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E-Book

Theater für Engel

Das Leben als religiöses Experiment

AutorProf. Tomás Halík
VerlagVerlag Herder GmbH
Erscheinungsjahr2019
Seitenanzahl Seiten
ISBN9783451815645
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis16,99 EUR
Gott begegnet dem Menschen im Leben oft still und im Verborgenen, ohne dass es dieser selbst bemerkt. Tomá? Halík spürt diesen Begegnungen nach und erzählt den ständigen Dialog mit Gott nach. Er skizziert, was der Anruf und der Anspruch Gottes ist und wie der Mensch darauf antworten kann. Ein existenzielles Buch, das sich nicht nur an den gläubigen Christen richtet, sondern auch an Sinnsucher und Atheisten. Er sagt: 'Ich konzentriere mich mehr auf die Art des Glaubens als auf den Inhalt des Glaubens. Glaube und Unglaube sind für mich nicht Aufstellungen von Überzeugungen hinsichtlich metaphysischer Fragen, sondern elementare Grundeinstellungen zum Leben: Wie erleben wir elementare Lebenssituationen und wie interpretieren wir sie?'

- Zentrales Thema von Tomá? Halík mit anregenden Gedanken - Spirituell eindringlich, existenziell grundlegend

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Leseprobe

Gott wohnt in der Möglichkeit


Wenn Winston Smith, der Held aus Orwells Roman 1984, den Ermittler zu fragen wagt, ob der Große Bruder tatsächlich existiert, bekommt er die folgende Antwort: »SIE existieren nicht!« (It is YOU who doesn’t exist!)

Den Roman Orwells lese ich nicht als eine Utopie über totalitäre Regime oder eine Satire auf sie, sondern (neben dem Prozess Kafkas) als die vielleicht ernsthafteste prophetische Mahnung oder Warnung vor den verborgenen autodestruktiven Kräften unserer Welt; und gerade diesen Satz (ähnlich wie das Gespräch des Priesters mit Josef K. im Prozess) halte ich für die zentrale theologische Botschaft des Buches.

Der Große Bruder ist (ähnlich wie der rätselhafte Kopf der Geheimorganisation in Chestertons The Man Who Was Thursday) in Paradoxien und Ambivalenzen verhüllt, ist nicht gegenwärtig und zugleich allgegenwärtig. Der Große Bruder, der verborgene Gott jener Welt, in der sich die Lüge Wahrheit und der Hass Liebe nennt, will mit der Einschüchterung nicht nur den Gehorsam seiner Untergeordneten gewinnen, sondern seine potenziellen Widersacher und Rebellen dadurch besiegen, dass er sie zu dem einzigen zwingt, was sich nicht erzwingen lässt, was er selbst nicht kennt und zu dem er als einzigem tatsächlich nicht in der Lage ist, nämlich zur Liebe.

Smith verliert seinen Versuch, die Freiheit zu erlangen, als er beginnt, den Großen Bruder zu lieben; Liebe ohne Freiheit ist nämlich keine Liebe, sondern ein besiegter, erniedrigter, jedoch nicht gewandelter und nicht überwältigter Hass, der von Angst gezeugt und genährt wird.

Dem Großen Bruder ergeht es wie allen Dämonen, die so tun, als seien sie Gott: Damit er existieren kann, darf der Mensch (die menschliche Wahrheit und Freiheit) nicht existieren. Wenn der Mensch zum Menschen wird, wenn er wirklich menschlich, »in der Wahrheit leben« und als ein freier Mensch handeln wird, dann offenbart sich dadurch der Große Bruder als etwas Unwirkliches, als Lüge, als Chimäre. Wer ein totalitäres Regime (wenn auch noch nicht eines von der Perfektion der Orwell’schen Vision) nicht nur überlebt, sondern auch als eine geistliche Erfahrung durchlebt hat, weiß, wovon in dem Roman die Rede ist.

