezwungenen Lächeln, »aber sie sind genauso gut.«
Alix Galey und Emily Pavlin, Freundinnen Anfang 20 aus Melbourne, stiegen aus und machten sich – wie die meisten anderen – schnurstracks auf den Weg zu Magnolia, wo sie zwei der legendären samtroten »Red Velvet Cupcakes« erstanden. »Ich bin völlig besessen von dieser Serie«, sagte Pavlin zwischen zwei Bissen. »Ich habe jede Folge fünf Mal gesehen.« Der Tag war grau und kalt. Im Inneren der Bäckerei hatten Hitze und Feuchtigkeit die Fenster beschlagen lassen, weswegen man von außen nur verschwommene runde Formen, gedämpfte Pastellfarben und die Umrisse verschiedener Artikel aus Zeitungen und Zeitschriften sehen konnte, die auf die Scheibe geklebt waren.
Direkt neben der Tür hing ein kaum erkennbares, kleines gerahmtes Bild von zwei Frauen, die vor Magnolia auf einer Bank saßen. Links neben Cynthia Nixon, die Miranda spielte, saß Sarah Jessica Parker, die in der Serie die Figur Carrie Bradshaw verkörperte. Sie hatten die Beine übereinandergeschlagen, zu ihren Füßen standen Einkaufstüten. Beide hielten einen Cupcake in der Hand und schauten direkt in die Kamera. Unten am Rahmen befand sich ein schmaler Papierstreifen, auf dem stand: »Magnolia Bakery kommt in der dritten Staffel von Sex and the City vor.«
Was passiert wohl, wenn Archäologen in einigen tausend Jahren die Artefakte aus unserer Zeit durchforsten und dieses Bild samt Umgebung ausgraben? Wird ihnen Sex and the City ein Begriff sein? Werden sie wissen, dass die Serie die Hoffnungen und Träume von Millionen Frauen weltweit zum Ausdruck brachte? Und dass die beiden Frauen auf dem Bild nicht nur verehrte Schauspielerinnen, sondern auch Symbole für die sexuelle und soziale Selbstbestimmung der modernen Frau waren?
Werden die Archäologen Cupcakes erkennen?
Werden sie wissen, dass im ersten Jahrzehnt des 21. Jahrhunderts Kuchen existierten, die in Tassen gebacken wurden? Und dass man besagte Küchlein in allen erdenklichen Geschmacksrichtungen und Kombinationen herstellte und mit süßen Glasuren, sogenannten Frostings, überzog? Wird ihnen bekannt sein, dass es bei diesen Frostings eine enorme Vielfalt gab, von der einfachen Vanillecreme bis hin zu kunstvollen Gebilden in 3-D? Wird den Archäologen klar sein, dass diese kleinen Küchlein über zehn Jahre lang weltweit ein Statussymbol und ein wichtiges Gesprächsthema waren und die Menschen in ihren Bann zogen? Werden sie wissen, dass das Ganze, von ergebenen Bäckern weltweit über Chronisten dieses Phänomens bis hin zur Multimilliarden Dollar schweren Cupcake-Industrie, genau hier seinen Lauf nahm? An dieser heiligen Ecke in Manhattan, in dieser kleinen Bäckerei, mit diesen beiden Frauen und der 20-sekündigen Szene einer Fernsehserie, die damals unsere Naschgewohnheiten veränderte?
Wenn ich erzähle, dass ich gerade ein Buch über Ernährungstrends schreibe, kratzen sich meine Gegenüber für gewöhnlich am Kopf. Sage ich aber das Wort Cupcakes, sehe ich weit aufgerissene Augen, nickende Köpfe, und ein Schwall passionierter Ansichten ergießt sich aus den Tiefen ihrer Seelen. Sie lieben Cupcakes. Sie hassen Cupcakes. Sie essen jeden Tag Cupcakes. Sie meiden Cupcakes wie den Teufel. Cupcakes machen ihr Leben erst lebenswert. Cupcakes stehen für sämtliche Probleme der modernen Welt.
Cupcakes, Cupcakes, Cupcakes. Herrlich, verflucht, wundervoll, jämmerlich, möge Gott sich unser erbarmen, gütiger Gott … Cupcakes!
Als Kanadier bin ich schon seit meiner Kindheit bestens mit dem Zauber von Cupcakes vertraut. In einer sehr frühen Erinnerung stehe ich kurz vor meinem dritten Geburtstag mit meiner Mutter in der Küche; ich werfe zunächst Eier auf den Boden und breche dann in hysterisches Weinen aus, während meine Mom verzweifelt versucht, Schokolade-Cupcakes für meine Geburtstagsparty an jenem Nachmittag zu backen. In den Jahren darauf kaufte meine Mutter Cupcakes bei Health Bread, einer längst geschlossenen Bäckerei in der Nähe unseres Hauses in Toronto, und brachte sie mir in die Schule. Die ganze Klasse verstummte, als meine Mutter die Küchlein zum Lehrerpult trug, 25 Augenpaare starrten wie gebannt auf die hellblaue Kiste.
Unser Lehrer löste die Schnur und öffnete den Karton. Im Inneren befand sich das pure Glück: In mehreren Reihen übereinander schmiegten sich Schokolade-Cupcakes mit mokkafarbenem Überzug und regenbogenfarbenen Streuseln aneinander. Geduldig warteten wir in einer Schlange vor dem Pult, nahmen unseren Anteil entgegen und eilten zurück zu unserem Tisch, wo wir den Cupcake wie einen kleinen Vogel in der Hand wiegten. Die Mädchen zogen vorsichtig das Papier ab und suchten nach dem besten Winkel für den ersten Biss, wir Jungs waren das genaue Gegenteil: Wir schlugen unsere Zähne in die Cupcakes, als wären wir Gegner beim Äpfeltauchen. Innerhalb von Sekunden waren unsere Gesichter und Münder voller Schokolade, die weißen Shirts und Trainingshosen waren braun verschmiert; was wir nicht in den Mund steckten – so dachten wir –, würden wir einfach durch Osmose über die Haut aufnehmen. Nach 30 Sekunden hatte sich das Klassenzimmer in ein Krümel- und Verpackungsinferno mit hyperaktiven Kindern verwandelt. Cupcakes waren die Höhepunkte der Kindheit.
Aber irgendetwas geschah in den letzten 15 Jahren mit dieser Leckerei. Cupcakes wurden trendy. Genauer gesagt wurden sie zu dem Nahrungsmitteltrend unseres Zeitalters. Wenn man heutzutage über Cupcakes spricht,...