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E-Book

Theatergeschichte

AutorGünther Erken
VerlagReclam Verlag
Erscheinungsjahr2014
Seitenanzahl300 Seiten
ISBN9783159606163
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis8,99 EUR
Das Theater ist im Abendland gleich dreimal erfunden worden: Zum ersten Mal im alten Athen als Darstellungs- und Verhandlungsort einer ganz neuen politischen Lebensform, der Demokratie; zum zweiten Mal in Rom als professionalisierter Kultur- und Unterhaltungsbetrieb; und ein drittes Mal nach mehr als 600 Jahren Spielpause und der kollektiven Theatralität des Spätmittelalters, indem man sich an die antiken Theaterformen erinnerte. Da war der Weg frei für das Schauspieler-Theater der Commedia dell'Arte, für Shakespeare, Molière, Lessing, Goethe; das Theater wurde literatur- würdig und zu einer Kunst, die bis heute alle Sinne und alle Talente zusammenbringt: dramatische Dichtung, die Körperkunst des Schauspiels, die Konzeptkunst der Regie, die bildende Kunst der Bühnen- und Kostümgestaltung und der Theaterarchitektur, die Bühnenmusik. Die reich illustrierte Theatergeschichte des renommierten Theaterwissenschaftlers und -historikers Günther Erken zeichnet diesen imposanten, zweieinhalb Jahrtausende umfassenden Prozess griffig, pointiert und leicht lesbar nach.

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Leseprobe

Griechisches Theater des 5. Jahrhunderts v. Chr.


Unsere Theatertradition beginnt im antiken Athen. Hier kamen erstmals die wesentlichen Faktoren zusammen, die Theater als gesellschaftliche Einrichtung begründeten. Das Theater, das damals entstand, hat für das nachfolgende europäische Theater definitorische Bedeutung, ohne dieses auszudefinieren. Es stand zwar noch in einem kultischen Rahmen, beanspruchte aber zugleich politische und künstlerische Geltung. Es stiftete Öffentlichkeit und diente der geistigen Auseinandersetzung. Die Polis, jenes verfassungsstaatliche Gemeinwesen, das die Königs- und Adelsherrschaften der Alten Welt ablöste, vergewisserte sich im Theater ihrer Lebensgrund­lagen.

Das erste abendländische Theater entstand zugleich mit der ersten Demokratie der Weltgeschichte. Dass auch sogenannte Tyrannen an seiner Wiege standen, Periander in Korinth, Kleisthenes in Sikyon, Peisistratos in Athen, widerspricht dem nicht, waren doch gerade sie, wenn auch ungewollt, Geburtshelfer der neuen politischen Lebensform. Erweiterte die demokratische Polis den Handlungsspielraum ihrer Bürger und machte Politik zu ihrer zentralen Beschäftigung, so musste auch das Theater ein Organ des Politischen sein, musste teilnehmen am öffentlichen Disput über die Polis-Probleme, ihre Wertorientierungen prüfen und fördern. Der erste Ort theatralischer Darstellung war im Athen des 6. vorchristlichen Jahrhunderts denn auch die Agora, die kultisches Zentrum, politische Versammlungsstätte und Markt in einem war. (Die römische Bezeichnung Forum vermittelt uns noch etwas von der Bedeutungsfülle des antiken Hauptplatzes.) Erst um die Wende zum 5. Jahrhundert, so vermutet man, haben die Aufführungen ein eigenes Theater am Südhang der ­Akropolis erhalten.

Sosehr die Institution Theater der Volksversammlung nahekam, so fest blieb sie andererseits dem Kult verbunden. Politik und Religion waren ja keine Gegensätze. Es waren sozialpolitische Beweggründe, aus denen heraus Peisistratos einen speziellen Kult neu organisierte: den des Dionysos. Dieser Gott gehörte, der älteren Forschung zufolge, nicht zu den altetablierten wie etwa Zeus, Demeter und Poseidon; sein Kult habe sich erst spät bei den Griechen verbreitet, und dies vor allem bei den niederen Volksschichten und der Landbevölkerung, auf die sich der Tyrann Peisi­stratos stützte. Das wird jedoch neuerdings relativiert: Dionysos sei kein eingewanderter Gott, wie die Handlung der Bakchen des Euripides nahelegen könnte, sondern von alters her, z. B. in mykenischen Inschriften, bezeugt. Er habe auch keine besondere Affinität zum einfachen Volk, und Peisistratos habe andere Kulte ebenso gefördert.

