PROLOG:
DIE MODERNE HEILIGE
Teresa von Avila, eine Nonne des 16. Jahrhunderts, zutiefst fromm, ganz der Lehre der katholischen Kirche unterworfen – eine Frau aus einer fernen Zeit, die mit unserer Welt wenig zu tun hat. Wer die Bilder dieser Heiligen sieht, etwa Berninis berühmte Ekstase der heiligen Teresa oder eines der Porträts, auf denen ein strenger Schleier das Gesicht der Ordensfrau rahmt, muss sich in der Tat fragen, was Teresa uns heute noch zu sagen hat.
Das Bild der Heiligen und ekstatischen Mystikerin ist jedoch nur die eine Seite dieser ungewöhnlichen Frau. Teresa war auch eine Unternehmerin und Managerin, die viele Tabus ihrer Zeit und der Kirche brach, die ihre Stimme erhob, wo Frauen zum Schweigen verdammt waren, die höchsten kirchlichen Würdenträgern trotzte und als brillante Diplomatin mit Stadträten, Bischöfen und Adeligen verhandelte. Während Ordensobere und päpstliche Repräsentanten dieses «widerspenstige Weib» verfluchten, wurde sie von den führenden Theologen ihrer Zeit anerkannt und verehrt. Der spanische König Philipp II. schätzte ihr fruchtbares Wirken für das religiöse Leben so sehr, dass er den von ihr gegründeten Ordenszweig gegen heftige Angriffe verteidigte und vor der Auslöschung bewahrte.
Teresa von Avila lebte in einer Welt, die uns fremd erscheint: Europa zerriss sich in Glaubenskriegen; Familien und ganze Länder spalteten sich in der Frage, ob Christus im Abendmahl unmittelbar gegenwärtig ist oder nicht. Städte verfielen religiöser Hysterie, während die Inquisition Menschen verfolgte, die die falschen Bücher lasen. Frauen lebten als Gefangene – entweder ihrer Väter, Brüder und Ehemänner oder in Klöstern, hinter den Gittern der Klausur. Soziale Herkunft und das spanische Ehrgefühl bedeuteten alles: Ein einziger Vorfahre jüdischer Abstammung konnte alle Karrierechancen zerstören, eine einzige kleine Albernheit in der Jugend lebenslange Schande bedeuten. Und immer drohte die Angst vor ewiger Verdammung, die man durch Gebete, Buße und fromme Werke zu bannen suchte. Umgekehrt aber war Gott eine ständige, selbstverständliche Realität im Leben der Menschen: Was auch immer im Alltag geschah, wurde als Wirken Gottes – oder aber des Teufels – verstanden. Gebet, Kirchenbesuch und regelmäßige Beichte waren Teil einer selbstverständlichen Beziehung zwischen Gott und Mensch. Teresa gehörte dieser Welt voll und ganz an: Von klein auf hatte sie Angst vor der Hölle, betete brav ihre Vaterunser und Avemaria, versuchte sogar, als kleine Märtyrerin den direkten Weg in den Himmel zu erhandeln. Später achtete sie peinlich genau auf ihre Ehre und sonnte sich in den Privilegien, die ihr als junger Adeligen zustanden. Im Kloster fand sie allmählich zu Gott und unterwarf sich der strengen Regel ihres Ordens; ihr Leben widmete sie der immer innigeren Beziehung zu Gott und Christus, die für sie geliebte Freunde, ständige Ansprechpartner und konkrete Ratgeber waren.
Teresa von Avila: eine Frau, wie sie heute kaum fremder erscheinen könnte. Doch der Eindruck täuscht. In ihrer Persönlichkeit, ihrem Lebensweg, ihrem Wirken innerhalb ihrer Gesellschaft und Zeit wirkt sie tatsächlich hochmodern. Als Individualistin in einer Gesellschaft, die Anpassung und Unterordnung verlangte, folgte Theresa in ihrem Lebensweg ihrer ganz besonderen Berufung, über alle Hindernisse hinweg: Sie verwarf die weltliche Alternative zum Klosterleben, fügte sich in die unbequeme Existenz als Nonne, überstand unzählige Krankheiten und widersetzte sich allen Versuchen geistlicher und weltlicher Autoritäten, sie in ihre Schranken zu weisen. Obwohl stets ängstlich darauf bedacht, die Gottgegebenheit ihrer geistlichen Erfahrungen zu prüfen, ließ sie sich, sobald sie einmal von dieser Gottgegebenheit überzeugt war, weder durch Verleumdung noch durch Anfeindungen oder sogar Anzeigen bei der Inquisition einschüchtern. Nachdem Teresa nach Jahren inneren Ringens für sich den richtigen Weg erkannt hatte – ein kontemplatives Leben in tiefer Verbundenheit mit Gott –, war sie gezwungen, in einer klösterlichen Umgebung, die sich weit von diesem Ziel entfernt hatte, die Voraussetzungen für eine Lebensführung nach den Idealen ihres Ordens neu zu schaffen. Sie stellte sich damit gegen ein eingefahrenes, bequemes System und traf dementsprechend auf die erbitterten Widerstände, die sich jedem idealistischen Systemkritiker und Reformer entgegenstellen.
