[11]Kapitel 1
Anforderungen, Belastungen und gesundheitliche Auswirkungen der Pflege
Dieses Kapitel gibt einen Überblick über die spezifischen Belastungen, die bei der Betreuung und Pflege eines an Demenz erkrankten Menschen entstehen können. Es werden entsprechende Modelle und Prädiktoren vorgestellt, die bei der Entstehung individueller Belastungserfahrungen eine entscheidende Rolle spielen können. Zudem werden Bewältigungsstrategien und positive Aspekte der Pflege thematisiert.
1.1 Einleitung
Die Anzahl Demenzerkrankter in Deutschland wird für das Jahr 2050 auf etwa drei Millionen geschätzt (Statistisches Bundesamt, 2009). Da eine kausale Therapie der Demenz bislang nicht vorliegt, wird die Gewährleistung der Betreuung Demenzerkrankter in den nächsten Jahrzehnten zu einer gesundheitspolitischen und familiären Herausforderung. Entgegen stereotyper Bilder von der „Abschiebung ins Pflegeheim“ werden fast 70 % der Menschen mit Demenz zu Hause versorgt (Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend, 2013), wovon rund zwei Drittel ausschließlich von Familienangehörigen, meist Ehefrauen und (Schwieger-)Töchtern, gepflegt werden (Deutsche Alzheimer Gesellschaft, 2012).
Die Angehörigen sind in der Regel aufgrund der spezifischen Symptomatik der Demenzerkrankung mit besonders belastenden Problemsituationen konfrontiert, die sich zum einen täglich und zum anderen im progredienten Krankheitsverlauf stetig verändern können. Die Pflege eines Demenzerkrankten kann daher als eine extrem fordernde Aufgabe bezeichnet werden, in der ständig neue Anforderungen im Alltag und Veränderungen der erkrankten Person zu bewältigen sind. Diese Vielzahl an Herausforderungen und Belastungen verursacht häufig gesundheitliche Beeinträchtigungen. Neben erhöhten Morbiditätsraten (Pinquart & Sörensen, 2006) und Mortalitätsraten (Schulz & Beach, 1999) wurde eine deutlich stärkere Beeinträchtigung der psychischen und körperlichen Gesundheit bei pflegenden Angehörigen Demenzerkrankter zu gesunden Vergleichspopulationen oder pflegenden Angehörigen anderer chronisch Erkrankter festgestellt (Pinquart & Sörensen, 2003). Vor allem depressive Symptome im klinisch auffälligen Bereich (30 bis 50 %, Joling et al., 2010; Wilz, Küssner & Kalytta, 2005), höhere Prävalenzraten von Angst (25 %, Cooper, Balamurali, Selwood & Livingston, 2007) und eine deutlich geringere Lebensqualität wurden von den Angehörigen berichtet (Thomas et al., 2006). Gesundheitliche Beeinträchtigungen konnten auch hinsichtlich physiologischer Parameter wie Immunfunktion und Heilungsdauer bei Wunden nachgewiesen werden (Vedhara et al., 1999). Insbesondere pflegende Frauen, die mit über 70 % die größte Gruppe darstellen, sind besonders belastet (Nordtug, Krokstad & Holen, 2011; Wilz & Kalytta, 2008; Wilz et al., 2005). In der Studie von Cuijpers wurde entsprechend eine drei- bis viermal höhere Prävalenzrate für depressive Symptome bei pflegenden Frauen festgestellt (37.9 % versus 10.3 %; Cuijpers, 2005).
Wenn pflegende Angehörige zudem unzureichende Unterstützung erhalten, ist das Belastungserleben besonders ausgeprägt (Chappell & Reid, 2002; Holst & Edberg, 2011). Somit besteht zum einen aufgrund der beschriebenen gesundheitlichen Folgen für die pflegenden Angehörigen, sowie zum anderen aufgrund des demografischen Wandels und der damit verbundenen Zunahme an demenziellen Erkrankungen ein dringender Bedarf, die häusliche Pflege der Erkrankten zu erhalten und die Angehörigen in dieser herausfordernden Aufgabe zu unterstützen.
1.2 Überblick zu den spezifischen Belastungen bei der Betreuung und Pflege eines Demenzerkrankten
Bei der Versorgung eines demenzerkrankten Menschen sehen sich die Angehörigen mit einer Fülle an komplexen, herausfordernden und zeitlich einnehmenden Anforderungen konfrontiert. Die Ergebnisse einer eigenen Studie (Wilz & Soellner, 2011) belegen eindrücklich die subjektiv erlebte [12]Eingebundenheit in die im Mittel fünf Jahre andauernde Pflege. So gaben die Angehörigen hinsichtlich der täglichen Pflegeleistung zum Studienbeginn im Durchschnitt elf Stunden pro Tag an, wobei mehr als die Hälfte der Befragten (52 %) eine Rund-um-die-Uhr-Betreuung sicherstellen mussten. Dies bedeutete für 26 % der Studienteilnehmer, dass sie den Demenzerkrankten tagsüber nicht oder nur weniger als eine Stunde unbeaufsichtigt allein lassen konnten. Der hohe Pflege- und Betreuungsbedarf war sowohl bedingt durch die Beaufsichtigung bei Orientierungsstörungen, bei verwirrtem, selbstgefährdendem Verhalten oder Persönlichkeitsveränderungen als auch durch Versorgungsaufgaben (Haushaltsführung, Hilfestellung bei der Nahrungs- und Flüssigkeitsaufnahme), Körperpflege, besonders bei Inkontinenz (bei 64 % der betreuten Demenzerkrankten), Behördengänge, Arztbesuche und die Beschäftigung mit dem Erkrankten. Zum Zeitpunkt der Erstbefragung leisteten 40 % der befragten Angehörigen neben der tagsüber anfallenden Pflege und Betreuung auch eine Nachtpflege: Bis zu zwölf Mal pro Nacht mussten die befragten Angehörigen dem Demenzerkrankten, überwiegend beim Toilettengang oder dem Wechsel der Inkontinenz-Vorlagen und/oder der Bettwäsche, behilflich sein (Wilz & Soellner, 2011). Diese Pflegeleistungen wirken sich besonders belastend für Angehörige aus, wenn diese körperlich mobile Demenzpatienten betreuen und nächtliche Störungen zunehmen (Miyamoto, Ito, Otsuka & Kurita, 2002).
