2. Gibt es ein Naturrecht?
Falls es inhaltlich feststehende, dem Menschen vorgegebene Moralnormen gibt, muss es eine außerempirische Wirklichkeit geben, in der diese Normen existieren und vom Menschen erkannt werden können. Die traditionell am weitesten verbreitete Form dieser Sichtweise ist das Naturrechtsdenken. Das Naturrechtsdenken, das gewöhnlich die Erkennbarkeit von Normen der Moral ebenso wie des Rechtes annimmt, geht vor allem auf Aristoteles zurück.[1]
Nach Aristoteles wird die Natur nicht nur von kausalen (ursächlichen), sondern auch von finalen (zielgerichteten) Gesetzmäßigkeiten bestimmt. Dies trifft insbesondere auf die lebende Natur zu. Die normalen Entwicklungsabläufe jedes Lebewesens sind auf gewisse, in der Natur dieses Lebewesens angelegte Ziele hin orientiert, denen sie dienen. So dient etwa der Umstand, dass ein Baum sich dem Licht zuwendet, seinem Wachstum; und dass eine Schwalbe ein Nest baut, dient der Aufzucht ihrer Jungen.
Eine individuelle Schwalbe, die kein Nest baut, verhält sich entgegen den natürlichen Zielen ihrer Art. Ihr Verhalten ist deshalb «unnatürlich» und damit ein Fehlverhalten. Dass solches Fehlverhalten unter Lebewesen gelegentlich vorkommt, dass die Natur selbst also ihre Ziele nicht jederzeit erreicht, steht für Aristoteles nicht im Widerspruch zu dieser Sichtweise. Nicht der tatsächliche Ablauf des Geschehens im Einzelfall ist der Maßstab des Natürlichen, sondern jener Ablauf, der für die Art des betreffenden Lebewesens unter normalen Bedingungen typisch ist.
Nach naturrechtlicher Sichtweise unterliegt somit auch das menschliche Verhalten – entsprechend dem Verhalten jedes anderen Lebewesens – ganz bestimmten natürlichen Zielen. Im Unterschied zu allen anderen Lebewesen hat dabei der Mensch die Fähigkeit, erstens die seiner Natur innewohnenden Ziele zu erkennen und zweitens sein Verhalten bewusst nach diesen Zielen auszurichten. Der Mensch kann sich also frei entscheiden, ob er seiner Natur gemäß bzw. «natürlich» leben will oder nicht.
Die Maßstäbe der menschlichen Natur, also die Normen des Naturrechts, erfassen sowohl das selbstbezogene Verhalten des Menschen als auch sein Sozialverhalten. Das, was jedes menschliche Individuum tun soll (im umfassenden Sinn des Wortes), ist nach dieser Sichtweise identisch mit dem, was für die menschliche Spezies insgesamt als das Normale und Naturgemäße – als das «Natürliche» – betrachtet werden muss.
Diese naturrechtliche Position verdient nicht zuletzt deshalb unsere Beachtung, weil sie keineswegs auf Berufsphilosophen beschränkt ist. Sie bildet vielmehr, vermittelt durch den Aristoteliker und berühmten Kirchenlehrer Thomas von Aquin, bis heute die Grundlage der offiziellen Sittenlehre der katholischen Kirche. Ja, sie begegnet uns sogar im moralischen Alltagsdenken nicht weniger Menschen, die weder durch philosophische noch durch religiöse Lehren unmittelbar beeinflusst sind. Betrachten wir die folgenden Beispiele.
Im Katechismus der katholischen Kirche aus dem Jahr 1993 heißt es zur Begründung der kirchlichen Moralnorm, dass homosexuelle Handlungen «nicht in Ordnung» und «in keinem Fall zu billigen» sind: «Sie verstoßen gegen das natürliche Gesetz, denn die Weitergabe des Lebens bleibt beim Geschlechtsakt ausgeschlossen.»[2] Mit anderen Worten: Weil sexuelle Handlungen, wie sie normaler- oder typischerweise von Angehörigen der menschlichen Spezies vollzogen werden, heterosexuelle Handlungen sind, die zur Zeugung eines Kindes führen (oder jedenfalls führen können), sind nur diese Handlungen der menschlichen Natur gemäß und im Einklang stehend mit dem «natürlichen Gesetz». Homosexuelle Handlungen dagegen, auf die diese Bedingung nicht zutrifft, sind naturwidrig und deshalb als Verstöße gegen das Naturrecht verboten.
Bei einem Großteil unserer Bevölkerung würde eine derartige Ablehnung der Homosexualität zwar heute keine Zustimmung mehr finden. Gleichwohl ist die naturrechtliche Sichtweise als solche nach wie vor weit verbreitet. Um das zu sehen, brauchen wir unser Beispiel nur ein wenig abzuwandeln. Wie würde der Normalbürger in unserer Gesellschaft wohl auf sexuelle Handlungen von Menschen an Tieren reagieren? Vermutlich würden nicht wenige Leute durchaus sagen, solche Handlungen seien moralisch «nicht in Ordnung» – mit der Begründung, es sei «nicht normal», es sei «unnatürlich», wenn ein Mensch bei einem Tier sexuelle Befriedigung sucht.
