In folgendem Kapitel werden die Partner im HPR/V genauer betrachtet. Das „Medium“ Pferd erleichtert oft den Zugang besonders zu stark zurückhaltenden Menschen und wirkt gleichermaßen beruhigend auf sehr aktive, unruhige Menschen ein. Der korrekte Umgang mit dem Pferd und die Pflege des Tieres fördern die Teilnehmer des HPR/V nicht nur in der Bildung sozialer Kompetenzen durch das gemeinschaftliche Versorgen, Kümmern und Auseinandersetzen mit dem artspezifischen Verhalten des Pferdes, sondern stärken auch das Verantwortungsgefühl und die Bereitschaft emotionale Zuwendung zu geben und zu empfangen. So soll das artspezifische Verhalten des Pferdes und seine Beziehungsfähigkeit genauer betrachtet werden, um ein Verständnis zu entwickeln und die Möglichkeit zu schaffen, uns seine positiven Eigenschaften in der Arbeit mit dem Menschen nutzbar machen zu können. Ausserdem soll ein Einblick in die Lebenswelt der Kinder und Jugendlichen und damit einhergehende problematische Entwicklungsverläufe geschaffen werden. Des weiteren wird auf ein grundsätzliches, weit verbreitetes Handlungskonzept des HPR/V und die notwendigen Qualifikationen der Menschen verwiesen, die sich in pädagogischer und therapeutischer Weise unter Einbeziehung des „Mediums“ Pferd mit den Zielgruppen des HPR/V auseinandersetzen.
„ Wäre [das Pferd] nützlich, aber plump, wie etwa das Schwein oder die Kuh, wüßten wir zwar seinen Gebrauchswert zu schätzen, doch wohl kaum sein erhabenes Wesen in Gedichten zu preisen. Das Geheimnis seiner Wirkung besteht darin, daß es sich für uns abschindet und dabei so edel wirkt. Trotz seines aristokratischen Auftretens ist es unser ergebenster Diener. Diese Mischung ist magisch: Wenn solch ein würdevolles Tier sich unserem Willen unterwirft, dann müssen wir in der Tat die Herren der Welt sein“ (Morris nach S. Kupper-Heilmann, 1999, S.25)
Der Dienst, den das Pferd in der gemeinsamen Entwicklungsgeschichte dem Menschen erbracht hat, kann vielleicht zum Verständnis der tiefen (emotionalen) Bindung des Menschen zum Pferd beitragen. Als Reit-, Last- und Zugtier half es der Menschheit große Entfernungen zu überwinden, diente als Schlachtross in unzähligen Kriegen, seine Kraft und Ausdauer wurden in der Jagd, in der Landwirtschaft und sogar im Bergbau genutzt und es fungierte als Statussymbol großer Herrscher. Auf die vielfältigen Arbeitsbereiche des Pferdes weisen die unzähligen Reitweisen des heutigen Freizeit- und Leistungssports hin, die alle auf dem ursprünglich militärischen (z.B. Wiener Hofreitschule) oder landwirtschaftlichen (z.B. Westernreitweise) Einsatz des Pferdes basieren. Obwohl das Pferd heute kaum noch wirklich überlebenstechnisch nutzbare Funktionen für den Menschen hat, erfreut es sich großer Beliebtheit und genießt in unserer Welt eine enorm hohe Präsenz und ein nicht minder hohes Ansehen. Es scheint eine tiefe Verbindung zum Wesen Pferd zu bestehen, ein Phänomen das trotz Technisierung und Abwendung von der Natur weiter bestand hat. Es kann uns zurückführen, zu „maß- und taktvoller Beweglichkeit“, uns helfen den Rhythmus im Einklang mit uns selbst wiederzufinden (vgl. I.-M. Pietrzak, 2001). Von den bereits erwähnten physisch – therapieunterstützenden Aspekten abgesehen, übt das Pferd auf den Menschen auch eine starke psychische Wirkung aus und verfügt über Wesenszüge, die in positiver Weise in der Beziehung zum Klientel eingebracht werden können. In dem jahrhundertlangen Miteinander von Mensch und Pferd hat sich in den Köpfen der Menschen eine ausgeprägte Symbolhaftigkeit manifestiert. „Ein ganzes Kaleidoskop menschlicher Träume, Sehnsüchte und Ängste menschlichen Werdens und Vorgehens wird in der Pferdegestalt symbolisiert, ein Archetypus (griech. Urbild) wie C.G. Jung es beschreibt, der im kollektiven Unbewußten der Menschheit fest verankert ist.“ (I.M. Pietrzak, 2001, S.12). Das Pferd hat die Gabe in der Seele des Menschen Gefühle auszulösen, die tief aus dem Inneren des menschlichen Befindens stammen. „ (...) Daß das Pferd ein Gefühl der Freiheit und Lebendigkeit vermittelt und die Erlebnismöglichkeiten mit ihm oftmals in den Vordergrund gestellt werden, hat sicher neben den unmittelbaren Bewegungserfahrungen etwas mit der Übertragung bestimmter Vorstellungen und Phantasien auf das Pferd zu tun.“ (Deppisch nach S. Kupper-Heilmann, 1999 S.25). Auch M. Scheidhacker stützt sich auf Jung’ s Ausführungen archetypischer Symbole , als „ererbte Disposition zu bestimmten Gedankengängen, Vorstellungen und Handlungsbereitschaften ,(...). Sie werden im kollektiven Unbewussten jedes einzelnen aufbewahrt und beeinflussen von dort aus Träume, Denken und Handeln.“ (M. Scheidhacker, 1995, S.43). Nach Scheidhackers Beobachtungen kann das Pferd symbolhaft für diese archetypischen Urbilder erlebt werden, so dass mit dem Pferd das persönliche und das kollektive Unbewusste in das therapeutische Geschehen tritt und damit eine tiefere Schicht mobilisiert als die rein bewusst reflektierte Beziehungsebene. So kann zusätzlich zur Beziehungsarbeit auch Bewusstes und Unbewusstes entdeckt und integriert werden (vgl. M. Scheidhacker, 1995).
