1 Anthroposophische Menschenkunde: ein Schlüssel zur ganzheitlichen Betrachtung
Die anthroposophische Betrachtungsweise bezieht sich auf die naturwissenschaftlich medizinischen Forschungsergebnisse, sie achtet sie und geht von ihnen als Grundlage aus. Hinzu kommt das Bestreben, diese wissenschaftlichen Einzelergebnisse in einem ganzheitlichen Menschenbild zusammenzufassen, das den Arzt in die Lage versetzt, von einem synthetischen Gesichtspunkt ausgehend Details, z.B. in der Krankheitssymptomatologie, durch eigenständiges Denken und Anschauen einzuordnen, zu bewerten und so zu einer erweiterten Sicht der Krankheitssituation zu bekommen.
Dazu wendet die anthroposophische Menschenkunde gewisse Schlüsselbegriffe an, mit deren Hilfe sie verschiedene Organisationsebenen innerhalb des Menschen erfasst und dadurch dem synthetischen Begreifen der Krankheitssituation und in der unmittelbaren Folge davon einem rationellen therapeutischen Ansatz direkt zugänglich macht. Es ist eine ganzheitliche Anschauung, die auf moderne Weise dem bildhaft-zusammenfassenden Anschauen der alten Ärzte entspricht. Einige dieser Begriffe finden in den Therapiekonzepten Verwendung und werden daher kurz und skizzenhaft vorgestellt. Auch wenn dieses Denken in Schlüsselbegriffen zunächst umständlich erscheinen mag, es ist dies nur auf den ersten Blick. Hat man sich erst in diesen Schlüsselbegriffen geschult, so ordnet sich die Vielfalt der Krankheitserscheinungen am Patienten und man lernt diese übergeordnete Art der Anschauung zu schätzen, sie spart mit dem Üben sogar viel Zeit.
1.1 Die menschliche Individualität
Über allem anderen steht die Individualität des Menschen. Jeder Patient hat seine körperliche Veranlagung, seinen Schicksalsweg, seine Lebensaufgaben, die auch den Umgang mit einer Krankheitssituation beeinflussen können. Es mag ein Patient, der an einem fortgeschrittenen Malignom erkrankt ist, alle auch einschneidenden schulmedizinischen Maßnahmen ertragen wollen, soweit sie seine Überlebenswahrscheinlichkeit verbessern, da er noch unbedingt eine Aufgabe während seines Lebens erfüllen möchte. Ein anderer Mensch in der gleichen Situation kann die einschneidenden Folgen dieser Therapien, was den Leib und sein Leben angehen, nicht billigen. Er bevorzugt es, mit allen Mitteln seine Selbstheilungskräfte und sein Lebensvertrauen zu stärken und wünscht daher „weichere“ Methoden. Diese individuellen Gesichtspunkte und die Verantwortlichkeit für die eigene Lebensführung haben wir Ärzte zu respektieren. Oft wird sich das Therapiekonzept aus einem Kompromiss zwischen schulmedizinischen und alternativmedizinischen Maßnahmen ergeben, so, wie es dem Patienten nach seiner Individualität am besten entspricht.
1.2 Der obere und der untere Mensch
Nach unten steht der Mensch mit seinem lebendigen Leib in Kontakt mit den Erden- und Substanzkräften, das heißt mit dem aufbauenden und seinen Leib ernährenden Substanzstrom.
Nach oben ist der Mensch über sein Seelisch-Geistiges an die Himmelskräfte angeschlossen. Das sind die formenden Kräfte, die die Substanzen in die richtigen Bahnen leiten, die Organe dem Menschen gemäß gestalten.
Schon der erste Blick auf den Patienten, die Tatsache, dass er einen fülligen oder eher hageren Leib hat, besagt, dass in ihm eher der substanzbildende untere Mensch oder der formgebende obere Mensch die Prädominanz hat.
Sind die unteren Kräfte nicht recht an die oberen angeschlossen, können sie nicht gehalten werden, sondern entweichen permanent in die Peripherie, so deutet das auf eine ausfließende, hysterische Konstitution. Prädominieren jedoch die oberen Kräfte, ohne dass sie im rechten Gleichgewicht mit dem unteren Menschen stehen, führt das zur neurasthenischen Konstitution, zu grübelnden, sorgenvollen Gedanken und einer leiblichen Überformung und Austrocknung, die ganz im Gegensatz zur saftigen, seelisch fantasievollen, hysterischen Konstitution steht.