Auch die Gesellschaft des 16. Jahrhunderts, die in Teresas Schriften so lebendig wird, wirkt durchaus vertraut. In ihrer Autobiographie beschreibt Teresa die Intrigen, Eifersüchteleien und Konkurrenz innerhalb geschlossener Institutionen, ein Netzwerk politischer Machtspiele und Schachzüge, in dem freies, unabhängiges Denken und Handeln eingeschränkt ist. Es «menschelt» allenthalben, und auch Teresa beteiligte sich lange Zeit an dem vom Prestigedenken geprägten Cliquenwesen ihres Riesenklosters. Das Menschwerdungskloster zu Avila erscheint als Sinnbild für die Problematik einer jeden Institution, sei es im 16. oder im 21. Jahrhundert: Durch maßlose Erweiterung, Missachtung von Qualitätskriterien, schlechtes Management und verantwortungslose Leitung wird sie in ihrem Kern zersetzt. Die Trägheit der Institution macht jedoch die dringend nötige Reform und Rückkehr zu den eigentlichen Zielen nahezu unmöglich. Eben deshalb wollte Teresa, wie sie 1575 schrieb, lieber vier neue Klöster gründen, als die Ordensfrauen eines einzigen bereits bestehenden Klosters zur Lebensweise nach dem ursprünglichen Ordensideal bewegen zu müssen – die Aussage einer erfahrenen Unternehmensgründerin und Managerin.
Teresa von Avila: eine Frau aus einer anderen Zeit – und doch hochmodern in ihrem Denken und Handeln
Auch in ihrem Charakter erscheint Teresa keineswegs als fremder Mensch aus ferner Zeit. In ihren viele Tausend Seiten umfassenden Schriften wird die kommunikative, lebensfrohe, humorvolle und unverwüstliche Spanierin unmittelbar gegenwärtig. Sie ist emotional, erbarmungslos offen gegen sich selbst, sehnt sich nach menschlichem Kontakt, nimmt aber auch kein Blatt vor den Mund, wenn ihr etwas gegen den Strich geht. Teresa lässt ihre Leser auch an ihren Schwächen teilhaben: ihren Zweifeln, ihrem Scheitern an sich selbst, ihren temperamentvollen Ausbrüchen, ihren depressiven Anwandlungen. Anfangs eine Frau voll innerer Spannungen, gelangt sie auf ihrem Weg mit Gott zu einer solchen Stärke, dass sie zuletzt als weltgewandte Geschäftsfrau auftreten und wirken kann – eine Nonne, stets verschleiert, ihrer strengen Regel unterworfen, die im frauenfeindlichen Spanien des 16. Jahrhunderts siebzehn eigene Klöster gründet.
Auch in ihrer Bedeutung als Theologin und Mystikerin scheint Teresa von Avila unserer Zeit verbunden. In ihrem mystischen Hauptwerk, der Inneren Burg, weist sie den Weg zur inneren Sammlung und Selbstfindung, zur Versöhnung des Menschen mit sich selbst und Gott. Freilich darf dieser Weg nicht als moderne Selbstverwirklichung missverstanden werden: Teresa hat ihre Gebetslehre für Ordensfrauen des Karmelordens geschrieben, für Frauen, die ihr Leben ganz und gar Gott geweiht haben. Der Weg zum Inneren der Seele ist ein Weg in Gemeinschaft mit Gott. Sein Ziel ist die völlige Hingabe an Gottes Willen: Die Befreiung von den Fesseln des Egoismus, die Teresa lehrt, ist im christlichen Weltbild verwurzelt, in der Ich-Du-Beziehung zwischen Gott und dem einzelnen Menschen. Voraussetzung für diese befreiende Erfahrung sind Werte, die heute «veraltet» erscheinen mögen. So betont Teresa immer wieder, dass kein einziger Schritt auf dem Weg in die Innere Burg ohne Demut und Gehorsam möglich ist. Diese Begriffe lassen sich jedoch auch «moderner» fassen: Aufgrund ihrer reichen Erfahrung legt Teresa dar, dass der Weg der inneren Befreiung ohne eine realistische Selbsteinschätzung (Demut) und tiefes Gottvertrauen (Gehorsam) blockiert bleiben muss.
Aus dieser Erfahrung heraus wird Teresa zur Kirchenlehrerin: Es gelingt ihr, die Kluft zwischen Theorie und Praxis, zwischen Schultheologie und religiösem Leben, zu überwinden. Als Mystikerin sucht sie stets den Austausch mit Theologen; denn sie wünscht ein wissenschaftliches Fundament für ihren Weg mit Gott. Umgekehrt beginnen die Theologen ihrer Zeit, von dieser weisen Frau mit ihrer unerschöpflichen Lebens- und Gotteserfahrung zu lernen: Teresa zeigt, dass Theologie mit praktischer Glaubenserfahrung einhergehen kann und dass diese Theologie, dieses Leben mit und in Gott, gänzlich auf der Liebe gründen muss. Gottesliebe und Nächstenliebe sind für sie eine untrennbare Einheit. So bedeutet kontemplatives Leben für sie auch nicht einen Rückzug in die Mystik, fern von der Welt und den Menschen, sondern ein Hineinnehmen der Gotteserfahrung in den unmittelbaren Alltag. Verwurzelt in der Gottesliebe, gewinnt Teresa Kraft für eine Nächstenliebe, die in ihrem Ausmaß und ihrer Unermüdlichkeit schier unerschöpflich scheint. Das «Heilige» an Teresa ist die unbedingte Zuwendung, die sie ihren Mitmenschen zuteilwerden lässt. Sie ist eine Heilige, die in ihrem Leben und ihren Schriften lehrt, wie menschliche Beziehungen im Alltag «heil»...