Die altgriechische Redensart »Was hat dies mit Dionysos zu tun?« spielte darauf an, dass der Gott offensichtlich nicht die erwartete dominierende Rolle in den Theaterstücken spielte. In den überlieferten Stücken kommt er jedenfalls nicht häufig vor, und wo er angerufen wird oder auftritt, bleibt sein Bild widersprüchlich. Das verweist auf seine Haupteigenschaft, eine extreme Ambivalenz. Sein Kult enthielt Züge des Rauschhaften, der Ekstase und des Schreckens, stiftete aber auch in besonderem Maße Gemeinschaften, Feierfreude und Versöhnung. Ungewöhnlich, dass er sein Fest selbst mit den Menschen mitfeierte, wie es auf Bildzeugnissen dargestellt ist. Sogar die Hoffnung auf ein Leben im Jenseits konnte sich mit ihm verbinden.

Athen: Dionysos-Theater, Akropolis, Stadtzentrum [1]

Gruppentanz zur Musik des oboen-ähnlichen Doppel-Aulos und die Verwendung von Masken waren wesentliche Elemente seines Kults, welche die Anbindung des Theaters an ihn begünstigt, ja nahegelegt haben mochten. Jedenfalls führte Peisistratos um das Jahr 534 v. Chr. in die Städtischen oder Großen Dionysien – es gab in Attika noch andere Staatsfeste zu Ehren des Dionysos – den Tragödienwettkampf ein. Der legendäre Thespis gewann dabei einen Preis.

Wir stoßen hier neben dem politischen und kultischen auf ein drittes Moment des frühen antiken Theaters, das für die ganze griechische Welt typisch war: den Agon (Wettstreit). Wie die Olympischen Spiele, so beruhten auch die Athener dramatischen Festspiele auf dem agonalen Prinzip. Musische Wettkämpfe wie den der Rhapsoden, die die homerischen Epen vortrugen, gab es bereits, und das Wettsingen der Dithyramben-Chöre, der dionysischen Kultlieder, aus denen die Tragödie entstanden sein soll, blieb noch lange mit den Dionysien verbunden.

Im Theater-Agon des 5. Jahrhunderts traten drei Dramatiker und Produktionsgruppen mit je drei Tragödien und je einem Satyrspiel (anfangs häufig Tetralogien) gegeneinander an, seit 486 bewarben sich außerdem fünf Autoren mit je einer Komödie um Preise, die eine Jury nach einem ausgeklügelt objektiven Verfahren vergab. So war das Theater in dreifacher Hinsicht ein Gemeinschaftserlebnis, im religiösen Vollzug, in der politischen Selbstdarstellung und Rechenschaft und im Appell an ein musisches Urteil. Es war kultische Handlung, staatliche Feier und künstlerische Leistungsschau in einem.

Wichtigstes und ältestes Organ des Theaters war der Chor, nach dem oft die Stücke benannt wurden. Er agierte im Zentrum, auf der Orchestra (was ›Tanzplatz‹ heißt), und war vom Einzugs- bis zum Auszugslied gegenwärtig, bei allem Funktionswechsel eine innerdramatische Öffentlichkeit, solange das Spiel dauerte.