1.3 Die dreigliedrige Funktionsordnung des Menschen
Ein ganz wichtiges Ordnungssystem, die dreigliedrige Funktionsordnung, geht von jenen Strukturen und vor allem in der Zeit verlaufenden Prozessen aus, die mit physiologischen und bildhaften Methoden erfassbar sind. Die Dreigliederung charakterisiert den Lebensleib in seiner Dynamik, der eine Schicht der vier Wesensglieder, der Viergliederung (s.u.) darstellt. Sie beschreibt in diesem eine grundlegende Polarität zwischen Sulfur- und Sal-Prozessen, die ihren Ausgleich in den Merkur-Prozessen finden. Sulfur, Sal und Merkur sind hier nicht im engeren Sinn als Schwefel, Kochsalz und Quecksilber zu verstehen, sondern aufbauend auf den Tria principia der paracelsischen Medizin als Prozessqualitäten, die in allen Naturreichen und auch im Menschen erscheinen.
1.3.1 Sulfur oder die Stoffwechsel-Gliedmaßen-Organisation
Obwohl die Sulfur-Prozesse den ganzen menschlichen Organismus durchziehen, haben sie einen Schwerpunkt, der für die Sulfur-Prozesse im Stoffwechsel-Gliedmaßen-System liegt. Entsprechendes gilt auch für die Merkur- und Sal-Prozesse.
Nehmen wir als Anschauungsbeispiel für ein deutlich sulfurisches Organ die Dünndarmschleimhaut: In ihrer Tätigkeit bildet sie durch die hohe Stoffwechselaktivität ständig neue Verdauungswärme. Die Zotten befinden sich in fortwährender, den Chymus durchmischender Bewegung; das Dünndarm-Epithel erneuert sich durch die hohe Mitoserate durchschnittlich alle ein bis zwei Tage, währenddem die in den Krypten entstehenden Zellen herauf zu den Zottenspitzen wandern, wo sie sich abschilfern. Im zum Darmlumen gelegenen Bürstensaum finden die letzten enzymatischen Spaltungen statt, an die sich die eigentliche Resorption der kleinsten Nahrungsbestandteile in einem eigenen intrazellulären Schleimhaut-Vesikelsystem anschließt. Schon im angrenzenden Kapillarsystem der Zotten finden sich die aus der Nahrung aufgenommenen Substanzen in einem ersten zusammengesetzten Stadium wieder, sodass hier auf engstem Raum intensivste Stoffverwandlungen stattfinden. Sulfur-Qualität bedeutet also Wärmebildung, Auflösung, Bewegung, Stoffumbau, „Stoff-Wechsel“. Im gesunden Zustand haben wir kein Bewusstsein unserer Sulfur-Verdauungsprozesse, obwohl sich in ihnen unsere Willens- und Tatkraft verankert.
1.3.2 Sal oder das Nerven-Sinnes-System
Es hat seinen Schwerpunkt in den Nervengeweben, den Sinnesorganen und der Haut, also den ektodermalen Geweben, im Gegensatz zu den entodermalen sulfurischen und den mesodermalen merkuriellen Organen.
Das zum Nerven-Sinnes-System gehörende Zentralnervensystem ist ein Beispiel für ein salinisches Organ. Es weist im Vergleich zum Sulfur-Prozess genau gegensätzliche Eigenschaften auf: Gedankliche Tätigkeit bedarf zunächst der Ruhe und der Kühle. Die Stoffwechsel- und Zellteilungsaktivität der Neuronen ist auf das lebensnotwendige Minimum reduziert. Dazu trägt das System der mesenchymalen Gliazellen bei, dass jede Nervenzelle von den Kapillaren abschirmt und so den Durchtritt von Substanzen reguliert, die aus dem Stoffwechsel und der Atmung stammen. An dieser Stelle des Körpers ist die Tendenz zum leiblichen Tod der Kunstgriff der Natur, um möglichst viel geistiges Leben zu entfalten. Gedankenaktivität ist nur möglich um den Preis der zurückgehaltenen reinen Stoffwechselkräfte. Sal-Qualität steht also für Kühle, Ruhe, Zurücknahme der Stoffwechselaktivität, für Selbstbewusstsein und Bewusstseinsklarheit.
1.3.3 Merkur oder das Rhythmische System
Die polare Spannung zwischen salinischer Nerven-Sinnes- und sulfurischer Stoffwechsel-Gliedmaßen-Tätigkeit ist so...