Erste Tage
Zielnica auf dem Ku’damm – Die Bonner Friedens-
demonstration – Erstes Gespräch mit Illich –
Stadtrundfahrt
Samstag, 17. Oktober 1981. – Ein sonniger, schöner Herbsttag. Inzwischen habe ich ein Zimmer zur Straße und gehe mit meinem Zimmernachbarn Zielnica stadteinwärts. «Kollege», sagt er, «lieber Kollege». Wir schlendern den langen Ku’damm entlang bis zum Tiergarten. – Er sieht die Lage in Polen als dramatisch an; es stehe ein Putsch der moskauhörigen Generäle bevor. Dann werde es einen Volksaufstand geben. Er sei eigentlich ein Liberaler, sei für die Entwicklung der Eigeninitiative von unten. Die Solidarnośč entwickle das richtige Gegenkonzept gegen den bürokratischen Kommunismus.
«Wie ruhig es hier ist!» Was er in Polen vom Ku’damm gehört habe, war: Da liefen Scharen von Huren herum und 1000 Gammler, die von der Polizei in den Griff genommen würden. Man sieht aber keine Polizei, die Leute sind nett angezogen und freundlich. Alles so sauber. Er steht vor einem Laden mit den verschiedensten Schokoladewaren, Tische sind bis auf die Straße gestellt. «Wenn meine Leute das sehen würden! Sie hungern.» Er hat einen zehnjährigen Sohn, eine fünfzehnjährige Tochter. Der Hund, ein Mischling, bekommt die besten Sachen. Er erzählt mir, wie viel er, umgerechnet, im Monat verdient. Es ist der gleiche Betrag, den ich vorgestern mit Thea Schwarz in der Pfälzer Weinstube bezahlt habe. Ich mag es mir nicht vorstellen. – Zielnicas Thema ist seit einiger Zeit Alexander von Humboldt. Dessen in Briefen dokumentierte unbekannte Beziehung zu Polen will er hier darstellen. – Abends um sechs sind wir wieder zuhause.
Sonntag, 18. Oktober 1981. – Bei meinem Bruder Claus, dem Deutsch- und Griechischlehrer im Grauen Kloster, und seiner Frau Mady. Wir erzählen einander von der Friedensdemonstration in Bonn am 10. Oktober. 100.000 Menschen waren im Hofgarten vor der Bühne. Ich hatte mich kurzfristig entschlossen hinzufahren, bekam mehrmals Platzangst in der Menschenmenge, ging an den Rand und kehrte zurück. Wir hatten uns nicht gesehen und erzählen einander, was uns gefiel: Heinrich Albertz. Erhard Epplers Rede! Auch Uta Heinemann. «Albertz hat mir am besten gefallen», sagte Claus. «Überzeugend wie noch nie. Wir haben ihn ja auch am 2. Juni 1967 erlebt, als hier Benno Ohnesorg von einem Polizisten erschossen wurde. Damals hat OB Heinrich Albertz sich per Lautsprecher auf die Seite der Polizei gestellt, der Leute, die unsere Demo gegen den Besuch des persischen Schahs niedergeknüppelt hatten.»
Der Tag war auch für Claus zum Einschnitt geworden, hatte ihn aus der bisherigen Bahn geworfen. Er hatte damals im Berliner Konvoi an der Sternfahrt nach Hannover teilgenommen, der Beerdigung Ohnesorgs, besaß seither eine Aktentasche voller Zeitungen, Resolutionen, Erklärungen und hielt Vorträge. Es waren die Jahre, in denen seine geliebten Lehrer, Joachim Bumke, der Freund Peter Wapnewskis, und Eberhard Lämmert, mit dem er eine Magisterarbeit über die Wirkungsgeschichte des «Untertan» von Heinrich Mann verabredet hatte, der politischen Szene Berlins den Rücken kehrten und sich an den westlichen Rand der Bundesrepublik zurückzogen: Joachim Bumke nach Köln, Eberhard Lämmert nach Heidelberg und Peter Wapnewski nach Karlsruhe.
«Heinrich Böll habt ihr in Bonn nicht mehr gehört?», fragte ich und erzählte, er habe nur gesagt: Er hoffe, die jetzt auch sichtbare, von Holland ausgegangene Krankheit, die Hollanditis, werde sich weiter ausbreiten. Und er habe dann gefragt, ob alle wissen, was «Agents Provocateurs» sind; es seien manche auf dem Platz. Man bitte sie auf die Hinterbühne, sie würden dort reichlich entlohnt. Sie brauchten dann nachher ihre Arbeit gar nicht mehr zu tun. – Die Leute lachten. Der Heimweg ging still vor sich, ohne Randale. Keine Scheibe ging zu Bruch, kein Auto brannte.
Montag, 19. Oktober 1981. – Morgens Post. In meinem Zimmer versammeln sich auf der Fensterbank Marienkäfer, auch eine Wespe sucht Quartier. Draußen arbeitet der Bagger.
Mittags saß ich gegenüber Herrn Illich. Ein aufregendes Gespräch, das mir nachgeht. Ihn beschäftigen gewisse Grundbegriffe, von denen er meint, dass sie in dieser Bedeutung seit 1860 aufgekommen seien. Er will sich da näher orientieren: «Arbeitskraft», «Energie», «Sexualität», «Kapital». Zum neuen Begriff der Sexualität gehöre, dass die Geschlechterrolle fehlt. Dieser Begriff der «Rolle», die Verwandlung des Theaterbegriffs in eine soziologische Kategorie, interessiere ihn zunächst.