Zudem wird die Pflege in der Familie häufig ohne vorhergehenden bewussten Entscheidungsprozess übernommen und als nicht zu hinterfragende „Selbstverständlichkeit“ betrachtet. Dementsprechend sind Angehörige in der Regel auf die entstehenden Aufgaben und Belastungen nicht vorbereitet. Hierbei ist besonders hervorzuheben, dass die Angehörigen durch die sich verändernde Symptomatik je nach Schweregrad der Erkrankung mit einer unterschiedlichen und sich verändernden Pflegesituation konfrontiert sind. Im Folgenden sind die wichtigsten Anforderungen hinsichtlich der Anleitung, Betreuung und der Pflegeaufgaben zusammenfassend aufgelistet:
• Unterstützung des demenzerkrankten Familienmitglieds bei alltäglichen Aufgaben: Während zunächst Hilfestellungen in komplexen Alltagsaktivitäten notwendig sind (z. B. Einkaufen, Erledigung finanzieller Angelegenheiten), die später vollständig übernommen werden müssen, erfordern im weiteren Krankheitsverlauf zunehmend auch einfachere Alltagsaktivitäten (wie Anziehen, die Zubereitung und Einnahme von Mahlzeiten) eine intensive Anleitung und Unterstützung durch die Angehörigen;
• Übernahme der Körperpflege und Hilfestellungen bei der Mobilität (z. B. beim Gehen, ins Bett legen) in fortgeschrittenen Krankheitsstadien;
• Beaufsichtigung des erkrankten Familienmitglieds, wenn die zeitliche, örtliche und persönliche Desorientiertheit zunimmt;
• Umgang mit den demenziell bedingten kognitiven Einbußen, neuropsychologischen Symptomen (z. B. Sprachstörungen), Gangstörungen, Inkontinenz und anderen Folgen der Demenz;
• Umgang mit Unruhezuständen, Angst und Depressivität, Störung des Tag-/Nachtrhythmus, Aggressivität, sozialem Rückzug und Passivität sowie wahnhaften Symptomen;
• Umgang mit Verhaltensauffälligkeiten im privaten Umfeld und in der Öffentlichkeit;
• Stabilisierung noch vorhandener Fähigkeiten und Fertigkeiten sowie der psychischen Stimmung durch sinnvolle Aktivierung und Einbeziehung des erkrankten Familienmitglieds in den Alltag.
Die Versorgung des erkrankten Menschen stellt jedoch nicht nur besondere Anforderungen an die Organisation und Gestaltung des Alltags und verlangt die Aneignung neuer Fertigkeiten für die Unterstützung und Pflege des erkrankten Menschen. Die Angehörigen müssen darüber hinaus psychische Anpassungsleistungen erbringen, um diese Veränderungen bei einem nahestehenden Menschen wahrzunehmen, zu akzeptieren, in die Beziehung zu integrieren und damit umgehen zu lernen. Die Herausforderung der Pflege eines Demenzerkrankten ist daher die psychische Bewältigung des Krankheitsgeschehens und die Verarbeitung der eigenen emotionalen Belastungen und Verluste. Vor allem folgende Aspekte sind bestimmend für die schwierige psychologische Situation, in der sich die Angehörigen befinden:
• Durch die Schwankungen in der Symptomatik ist es schwierig, sich konsequent auf das erkrankte Familienmitglied mit seinen Einschränkungen und Persönlichkeitsveränderungen einzustellen und das Zusammenleben dementsprechend neu zu gestalten; es entstehen immer wieder Unsicherheiten und Zweifel hinsichtlich des eigenen Verhaltens und in den Einstellungen zum erkrankten Menschen;
• die mit der Demenz verbundenen kognitiven Veränderungen und die Persönlichkeitsveränderungen[13] werden wie ein Verlust des erkrankten Partners oder Elternteils betrauert; diese „antizipatorische Trauer“ ist in der Intensität und Tiefe mit der Trauer von Angehörigen verstorbener Menschen vergleichbar (Noyes et al., 2010) und stellt eine erhebliche emotionale Belastung dar (Schinköthe & Wilz, 2011);
• bei der Pflege innerhalb einer Ehe muss der gesunde Ehepartner neue Rollen und Funktionen übernehmen, was zu einer andauernden Überforderung führen kann; Lebensperspektiven für die gemeinsame Gestaltung der Lebensphase im höheren Alter müssen aufgegeben oder neu überdacht werden;
• die erwachsenen Kinder müssen in der Pflege Entscheidungen für den von ihnen nun abhängigen demenzerkrankten Elternteil treffen; es kommt zu einer Umkehr...