Ausgehend von einer gesunden psychischen Stabilität kann gesagt werden, dass ein Pferd einfühlsam und rücksichtsvoll ist. So wird es z.B. niemals auf ein am Boden liegendes Geschöpf treten und stehen bleiben, wenn das reitende Kind droht vom Rücken zu rutschen oder die Körperhaltung so verändern, dass das Kind wieder Halt bekommt. Diese Eigenschaft des sogenannten „unters Gewicht treten“ machen sich z.B. Dressurreiter zu nutzen, denen es gelingt durch minimale Gewichtsverlagerung ein Seitwärtsschreiten des Tieres zu erreichen (vgl. C. Klüwer, 1995/1997). Pferde reagieren artgerecht - nicht menschlich, d.h. sie können sich nicht verstellen, sich nicht rächen und nicht strafen, sie sind i.d.R. gutmütig veranlagt und offen gegenüber jedem Menschen, dieses wirkt besonders auf verhaltensbeeinträchtigte Kinder, die so erfahren, dass ihr abweichendes Verhalten nicht unbedingt und nicht unmittelbar aggressive Reaktionen hervorruft. Auf falsche Behandlung reagiert ein Pferd nicht nachtragend oder rachsüchtig, sondern immer artspezifisch. Das feine Gespür für Stimme und Stimmung, die Fähigkeit Angst, Unruhe und Ungeduld ausdrücken zu können, die sich oft aus der Gruppe oder vom Reiter aufs Pferd überträgt , lässt das Pferd zum „Spiegelbild“ der eigenen Empfindung werden. Pferde sind in ihrem Verhalten weitgehend konstant, also verlässlich und somit in Erziehungsprozesse einplanbar, d.h. wenn man ein Pferd gut kennt, mit ihm vertraut ist, kann man seine Verhaltensweisen voraus sagen, es unter Berücksichtigung seiner individuellen Fähigkeiten und Charakterzüge entsprechend den geforderten Leistungsansprüchen ganz speziell in der Arbeit mit Kindern einsetzen (vgl. M. Gäng 1998a).
Das Pferd verfügt über eine fein ausdifferenzierte Wahrnehmung. Sowohl Gesichts- und Hörsinn, als auch der Geruchs- und Tastsinn sind bei dem Flucht- und Herdentier sehr fein ausgeprägt. Die Anordnung der Augen ermöglichen dem Pferd nahezu eine „Rundumsicht“, die Beweglichkeit der Ohren erlaubt ein Ausrichten auf jegliche Geräuschquellen. Die Hautoberfläche ist sehr empfindlich gegenüber Reizen, wodurch die Fellpflege - egal ob von Mensch oder Artgenosse- sehr intensiv wahrgenommen wird. In Haltung, Bewegung, Lautäußerung wie Wiehern und Schnauben und in der Mimik vermag das Pferd seiner momentanen Verfassung Ausdruck zu verleihen. Durch das Spiel der Ohren, der Haltung des Halses, dem Ausdruck der Augen und der Bewegung des Schweifes lässt es seine Empfindungen erkennen (vgl. C. Heipertz-Hengst, 1977). Die Pferdeherde ist ein soziales Gefüge mit klaren Verhaltensregeln im Umgang miteinander. „Nach seiner Herkunft ist das Pferd ein in sozialen Gruppen lebendes Tier der Savanne, d.h. der Wald- oder Parksteppe, und auf gegenseitige Hilfe im Familienverband angewiesen.“ ( W. Blendinger, 1988, S.81) Wird die Gemeinschaft bedroht, schließen sich die Pferde innerhalb der Herde optimal zusammen, so dass die Schwächsten in der Mitte geschützt und die Stärksten zur Verteidigung außen angeordnet sind. Das ist nur dann möglich, wenn die Rangordnung streng eingehalten wird, wobei sich diese nicht nach der Stärke der Tiere, sondern nach deren Überlegenheit, der Fähigkeit im Sinne der Gemeinschaft für die Gruppe überlebenswichtige Entscheidungen zu treffen, zu richten scheint. Es steht nach allgemeiner Anschauung fest, dass das Pferd ein Tier sozialer Geselligkeit ist und seine sozialen Verbände in etwa denen unseres Familienkreises entsprechen (vgl. W. Blendinger, 1988; M. Geitner, 2002). Zwischen Mensch und Pferd können Beziehungen und Bindungen ähnlich einer rein zwischenmenschlichen Beziehung entstehen. Oft wird das Pferd als Partner, Freund, Kumpel bezeichnet und in seinem Dasein gleichwertig, wenn nicht sogar höherwertig, im Verhältnis zu einer menschlichen Verbindung eingestuft. Antonius Kröger befasste sich eingehend mit der Frage, ob es eine Partnerschaft mit dem Pferd überhaupt geben kann (vgl. A. Kröger, 2000). Als befürwortende Argumente sieht...