Der Begriff Sozialpolitik entstand in Deutschland mit dem Beginn der Industrialisierung und hat sich im Laufe der Geschichte mehrmals geändert.[5] Häufig wird staatliche Sozialpolitik verstanden bzw. definiert als die Maßnahmen, die der Sicherung des Einkommens im Fall von Berufs- oder Erwerbsunfähigkeit, Krankheit, Arbeitslosigkeit, Alter, Unfall, Invalidität oder Tod des Ernährers dienen. Dies ist jedoch nur ein Teilbereich staatlicher Sozialpolitik und kann als Definition nicht ausreichen, da die Aufgaben weit über dieses Spektrum hinausgehen. So zählen Lampert/Althammer folgende weitere Aufgabenbereiche auf:[6]
Arbeitnehmerschutz
Arbeitsmarktpolitik
Ausgestaltung der Betriebs- und Unternehmungsverfassung
Wohnungs-, Familien- und Bildungspolitik
Mittelstandsorientierte Sozialpolitik
Einkommens- und Vermögensverteilung
Jugend-, Alten- und Sozialhilfe
Internationale und supranationale Sozialpolitik
Die staatliche Sozialpolitik umfasst somit alle in Abbildung 1 dargestellten Bereiche.
Um zu einer allgemein gültigen Definition zu kommen, ist es sinnvoll Sozialpolitik nicht auf die vergangene oder gegenwärtige Gesellschaft zu beziehen und von bestimmten Zielen, Objekten, Trägern, Grundsätzen und Mitteln zu abstrahieren.[7] Des Weiteren ist es sinnvoll, wie in der Literatur üblich, zwischen praktischer und wissenschaftlicher Sozialpolitik zu unterscheiden.[8]
Abbildung 1: Bereiche der Sozialpolitik
Quelle: Eigene Darstellung, nach Lampert, H./Althammer, J., Lehrbuch, 2004, S. 165.
Bei dem Versuch einer Definition der praktischen Sozialpolitik ergibt sich das Problem einer sehr engen Definition (Besserung der Lage für Industriearbeiter) und einer sehr weiten Definition (allgemeine Gesellschaftspolitik).[9] In dieser Arbeit soll der Definition von Lampert/Althammer gefolgt werden. Diese beziehen sich auf eine weite Definition der praktischen Sozialpolitik:
„In diesem Sinne lässt sich praktische Sozialpolitik definieren als jenes politische Handeln, das darauf abzielt, erstens die wirtschaftliche und soziale Stellung von wirtschaftlich und/oder sozial absolut oder relativ schwachen Personenmehrheiten durch den Einsatz geeignet erscheinender Mittel im Sinne der in einer Gesellschaft verfolgten gesellschaftlichen und sozialen Grundzielen (freie Entfaltung der Persönlichkeit, soziale Sicherheit, soziale Gerechtigkeit, Gleichbehandlung) zu verbessern und zweitens den Eintritt wirtschaftlicher und/oder sozialer Schwäche im Zusammenhang mit dem Auftreten existenzgefährdender Risiken zu verhindern“[10]
Die Definition hat in der Literatur große Zustimmung gefunden. Viele Autoren greifen darauf zurück, da diese Begriffsbestimmung eine historische Bindung und eine allzu allgemeine Ausrichtung auf den Begriff der Gesellschaftspolitik vermeidet. Außerdem erlaubt sie die Anpassung an gesellschaftliche Veränderungen.[11]
Ohne jetzt auf die Aufgaben und die Einordnung der Sozialpolitik als Wissenschaft sowie die Diskussion der Sozialpolitik als Wissenschaft weiter einzugehen, soll auch hier wieder die Definition von Lampert/Althammer herangezogen werden.[12] Die Autoren definierten Sozialpolitik als Wissenschaft wie folgt:
„Sozialpolitik ist die grundsätzliche wissenschaftsautonome systematische, d.h. möglichst vollständige und nach sachlogischen Gesichtspunkten geordnete Darstellung und Analyse realer und gedachter Systeme, Systemelemente und Probleme der Sozialpolitik mit dem Ziel, mit Hilfe frei wählbarer, geeignet erscheinender wissenschaftlicher Methoden objektive, d.h. intersubjektiven Überprüfungen standhaltende Erkenntnisse über praktiziertes sozialpolitisches Handeln und über mögliche Handlungsalternativen zu gewinnen.“[13]
Die folgende Abbildung 2 fasst die Definitionen der Sozialpolitik in einem Überblick zusammen.
