Karl Homann
Wirtschaftsethik: Ethik, rekonstruiert mit ökonomischer Methode
Das Ziel dieses Beitrags ist es, die während der letzten drei Jahrzehnte entwickelte Konzeption einer Wirtschaftsethik mit ökonomischer Methode systematisch darzustellen. Dabei zwingen die Vorgaben dazu, die Ausführungen auf den Grundriss zu beschränken, also auf die Theoriearchitektur und die zentralen Fragen und Antworten; für detailliertere Argumentationen sei auf die zahlreichen Beiträge aus den vergangenen Jahrzehnten (besonders Homann und Blome-Drees 1992; Homann 2002, 2003; Homann und Lütge 2013) sowie auf die im vergangenen Jahr erschienene Monographie Sollen und Können. Grenzen und Bedingungen der Individualmoral (Homann 2014) verwiesen.[1]
1. Die Motivation für die Konzeption
Wer sich um ein Verständnis der Funktionszusammenhänge der modernen Gesellschaft mit Marktwirtschaft und Demokratie bemüht, gelangt schnell zu einer Beobachtung, die den Ausgangspunkt der hier vorgestellten Konzeption bildet: Angesichts der vielfältigen moralischen Probleme und Krisen werden in der öffentlichen wie in der akademischen Diskussion mit leichter Hand normative Postulate entwickelt und ultimativ ihre Umsetzung durch jeden Einzelnen gefordert. Dies führte – und führt bis heute – zu dem verbreiteten Moralisieren und Appellieren sowie den spiegelbildlichen Schuldzuweisungen – an die Wirtschaft, die Politik und dergleichen mehr –, ohne dass die Restriktionen in Betracht gezogen würden, denen die Akteure in einer Marktwirtschaft mit Wettbewerb und Gewinnstreben der Unternehmen unterliegen; ja, die moralische Empörung über die vielen beklagenswerten Zustände in der Welt führte nicht wenige, auch wohlmeinende, Kritiker zu einer Ablehnung des Gesellschaftssystems in toto bis hin zur Gesinnungsmilitanz. Selbst ein so bedeutender Denker wie Hans Jonas plädierte in seinem Buch Das Prinzip Verantwortung 1979 aus moralischen Gründen für »eine wohlwollende, wohlinformierte und von der richtigen Einsicht beseelte Tyrannis« (Jonas 1984, S. 262).
Den theoretischen Niederschlag fand und findet diese Denkweise in einem systematischen Gegensatz von Moral und Ökonomie, von Ethik und Ökonomik, wofür man sich in der Regel auf Immanuel Kant berufen zu können glaubt. Diese Denkweise soll hier als Dualismus in dem Sinne bezeichnet werden, dass sich das konkrete Handeln zwei normativen Forderungen oder Werten gegenübersieht, die sich weder aufeinander noch auf eine gemeinsame Wurzel zurückführen lassen, so dass sich der Handelnde jeweils entscheiden muss, welcher Forderung, welchem Wert er den Vorrang gibt. Da normativ aber Moral und Ethik der Primat gegenüber Ökonomie und Ökonomik gebührt, muss die ökonomische (System-)Logik durchbrochen, gebändigt, domestiziert werden.
Diese Vorstellung gibt Anlass zu der Sorge, dass dann, wenn zwischen beiden Forderungen wirklich ein systematischer Gegensatz bestehen sollte, unter den systemischen Bedingungen der modernen Gesellschaft am Ende immer die Moral den Kürzeren ziehen wird. So wenig man mit Moral die naturwissenschaftlichen Gesetze überwinden kann, so wenig kann man mit dem »guten Willen« Kants allein die grundlegenden ökonomischen Gesetzmäßigkeiten außer Kraft setzen. Positiv formuliert: Moral lässt sich im Alltag nicht gegen, sondern nur in und mit den ökonomischen Gesetzmäßigkeiten realisieren und stabil halten.
Aus dieser Sorge resultiert das Bestreben, einen Theorierahmen zu entwerfen, der den Menschen in den Strukturen der modernen Welt eine praktikable und gleichermaßen ökonomisch wie ethisch tragfähige Orientierung zu geben vermag. Es geht in dieser Konzeption also um eine ›Versöhnung‹ von Moral und Marktwirtschaft, von Ethik und Ökonomik, eine Versöhnung, die den Anspruch erhebt, methodisch sauber und reflektiert entwickelt zu sein.
2. Begriffe und Methode
Unter Moral wird im Folgenden der Komplex von Normen und Idealen verstanden, der das Handeln von Personen leiten soll und dann, wenn diese Personen dem Sollen nicht Folge leisten, zu Gewissensbissen, Scham und Reue führt. Unter Ethik wird die wissenschaftliche Theorie solcher Sollensforderungen verstanden. Analog das Verständnis von Ökonomie und Ökonomik: Die Ökonomik ist die wissenschaftliche Theorie der Ökonomie, wobei unter der Letzteren gewöhnlich die »Wirtschaft« verstanden wird; dem vorliegenden Beitrag liegt allerdings das allgemeinere Verständnis von Ökonomik als einer Theorie des von individuellen Vorteils-/Nachteils-Kalkulationen geleiteten Handelns und seiner Bedingungen und Folgen zugrunde.
