2. Geschwistertrauer
Über Trauer ist in den letzten zwei Jahrzehnten viel zu Papier gebracht worden. Umfassende Werke zu diesem Thema füllen die verstaubten Regale zahlreicher Bibliotheken. Dagegen findet sich kaum ein Büchlein über trauernde Kinder und Jugendliche. Ungeachtet der Buchstabenkolonnen soll in diesem Kapitel die allgemeine Trauer zur Einführung grob skizziert werden. Im Anschluss wird der Unterschied zwischen Erwachsenen- und Kindertrauer herausgearbeitet sowie kindliche Reaktionen und Traueraufgaben betrachtet. Ob Kinder wissen, was tot sein bedeutet, löst sich in diesem Kapitel ebenfalls auf. Auch der Einfluss der Todesart wird untersucht. Abschließend werden die Veränderungen in der Familie beschrieben und Möglichkeiten zur Bewältigung diskutiert.
2.1. Trauer – allgemein
2.1.1. Trauer und Trauerphasen
Der Sommer kehrt wieder mit all seinen Erinnerungen. „Anne, Anne!“ Immer wieder sage ich diesen Namen sehr leise und lange Zeit ins Dunkel hinein. Dann steigt etwas in mir auf, das ich mit geschlossenen Augen empfange und bei seinem Namen nenne: Traurigkeit – komm, Traurigkeit.
(Sagan, 1980, S.127)
Was ist Trauer? Der Begriff „Trauer“ kommt vom mittelhochdeutschen "trure" bzw. "truren" und hat seinen Ursprung im angelsächsischen "drusian", was einen Zustand von großer Kraftlosigkeit und Schwäche bezeichnet. Trauer ist nach Andreas-Hellriegel (1981) ein Prozess mit einem spezifischen Verlauf und die Reaktion des Körpers auf ein plötzliches Entbehren-müssen. Hinzu kommt die erneute Wiederanpassung an eine veränderte Umwelt. Alefeld (2000) erwähnt, dass Trauer schöpferische Kräfte hervorbringe, Ausdruck und ein verstehendes Gegenüber brauche sowie Raum und Zeit. Sie sei keine Krankheit, kann aber krank machen, wenn sie nicht durchlebt werden kann und darf. Wer Trauer aus dieser Perspektive betrachtet und als Prozess sieht, der sich entwickelt, kann akzeptieren, dass Eltern und Geschwister ihre Trauer so fühlen und leben, wie sie es möchten: "zu jeder Zeit, an jedem Ort und mit jeder Intensität" (Nijs, 1999, S. 21). Der Begriff „Prozess“ kann dazu verleiten, zu denken, dass alles irgendwann einmal zu einem Ende kommt. Dies muss nicht so sein. Wohin die Trauer führt, ist stets ungewiss. Natürlich kann niemand mit akuter Trauer auf die Dauer leben. Sie kann aber in den Hintergrund des Lebens treten und es dadurch umso nachhaltiger prägen. Zum Beispiel können durch Trauer schöpferische Prozesse in Gang gesetzt werden: ein Mensch beginnt zu musizieren, schreibt Gedichte, beschäftigt sich mit Kunst. Viele Künstler schafften gerade in schwierigen Phasen ihres Lebens zauberhafte Kunstwerke. Doch auch aus einem von Trauer inspirierten alltäglichen Leben kann ein Mensch viel Kraft und Sensibilität gewinnen. Trauer nur als eine Bewältigung, ein Fertigwerden mit dem Verlust zu verstehen, ist irreführend. Sie zwingt Erdenbürger dazu, sich dem schwersten Verlust zu stellen, kämpft aber zugleich hart darum, das in Trauer gestürzte Leben nicht unerträglich zu machen. Dies ist nicht allein ein innerpsychischer Vorgang. Der Tod erschüttert auch ein breites psychosoziales Umfeld, das dem Betroffenen bisher Sicherheit und Stabilität vermittelte.
Um einen Neuanfang zu wagen und Beziehungsabbrüche emotional zu bewältigen, ist es notwendig, bewusst Abschied zu nehmen und Probleme, die sich aus den Kontakten ergaben und durch den Tod der betreffenden Person nicht mehr gelöst werden können, aufzuarbeiten. Für Plieth (2002) ist es für den Ablauf des Trauerprozesses entscheidend, welches Verhältnis der Hinterbliebene zu dem Verstorbenen hatte. Aber auch individuelle und gesamtgesellschaftliche Faktoren wirken auf die Art und Dauer des Trauervorganges. Die Persönlichkeit eines Menschen hat dabei einen entscheidenden Einfluss auf die Verarbeitung des Verlustes. Die Art der weiteren Persönlichkeitsentwicklung, der Grad der Reife und die Fähigkeit zur erneuten Eingliederung in die Gesellschaft bilden die kritischen Punkte, die den Verlauf und Ausgang des Trauerprozesses mitbestimmen (Hellriegel, 1981).
Brodmann-Baumann & Greter (2004) teilten die Faktoren, welche sich auf die Trauerreaktionen auswirken, in sechs Kategorien ein, die den Grad des Ausmaßes der Trauer für den Hinterbliebenen beurteilen helfen sollen.
In die erste Kategorie werden Fragen eingeordnet, wie Alter des Verstorbenen, wer er war, ob er entfernt verwandt oder das eigene Kind für den Hinterbliebenen war.