Auch im Bereich der Ziele der Sozialpolitik gibt es unterschiedliche Auffassungen. So wird in der Literatur häufig zwischen zwei und drei Zielen unterschieden. Folgt man den Autoren, die zwei Ziele der Sozialpolitik nennen, so sind diese Gerechtigkeit und Sicherheit.[14] Andere Autoren zählen als drittes Ziel noch die Freiheit hinzu.[15]
Im Folgenden sollen nun alle drei Ziele kurz erläutert werden. Betrachtet man das Freiheitsziel, so ist zwischen formaler Freiheit und materieller Freiheit zu unterscheiden. Bei der formalen Freiheit handelt es sich um die durch den Rechtsstaat eingeräumten Freiheiten. Wichtige sozialpolitische Freiheitsrechte sind z. B. die freie Wahl des Arbeitsplatzes, die Tarifautonomie u. a.. Diese Form der Freiheit übersieht aber, dass die formale Freiheit je nach Individuum unterschiedlich genutzt wird, denn Vermögen, Einkommen und Bildung beeinflussen im großen Maße die Möglichkeit von diesen Freiheitsrechten Gebrauch zu machen und selbst gesteckte Ziele zu erreichen. Somit ist gleiche formale Freiheit mit tatsächlicher Ungleichheit verbunden, deshalb muss es Ziel der Sozialpolitik sein, die materiellen Voraussetzungen dafür zu schaffen, dass jede Person diesen Freiheitsspielraum auch nutzen kann.[16]
Abbildung 2: Definition der Sozialpolitik
Quelle: Eigene Darstellung.
Das zweite Ziel, die Gerechtigkeit, wird von einigen Autoren auch als oberstes Anliegen oder als Hauptaufgabe der Sozialpolitik bezeichnet.[17] Es wird aber oft übersehen, dass die Bestimmung der Gerechtigkeit zu den schwierigsten Aufgaben der Sozialpolitik gehört. Folgt man der Auffassung, dass Gerechtigkeit aus rein formaler Sicht, die Gleichbehandlung gleicher Tatsachen ist, kommt man schnell in einen Konflikt zu bestimmen, was Gleichbehandlung ist und wie man gleiche Tatbestände interpretiert. Zur Bestimmung von Gerechtigkeit sind somit Beurteilungskriterien nötig. Diese Kriterien können Bedürftigkeit, Leistung, Mühe und Leid sein. Um den Begriff Gerechtigkeit weiter zu spezifizieren, wird in der sozialpolitischen Diskussion zwischen Verteilungsgerechtigkeit im engeren Sinne, die sich auf Kriterien wie Leistung und Bedarf stützt, und Partizipationsgerechtigkeit unterschieden.[18] Die Abbildung 3 verdeutlicht den erläuterten Sachverhalt noch einmal.
Abbildung 3: Formen der Gerechtigkeit
Quelle: Eigene Darstellung, nach Ott, N., Sozialpolitik, 2003, S. 498.
Der Ansatz der Partizipationsgerechtigkeit soll zunächst eine Teilnahme am Produktionsprozess ermöglichen (Startchancengerechtigkeit) und dann eine gleichberechtigte Teilhabe am Produktionsprozess gewährleisten (Prozesschancengerechtigkeit). Die Startchancengerechtigkeit bezieht sich dabei auf die Ressourcenausstattung der Individuen, wie z. B. das Humankapital und das Realvermögen. Mögliche sozialpolitische Ansatzpunkte zur Gewährung dieser Gerechtigkeitsform sind das Erbrecht sowie die Bildungs- und Familienpolitik. Die Prozesschancengerechtigkeit bedeutet neben der Herstellung gleicher Partizipationsmöglichkeiten zusätzlich die Wahrung dieser im Zeitablauf. Dies führt dazu, dass die Beteiligung am Produktionsprozess weder formal noch faktisch von unbedeutenden persönlichen Merkmalen abhängen darf. Mögliche sozialpolitische Ansatzpunkte sind Diskriminierungsverbote sowie die Gleichbehandlung von Mann und Frau.[19]
Die Verteilungsgerechtigkeit bezieht sich auf die Verteilung von Lasten und Gütern. Sie setzt am Produktionsergebnis an, das zunächst durch den Markt verteilt wird (Leistungsgerechtigkeit). Dieses Marktergebnis wird in den meisten Fällen jedoch als nicht gerecht angesehen, weshalb anhand von zusätzlichen Kriterien eine Umverteilung erfolgt (Bedarfsgerechtigkeit). Die Leistungsgerechtigkeit bedeutet, dass die Verteilung der Güter der erbrachten Leistungen der Individuen entsprechend ihres Beitrags zur Produktion widerspiegeln soll. Die Bewertung erfolgt dabei über die freie Preisbildung am Markt. Das Marktergebnis kann nur als gerecht erachtet werden, wenn der Preisbildungsprozess unverzerrt abläuft, d. h. jede Form von Marktversagen muss bereits im Vorfeld beseitigt sein. Sozialpolitische Ansatzpunkte wären hier direkte Maßnahmen zur Beseitigung oder Minderung dieses Versagens. Selbst beim Fehlen von Mängeln kann das Marktergebnis nur als gerecht gesehen werden, wenn die Partizipationsgerechtigkeit gewährleistet ist. Die Partizipationsgerechtigkeit ist somit eine Voraussetzung für die Leistungsgerechtigkeit. Die Bedarfsgerechtigkeit hingegen, knüpft an die Bedürfnisse der Individuen, gemäß dem Ziel der materiellen Freiheit, an. Da bei einer Verteilung...