Als Folge dieses Ökonomik-Verständnisses wird unter Wirtschaftsethik nicht eine Ethik für die Wirtschaft verstanden, sondern eine allgemeine, traditionell philosophische Ethik, die mit der ökonomischen Methode, also mit der individuellen Vorteils-/Nachteils-Grammatik, rekonstruiert wird. Die Bezeichnung ökonomische Ethik wird für diese Konzeption abgelehnt, weil sie insinuiert, es gebe weitere, inhaltlich und systematisch davon unterschiedene Ethiken wie eine philosophische, eine biologische, eine psychologische oder eine soziologische Ethik. Eine solche allgemeine Ethik kann allerdings – in Abhängigkeit von unterschiedlichen Fragestellungen – mit verschiedenen wissenschaftlichen Methoden entwickelt werden. Der spezielle Vorteil einer ökonomisch rekonstruierten Ethik liegt darin, dass sie in der Lage ist, Moral in und mit den grundlegenden ökonomischen Gesetzmäßigkeiten zur Geltung zu bringen. Sie allein ist dadurch in der Lage, über ein bloßes Sollen hinauszukommen und das Problem der Implementation moralischer Sollensforderungen unter den systemischen Bedingungen der Moderne erfolgreich anzugehen, weil gemäß dieser Denkweise das moralische Handeln der einzelnen Akteure mit individuellen Vorteilserwartungen verbunden wird.
Sofern es um die systematischen Probleme einer Ethik unter den Bedingungen von Marktwirtschaften mit Wettbewerb und Gewinnstreben der Unternehmen geht, wird im Folgenden nicht zwischen Wirtschaftsethik und Unternehmensethik unterschieden: Die Erstere umfasst dann auch die Letztere. Die Unterscheidung beider Zweige kommt erst in der Diskussion der konkreten Probleme zum Tragen.
3. Ziel und Prinzipien der Ethik
Über das letzte Ziel menschlichen Handelns herrscht in der Ethik – und damit auch in der Wirtschaftsethik im hier zugrunde liegenden Verständnis – über die gesamte Tradition hinweg und in der gegenwärtigen Diskussion große Einigkeit: Es geht letztlich – klassisch formuliert – um die Eudaimonia aller Menschen, bis ins 19. Jahrhundert übersetzt mit (innerweltlicher) Glückseligkeit. Heute würden wir eher von Glück sprechen; dabei ist allerdings nicht das jüngste psychologische Verständnis von Glück gemeint. Viele Ethiker sprechen auch von einem gelingenden Leben aller als dem letzten Ziel allen menschlichen Handelns.
In der abendländisch-christlichen Ethik gelten als Prinzipien, die dieses Ziel erreichen sollen, die Freiheit und Würde jedes Einzelnen und die Solidarität aller Menschen: Auch darüber herrscht in unserem Kulturkreis große Einmütigkeit. Die im Folgenden dargestellte Konzeption legt diese Prinzipien ebenfalls zugrunde; es handelt sich bei ihr daher um eine klassische und in diesem Sinne konservative normative Theorie und keineswegs um so etwas wie eine Umwertung aller Werte.
4. Das dualistische Modell für die Realisierung dieser Prinzipien
Das – hier vor allem wegen des unlösbaren Problems der Implementation als unzureichend kritisierte – dualistische Modell für die Realisierung dieser Prinzipien ruht auf folgenden drei Pfeilern: Begründung und Einsicht – Wille und Motivation – Handeln.
Zuerst müssen die Sollensforderungen begründet und für die Adressaten einsichtig gemacht werden. Das galt besonders in Umbruchzeiten wie der Aufklärung im 18. Jahrhundert, als die Religion ihre allgemein handlungsleitende Kraft verlor, und es gilt gegenwärtig in der Begegnung mit fremden Kulturen, die nicht nur für internationale Unternehmen, sondern auch für normale Bürger zum Alltag gehören, wenn sie Mitbürgern mit Migrationshintergrund begegnen. Eine gute Begründung des Sollens und die dadurch vermittelte Einsicht sollen dann den Willen eines jeden Akteurs bestimmen; er soll dieses Sollen in seine aktuelle Motivation aufnehmen und dann gemäß diesem Sollen auch handeln – gegen andere, ökonomische, egoistische Bestrebungen. Mag die Begründung des Sollens auch im Diskurs oder im Dialog erfolgen, so werden die Übernahme in den Willen beziehungsweise in die Motivation und das Handeln immer und grundsätzlich an die natürliche Person adressiert: Auf sie, auf ihren Willen und ihre Motivation, kommt es also letztlich an, wenn die Freiheit und Würde der Einzelnen sowie die Solidarität aller Menschen in der empirischen Welt Wirklichkeit werden sollen.
Das klingt plausibel, und die meisten Menschen sind in dieser Moralvorstellung sozialisiert worden; theoretisch wird dieses Modell auf Kant zurückgeführt.
5. Das zentrale Problem der Ethik: individuelles Moralversagen
Anders als naturwissenschaftliche Gesetze, die sich in der Empirie immer faktische Geltung verschaffen, können moralische Gesetze übertreten werden: Die...