Die Frage der Art der Bindung wird in der zweiten Kategorie behandelt: Wie war die Beziehung zum Verstorbenen? Die Trauerreaktion ist umso stärker, je tiefer die Verbindung war. Die Autorinnen erwähnen zudem, dass auch die Ambivalenz in der Beziehung eine Rolle spielt. Damit ist gemeint, dass jede Beziehung positive und negative Aspekte hat. Es ist von Bedeutung für den Trauerprozess des Hinterbliebenen, ob die widrigen Gefühle zum Beispiel vor der Zeit des Todes sehr präsent waren, denn somit kann der Trauernde stark von Schuldgefühlen belastet sein und es ist zu erwarten, dass die Trauerreaktion schwierig wird.
Die dritte Kategorie beschäftigt sich mit der Art und Weise des Todes, ob es sich um einen natürlichen Tod, einen Unfalltod, einen Tod durch Krankheit oder gar um den Selbstmord eines Jugendlichen dreht. Es ist bedeutsam, ob der Tod absehbar war oder unerwartet eintrat. Eine weitere Dimension des Todesumstandes ist aus Sicht der Autorinnen auch der Ort, an dem jemand starb: Ob es sich weit entfernt ereignete oder in der Nähe des Hinterbliebenen. Wie dieser mit früheren Verlusten umging, ob er angemessen trauern konnte oder eher zu Verdrängung neigte – danach fragt die vierte Kategorie. Aus diesen Faktoren ergibt sich die Verlustverarbeitung. Auch der Hang eines Menschen zu Depressionen wird in diese Rubrik eingeordnet, und ob jemand vor dem jüngsten Verlust mehrere lebensverändernde Ereignisse verarbeiten musste, so dass ihm die nötige Kraft für die Überwindung des aktuellen Schmerzes fehlt.
Persönlichkeitsvariablen wie Alter, Geschlecht, Umgang mit Stresssituationen sowie Wesenszügen der Person und deren Einfluss auf die Trauerreaktion wurden in die fünfte Kategorie eingruppiert.
Die sechste Kategorie befasst sich mit sozialen Variablen wie beispielsweise den religiösen, ethischen oder sozialen Hintergründen der trauernden Person, die auch etwas zum Umgang des Betreffenden mit der Trauer (hinsichtlich der Trauerrituale und Richtlinien für das Trauerverhalten) aussagen. Dahinein verschieben die Autorinnen auch den Umstand, dass der Trauernde in seinem sozialen Gefüge durch seine Trauer profitieren kann oder dass sich bei zu ausgedehnter Trauer eher Probleme ergeben können.
Menschliche Beziehungen sind nach dem Tod einer Person nicht unbedingt beendet. Viele Menschen führen Bindungen zu Verstorbenen weiter. Manche haben zum Beispiel ein Gefühl der Anwesenheit des Verstorbenen. Deshalb ist es nach Ansicht von Klass (2000) wichtig, den Toten in das Leben des Trauernden zu integrieren. Je größer dabei der Trost und die Leichtigkeit ist, mit der eine Beziehung zu den Erinnerungen und Gefühlen in Hinsicht auf den Verstorbenen hergestellt werden kann, desto mehr kann von einer Bewältigung des Verlustes gesprochen werden.
In der Literatur wird Trauer in verschiedene Formen eingeteilt. Es gibt die normale, welche etwas zur Entwicklung beiträgt, und die pathologische Trauer, von der gesprochen wird, sobald Trauernde nicht über die ersten Trauerphasen hinauskommen oder durch den Verlust beim Hinterbliebenen eine Krankheit auftritt (Danis, 1991).
Herbert (1999) unterteilte die Trauer in komplizierte und unkomplizierte. Normale, unkomplizierte Trauer könnte als eine Form der posttraumatischen Stressstörung angesehen werden, denn die Symptome sind sich sehr ähnlich (Langenmayr, 1999). Die komplizierte Trauer ist pathologisch (krankhaft), wenn Betroffene etwa außerstande sind zu trauern, wenn die Trauer sich verzögert, in eine klinische Depression mündet oder wenn sie durch Schuldgefühle oder Wut verzerrt wird. Bestimmte Merkmale in Bezug auf die Todesart, die Form der Beziehung und die Persönlichkeit des Überlebenden machen die komplizierte Trauer wahrscheinlich (Herbert, 1999). Die Trauer von Kindern gehört mit in den Bereich der komplizierten Trauer, denn deren Arten der Bewältigung sind stark von ihrem kognitiven, emotionalen und körperlichen Entwicklungsstand abhängig. Auch die unterschiedliche Lebenserfahrung und die individuell verschiedenen Entwicklungsfortschritte spielen mit hinein. Die Ambivalenz, welche in einer Geschwisterbeziehung herrscht (z.B. durch Rivalität), macht das verwaiste Kind besonders anfällig für abnorme Trauerreaktionen (Leygraf, 1995).
Nach Hinderer & Kroth (2005) trauern Kinder anders, weil bestimmte Dinge bei ihnen noch nicht voll entwickelt sind:
- die verbale Ausdrucksfähigkeit,
- das abstrakte Denken,
- das Zeitempfinden (Erwachsene gliedern Zeit in Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft – Kinder haben diese innere...