An den Großen Bruder zu glauben beginnen, setzt voraus und bedeutet daran zu glauben beginnen, dass ich nicht wirklich bin; ja sogar mehr noch: Je mehr ich mein wirkliches Leben aufgebe, meine Wahrheit und meine Freiheit, auf denen mein Menschsein wirklich steht, desto mehr Platz räume ich dem Großen Bruder ein; desto mehr erschaffe ich ihn mit meiner Resignation und halte ihn am Leben. Auch wenn es viele Gründe geben mag, zu denken, dass ich bereits in die Welt des Großen Bruders geworfen wurde, dass er vor mir hier war, dass er stärker ist und dass ich gegen das Ganze doch nichts unternehmen kann, kann ich doch in einem gewissen Augenblick meine Situation und mein ganzes Leben dadurch verändern, dass ich dafür die Verantwortung übernehme, dass ich mit allen Konsequenzen den Gedanken zu Ende zu denken versuche, vor dem der Große Bruder und sein gesamter Machtapparat wirklich Angst haben. Dass der Große Bruder in der Realität nicht wirklich existiert, dass nicht er der Schöpfer und der Garant meiner Welt ist, sondern dass ich deren Schöpfer bin; ich bin nicht von ihm abhängig, sondern er von mir.

Der Große Bruder überlebte die diktatorischen Regime. Nach Gilles Lipovetsky6 (französischer Autor und Philosoph, Anm. des Lektorats) ist das Hauptinstrument der Macht in unserer Welt nicht mehr die Gewalt, sondern der Mechanismus der Verführung. Es ist nicht mehr nötig, einzuschüchtern, es ist möglich, zu versprechen. In der Politik, in der Wirtschaft, aber auch in der Kultur und in der religiösen Szene von heute begegnen wir der allgegenwärtigen Werbung, suggestiven Bildern von Angeboten, einer unablässigen Gehirnwäsche. In Diktaturen fürchtete sich der Große Bruder vor den Menschen, die aufgehört haben, vor ihm Angst zu haben, die trotz aller Risiken auch in der Zeit der Unfreiheit begannen, sich wie freie Menschen zu verhalten. In einer Gesellschaft des Angebots unendlicher Möglichkeiten fürchtet er sich dagegen vor jenen Menschen, die anstatt Werbeslogans zu konsumieren mit dem eigenen Gehirn zu denken beginnen, die statt mit den Augen der Kameras mit den eigenen Augen zu schauen beginnen, die, anstatt »mystisch« am virtuellen Leben von Prominenten zu partizipieren wie Parasiten, ein eigenes Leben zu leben beginnen. Es ist kein Zufall, dass eines der typischsten Massenmedienprodukte der Unterhaltungsindustrie, jene Lieblingsfernsehserie, in der die Menschen ihr Privatleben an ein anonymes Publikum verkaufen, Big Brother heißt. Der allgegenwärtige und trotzdem unsichtbare Große Bruder wohnt heute nicht in einem sichtbaren oder verborgenen Führungszentrum, wie uns paranoide Verschwörungstheorien einreden wollen. Sein Hauptverbündeter, derjenige, der ihn wirklich schuf und ihn am Leben hält (dadurch, dass er sich von ihm führen lässt) ist – wenn wir den Terminus Heideggers entlehnen dürfen – das »Man«, der nicht authentisch lebende »beliebige Mensch«, der lebt, »wie man in der Welt lebt«. (Es ist ein Mensch, dessen Prototyp der Prokurist Josef K. aus dem Prozess Kafkas ist, der nicht in der Lage ist, zu begreifen, worin seine Schuld liegt, wenn er niemandem etwas Böses getan hat und niemandem konkret etwas schuldet.)

***

Was war mit dem Christentum geschehen, wenn Ludwig Feuerbach, der Begründer des humanistischen Atheismus, den christlichen Gott derart als den Großen Bruder sehen konnte, der ein Konkurrent der Freiheit, Wahrheit und Wirklichkeit des Menschen ist?