«Hat nicht schon Marx den Begriff der ‹Sexualität› ohne die Geschlechterrolle?», frage ich. Ich denke an das «Manifest». Wir kommen sehr intensiv aufs Mittelalter, sprechen zuerst von der neuartigen Liebeslyrik im 12. Jahrhundert, dem ganz und gar geschlechtergebundenen Minnedienst. Der verliebte Sänger wirbt um die Liebe seiner Dame wie der Dienstmann sich um das «Lehen» seines Herrn, um einen festen Platz und ein Anwesen bemüht. Der Verliebte weiß dabei, dass er von der Höhergestellten vielleicht nie erhört werden wird, aber er hofft – sonst fände das Lied nicht statt.
Illich fragt sich, ob es zu der Zeit Homosexualität bereits als soziale Kategorie gegeben habe. Wenn man den sozialen Begriff, die soziale Realität nicht hat, was macht man dann mit ihr?
Ich erzähle von der These eines Kollegen, der kürzlich über das Tristan-Epos Gottfrieds von Straßburg gesprochen hat: das Verhältnis des König Marke und seines Brautwerbers Tristan sei homoerotisch gewesen. Sie stehen in der Fensternische und halten einander, in ein inniges Gespräch vertieft, bei der Hand. Die These ist weder zu beweisen noch zu widerlegen. Dass Männer sich bei der Hand hielten, war normal. Goethe und Schiller konnten sich beim Abschied weinend umarmen. Als es bei uns auf den Bahnsteigen begann, dass sich Männer beim Abschied umarmten, entstand zunächst ein Verdacht.
Illich meint, die Geschichte der Pastoraltheologie, deren Dienstauffassung habe überhaupt den Wandel gebracht, dass man von «Sexualität» sprechen konnte. Seit wann konnte man es?
Am Ende sagt er: «Ich freue mich, dass Sie hier sind!» – was mich so verlegen macht, dass ich etwas halb Dummes zu meiner Nachbarin Helga Nowotny sage.
Herr Tomaszewski ist gekommen, für den mein erstes Zimmer vorgesehen war. Ein interessanter, angenehmer Mensch. Abends unten im Essraum erzählt er eine Geschichte, die er von dem Dichter Zbigniew Herbert gehört hat. – Der hatte als Junge mit dem Sohn eines Rabbiners gespielt, dort, wo er ursprünglich herkommt und wohin er jetzt wieder gezogen ist: in Krakau. Sie spielten Verstecken in einem Gartengelände, und der andere fand Zbigniew nicht. So gut hatte er sich versteckt. Der Rabbinersohn verließ enttäuscht das Gelände, ging zu seinem Vater und erzählte ihm das. Der Rabbiner sagte: «Siehst du, so ist es auch mit Gott. Er hat sich versteckt, und keiner sucht ihn.»
22. Oktober 1981. – Die erste Woche endet mit einer Stadtrundfahrt, zu der die Fellows eingeladen sind. Nur sehr wenige nehmen teil, beide Colemans und die charmante Frau Ginsburg, Zielnica und ich. Der große Bus holt uns in der Wallotstraße ab und wir hören: Die Stadt Berlin besteht zu vierzig Prozent aus Forst und Seen. Der Ku’damm, den wir hinauffahren, ist eine drei Kilometer lange, von Bismarck analog zu den Pariser Boulevards gebaute Straße. Wir kommen an der Gedächtniskirche vorbei, der alten Kriegsruine und dem oktogonen Neubau, den es noch nicht gab, als ich 1961/62 in Berlin an der Ecke Lutherstraße/Kleiststraße wohnte. Damals in einem Hinterhaus, vom Vorderhaus stand nur noch als eine Art Toreingang eine Fassadenruine, war man umgeben von einem Ruinenfeld, sah gerade hindurch zur Gedächtniskirche, dem «Hohlen Zahn». Ich wollte einen Roman schreiben und erlebte den Mauerbau. Jetzt steht hier, breit und zwölf Stockwerke hoch, eine Bank.
Wir fahren zum Schloss des Alliierten Kontrollrats, wo links jeweils die Fahne des Landes hängt, das in dieser Woche das Sagen hat, jetzt ist es die englische.
Kreuzberg. Als Erstes ein Haus, aus dem weiße Fahnen heraushängen. Auf der Wand ein Spruch: «Den reißenden Strom nennt jeder gewalttätig, aber das Flussbett, das ihn einengt, nennt keiner gewalttätig.» Alte, löchrige Fassaden und Durchblick in eine Flucht von Hinterhöfen. Häuser, aus denen immer wieder Fahnen hängen. Sie sind besetzt, erfahren wir. Die sanierten Häuser, wie der Senat sie plant, kann hier keiner bezahlen. «Scheiben klirren, und ihr schreit, Menschen sterben, und ihr schweigt.» Der junge Mann, der uns fährt, und die hübsche Studentin, die uns führt, sind aus Uruguay, später erfahren wir, Nachkommen emigrierter Juden.
Das jetzige Kreuzberg erinnert mich an den Häuserkampf in Freiburg vor einem Jahr, nur wirkt die Auseinandersetzung viel harmloser, fast wie ein Dauerzustand. In Freiburg gab es Anfang Juni 1980 über Nacht 1200 Polizisten in der Stadt und Stacheldrahtrollen. Das «Dreisameck»,...