Es ist nun vermutlich wohl der Fall, dass sexuelle Handlungen an Tieren erheblich seltener sind als sexuelle Handlungen unter Gleichgeschlechtlichen. Dies ändert jedoch überhaupt nichts daran, dass jedenfalls nach naturrechtlicher Sichtweise das eine Verhalten ebenso naturwidrig und aus diesem Grunde falsch ist wie das andere. Wer die naturrechtliche Sichtweise der Ethik teilt, muss konsequenterweise beide Verhaltensweisen verurteilen. Es ist in sich widersprüchlich, sich in dem einen Fall eines Argumentes zu bedienen, das man in dem anderen Fall (etwa aus Anpassung an den Zeitgeist) ablehnt. Wer in diesem Zusammenhang philosophisch denkt, muss so verfahren, dass er die naturrechtliche Sichtweise als solche auf den Prüfstand stellt.
Es gibt mehrere Gesichtspunkte, die gegen jede naturrechtliche Form von Normbegründung sprechen. Zunächst einmal ist es alles andere als einfach, überhaupt einen Sinn mit der Redeweise von Zielen oder Zwecken, die die Natur hat, zu verbinden. Gewöhnlich sprechen wir ja Ziele oder Zwecke nur Lebewesen zu, die zudem mit einem Bewusstsein ausgestattet sind. So würden wir etwa sagen, dass Hans in die Alpen fährt mit dem Ziel, dort Ski zu laufen; das Skilaufen ist also Ziel oder Zweck seiner Reise. Oder wir würden sagen, dass ein Hund zum Gartentor läuft, um dort seinen Herrn zu begrüßen.
Was aber soll es bedeuten, von der Natur als solcher – ganz unabhängig von den einzelnen Lebewesen in ihr, die ihre jeweils eigenen Ziele verfolgen – zu sagen, dass sie, die Natur, Ziele oder Zwecke verfolgt, also mit Absicht etwas in Gang setzt, um damit etwas Bestimmtes zu erreichen? Nur wenn diese Redeweise einen klaren Sinn ergibt, können wir auch mit dem naturrechtlichen Kriterium, der Mensch solle sich in seinen eigenen Zielsetzungen an den «natürlichen» Zielen orientieren, indem er beispielsweise Nachwuchs zeugt, einen Sinn verbinden.
Um der Natur als solcher Ziele zuschreiben zu können, müssten wir ihr als solcher aber offenbar auch ein Bewusstsein zuschreiben. Es lässt sich nun tatsächlich nicht von vornherein vollkommen ausschließen, dass wir genau dies auch wirklich tun müssen. Vielleicht können wir unseren vielfältigen Erkenntnissen und Erfahrungen im Umgang mit der Natur gar nicht angemessen Rechnung tragen, ohne ihr – sei es ihr selbst oder einem für sie verantwortlichen Schöpfer – so etwas wie ein Bewusstsein zuzuschreiben. Wir wollen diese schwierige Frage, deren Erörterung in metaphysische Gefilde führt, hier jedoch auf sich beruhen lassen. Die entscheidenden Einwände gegen die naturrechtliche Sichtweise der Normbegründung sind nämlich von ihr unabhängig; sie greifen auch dann, wenn man bereit ist, die genannte Voraussetzung zu akzeptieren.
Die Frage, von deren Beantwortung offenbar jede Erkenntnismöglichkeit naturrechtlicher Normen abhängt, lautet: Wie lässt sich im Einzelnen herausfinden, ob ein bestimmtes menschliches Verhalten in dem angeführten Sinn «unnormal» oder «unnatürlich» – und damit auch moralisch unerlaubt – ist oder nicht? Gewöhnlich betrachtet der Naturrechtler (ob Philosoph oder Laie), wie schon angedeutet, das als «unnormal» und damit unerlaubt, was die allermeisten Menschen weder tun noch zu tun geneigt sind. Und von diesem Kriterium werden zum Beispiel gewisse sexuelle Verhaltensweisen wie die oben genannten ja auch tatsächlich erfasst. Warum aber wird von dem Naturrechtler nicht etwa auch das Cembalospielen oder das Lesen philosophischer Bücher als «unnormal» eingestuft? Offenbar hat der Naturrechtler gegen diese Verhaltensweisen, obschon auch sie nur bei ausgesprochenen Minderheiten in der Bevölkerung vorkommen oder Anklang finden, keine moralischen Einwände.
Vielleicht würde der Naturrechtler entgegnen, diese Verhaltensweisen seien von mir in einer zu speziellen Weise definiert. Es gehöre durchaus zur Natur des Menschen, sich auf irgendeine Weise eben auch ästhetisch sowie theoretisch oder kontemplativ zu betätigen; die spezielle Weise der Betätigung sei dabei den besonderen Anlagen und Wünschen des jeweiligen Individuums überlassen. Diese Entgegnung aber hilft dem Naturrechtler nicht aus der Klemme. Denn mit derselben Berechtigung kann man sagen, zur Natur des Menschen gehöre es, sich auf irgendeine Weise sexuell zu betätigen; die spezielle Weise der Betätigung aber sei dem Einzelnen überlassen. Wenn der Naturrechtler aber wirklich nur solche sexuellen Handlungen als «natürlich» einstufen wollte, die der «Weitergabe des Lebens» dienen können, so müsste er ja auch den heterosexuellen Verkehr von Menschen jenseits eines bestimmten...