In den gesungenen Chorpartien der Tragödien werden oft Mythen rekapituliert, so wie im Dithyrambos, der in später (spärlich überlieferter) literarischer Gestalt eine Art mythologischer Ballade war. Das macht es plausibel, wenn Aristoteles in seiner Poetik die Tragödie aus jener Gattung herleitet. Es soll Thespis gewesen sein, der dem Chor zum erstenmal einen »Antworter« oder »Ausleger« (Hypokrites) gegenüberstellte, einen dramatischen Sprecher, nicht oratorischen Vorsänger. Damit gab es die Rolle des Protagonisten und ein dialogisches Prinzip. Aischylos entwickelte die Konfiguration weiter und führte den zweiten Schauspieler, oft als berichtenden Boten, ein, Sophokles den dritten, welche Errungenschaft wiederum Aischylos in seinen letzten Werken übernahm. Bei dieser Zahl blieb es, aus welchen Gründen auch immer. (Vielleicht ging es auch hier um den agonalen Reiz, eine dramaturgische Schwierigkeit zu überwinden.) Die Erweiterung des Personals vergrößerte das Gewicht der Handelnden gegenüber dem primär reflektierenden Chor und machte den Ablauf beweglicher. Denn nun konnten die jeweils abgegangenen Schauspieler sich umkleiden und in anderen Rollen wiederauftreten, also neue einführen oder alte weiterführen, gelegentlich sogar die eines Kollegen übernehmen.

Diese theatralische Bereicherung, die zwei Stilbereiche kombinierte, die musikalische Chorlyrik und den gesprochenen Dialog, ist aber nicht gleichzusetzen mit einer allzu modern verstandenen »Dramatisierung«. Das von Aristoteles charakterisierte Drama entspricht kaum dem von Brecht als »aristotelisch« bezeichneten dramatischen Theater (als Gegensatz zu seinem »epischen«). In Die Perser des Aischylos, als ältestes erhaltenes (472) keineswegs ein primitives oder Anfänger-Stück, spielen die zwei Schauspieler vier Rollen, die weitgehend nichtdramatische Reden führen (Traumerzählung, Botenbericht, Prophetie), und der Chor bedient sich vorwiegend der aus dem Schiffskatalog der Ilias bekannten »Katalogdichtung« – wie der dreimaligen detaillierten Truppenschilderung mit ihrer Magie der bloßen Namen – oder der rituellen Formen der Klage und Totenbeschwörung. Soll man das »prädramatisch« nennen? Diese Bezeichnung erscheint auch nicht gerade glücklich, weil sie eine naturgesetzliche Entwicklung über das Dramatische, etwa Shakespeares, bis hin zum »Postdramatischen« suggeriert und so eine Bewertung aus bloßem Systemzwang nahelegt.

Die Dramaturgie der überlieferten Tragödien ist häufig stringent, zügig, zielorientiert und ebenso oft umwegig, sprunghaft, zerklüftet. Letzterer Eindruck wird verstärkt durch den Chor, dessen wichtige Rolle übersehen wird, wenn die Erwartung ganz auf die dramatische Narration gerichtet ist. Die Bedeutung des Chors brauchte vom klassisch-antiken Theater nicht eigens exponiert und erspielt zu werden, sie gehörte zur Voraussetzung, wie Chorisches ja überhaupt ein wesentlicher Bestandteil der damaligen Festkultur war. Diese Erfahrung fehlt uns Mitteleuropäern heute zum Verständnis.

Der Chor ist in der griechischen Tragödie und Alten Komödie ein kostbares, vielseitig verwendetes Gestaltungsmedium, durch seinen Gruppencharakter und sein Spiel von den anderen Rollen geschieden, in wechselnden Funktionen am Bühnengeschehen passiv teilnehmend, doch nie als Person darin aufgehend. Er vermittelt zwischen dem Dargestellten und dem Publikum (nicht ganz konstant in seiner Haltung), er markiert Kontraste, verdeutlicht Konflikte, versprachlicht Probleme, weist auf Parallelen und Normen hin und steuert insgesamt die Aufmerksamkeit der Zuschauer. So ist er eine komplexe Aufgabe für jede Interpretation und kein tradi­tionelles kultisches Relikt. Im 20. Jahrhundert ist er, auch außerhalb von Antiken-Inszenierungen, als ein effektives Theatermittel wiedererweckt worden.

Thematisch sind Die Perser als letztes bekanntes Zeitstück eine Ausnahme. Die entscheidende Seeschlacht bei Salamis (480), die das Abendland endgültig vor der persischen Invasion rettete und bei der Aischylos selbst mitkämpfte, wird nicht als Sieg der Griechen – keiner...

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