Geben wir zu, dass es wirklich so war, dass der neuzeitliche Mensch so sehr den christlichen Gott vergaß, der in der Welt durch den gekreuzigten Menschen Jesus repräsentiert wird, und stattdessen einem Gott den Vorrang gab, den er selber erschaffen hatte, einem mächtigen Gott, in den er seine Wünsche, seine Machtansprüche und seine Ängste projizierte. Dorothee Sölle (evangelische Theologin, Anm. des Lektorats) weist zu Recht darauf hin, dass hinter den heute häufig gestellten Fragen »Wo war Gott in Auschwitz?«, »Warum lässt Gott Kriege zu?« gerade dieser falsche, zutiefst unchristliche Begriff eines mächtigen Gottes steht, der uns unserer eigenen Verantwortung beraubt.

In diesem Sinne können wir Christen den Atheisten à la Feuerbach, Nietzsche, Freud oder Marx sehr dankbar sein, dass sie für uns diesen Götzen ablehnten und zerschlugen, diese Karikatur des christlichen Gottes, die durch die Projektion menschlicher Wünsche und Ängste erschaffen wurde. Und wenn sie für uns diesen wichtigen Schritt getan haben, welcher der erste Schritt jedes Glaubens sein sollte, die Säuberung des Raumes für einen Gott ohne Götzen, sollten wir auch ihnen mit einer ähnlich befreienden Kritik jenes Humanismus dienen, der im Kampf mit diesem fiktiven Gott nicht bemerkte, wie er sich selbst bei ihm »infizierte«.

Wenn wir zugeben, dass die Feuerbach’sche Diagnose der verbreiteten modernen Vorstellung Gottes richtig war, dass diese wirklich »nichts als« die Frucht einer menschlichen Projektion war, müssen wir jedoch hinzufügen, dass der Atheismus eine sehr riskante Therapie für die »religiöse Entfremdung« bot. Wenn der moderne Mensch gemäß dem Ratschlag Feuerbachs »Gott vom Himmel zurück in sich eingezogen hat«, trug er damit nicht zur wirklichen Genesung des Menschen bei, sondern verursachte eine Inflation und eine Hypertrophie des Egos, eine narzisstische Vergötterung von sich selbst. Gott als der Große Bruder, geschaffen durch menschliche Unverantwortlichkeit, Passivität, Aspirationen und Ängste, wurde damit nicht überwunden, sondern internalisiert, verinnerlicht; angesiedelt jetzt im Selbstbewusstsein des Menschen, ist er viel gefährlicher, als zu der Zeit, als er »im Himmel« war.

Der unbewusste, unbekannte, falsche Gott im Innersten des Herzens des Selbstbewusstseins eines Menschen des atheistischen Humanismus ist die eigene Quelle der Macht, die nicht in der Lage ist, sich selbst zu beherrschen. Dieser Gegensatz zur Menschwerdung, von der der christliche Glaube spricht, wird in einer Lebens­praxis zum Ausdruck gebracht, die ein wirkliches Gegenteil des Christentums ist. »Binde dich nicht, sprenge die Fesseln«, lautet der Werbeslogan auf den Plakaten des Großen Bruders von heute.

Die Aufgabe der Christen im Dialog mit dem Atheismus besteht darin, den Erben Feuerbachs zu beweisen, dass der Gott, an den wir glauben, nicht aus der Resignation des Menschen auf seine unverwirklichten Möglichkeiten lebt, sondern dass im Gegenteil Gott diese Möglichkeiten aufzeigt, sie eröffnet und zugänglich macht; dass er nicht als Tyrann auf uns zukommt, der uns unserer Möglichkeiten und unserer Freiheit beraubt, sondern gerade als Möglichkeit. Als Möglichkeit, die unsere Freiheit nicht nur voraussetzt und anerkennt, sondern sie auch wesentlich verbreitert; gerade bei Gott und mit Gott ist nichts unmöglich, lesen wir in der Bibel. Maria ist selig als Frau des Glaubens – und zwar deshalb, weil sie zu glauben begann, dass für Gott nichts unmöglich ist (vgl. Lk 1,37) – und dieser Glaube bedeutete für sie nicht, dass sie auf ihr Menschsein und dessen Möglichkeiten verzichtete, sondern gerade den Mut hatte, die Schwelle der Welt jener neuen Möglichkeiten zu überschreiten, die sich vor ihr öffneten.

Der Streit des Glaubens und des Unglaubens ist in seinem Wesen...

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