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Töchter der Sonne

Betrachtungen über griechische Gottheiten

AutorKarl Kerenyi
VerlagKlett-Cotta
Erscheinungsjahr2014
Seitenanzahl179 Seiten
ISBN9783608106602
FormatPDF/ePUB
KopierschutzDRM/Wasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis11,99 EUR
Zauberische dunkle Frauen wie Kirke, Medea und Nemesis auf der einen Seite. Lichtgestalten wie Aphrodite und Hera auf der anderen: Es ist nicht Zeus, zeigt der Mythologe Karl Kerényi, entlang dessen Achse sich das Weltbild der Griechen aufspannt - es sind Helios und Hades. Paradoxien von Tod und Leben, Nacht und Tag, Gut und Böse: Kerényis einfühlsame Prosa folgt den mythischen Frauen durch ein Labyrinth kultureller Bezüge. Ein aufregendes Buch über die Frauenfiguren Griechenlands, die verborgene Logik ihrer Taten, die strenge und doch zauberische Systematik des mythischen Denkens.

Karl Kerényi ist einer der wichtigsten Religionswissenschaftler des 20. Jahrhunderts. Geboren 1897 in Temesvár, gestorben 1973 bei Zürich, studierte klassische Philologie in Budapest und an verschiedenen deutschen Universitäten. Ab 1936 war er Professor für Religionswissenschaften in Pécs (Fünfkirchen), ab 1941 in Szeged. Er emigrierte 1943 in die Schweiz, wurde 1946/47 Gastprofessor in Basel und ab 1948 Forschungsleiter am C. G. Jung-Institut in Zürich.

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»Damit der Vater es erblickt! Nicht mein leiblicher! Sondern derjenige, der all das sieht: Helios!« Mit diesen Worten ließ der heimgekehrte Sohn des ermordeten Agamemnon im zweiten Drama der Orestes-Trilogie des Aischylos das blutige Gewand seines Vaters zeigen. Man schloß daraus, daß der Gedanke an einen väterlichen Sonnengott in Griechenland einmal sehr stark gewesen sein muß. Wir fassen hier eben jenen weniger bekannten, väterlichen Aspekt des Helios ins Auge. Das darauf gerichtete Augenmerk führt uns dem Verständnis dessen näher, was von einer in vorhellenischen Zeiten vielleicht großartigeren Sonnenmythologie in Griechenland zu finden ist.

Im Vergleich mit dem überwältigenden Reichtum der ägyptischen und der übrigen urtümlichen Sonnenmythologien der Welt scheint Hellas nur Bruchstückartiges aufzuweisen. Vor allem jenen anderen bekannteren Aspekt des Helios: das leuchtende Angesicht des Schwurgottes, der alles sieht und hört und allen der zuverlässigste Zeuge ist … Er hört auch: er besitzt nicht weniger eine volle, eines Griechengottes würdige Gestalt als Zeus selber. Er ist keine nur augenhafte Scheibe. Doch hat er in diesem seinem augenfälligeren Aspekt einen ganz besonderen Bezug zu den Augen der Menschen. »Sonnenstrahl du vielschauende Mutter der Augen« – ruft Pindar. Denn »Strahl« ist im Griechischen weiblich, wie im Deutschen die Sonne selbst. Die Augen schöpfen den Sinn und Grund ihres Seins aus dem Sonnenlicht. Der Gott Sonne ist der »zeugende Vater der scharfen Strahlen« – so nennt ihn wiederum Pindar –, durch den es Sehen auf Erden gibt. Er, das Auge der Welt, das alles sieht, darf von sich sagen: »Omnia qui video, per quem videt omnia tellus, mundi oculus« – wie Ovid diese hellenische Anschauung zusammenfaßt.

Auch Orestes ruft den Helios als Zeugen an. Er beruft sich auf den augenhaften Charakter der Sonne und läßt diesen zugleich im Vatertum verwurzelt erscheinen. Zeuge ist ihm der Zeugende. Das ethische Moment der Zeugenschaft des Sonnengottes hat im Zeugertum eine natürliche Wurzel. Die beiden Aspekte, auf die sich die griechische Sonnenmythologie zunächst zu beschränken scheint, schließen sich gegenseitig nicht aus. Erst miteinander bilden sie eine ganze Welt um den Menschen herum. Ein für sich selbst strahlender und wärmender Himmelskörper wäre noch keine Welt. Die zwei Bezüge der Sonne zum Menschen machen erst jene durch Helios gleichsam umgrenzte und durch diese Umgrenzung auch bestimmte Welt aus, welche die griechische Welt ist: eine vornehmlich sonnenhafte Welt, obwohl nicht die Sonne, sondern der Mensch in ihrem Mittelpunkt steht.

Den ersten der zwei Bezüge bildet das Sehen selbst, das sowohl für diese Welt, die sich im Sehen zeigende, als auch für den Menschen, den ohne Sehen unvollkommenen, wesentlich ist.

Wär’ nicht das Auge sonnenhaft,
Die Sonne könnt’ es nie erblicken 

so drückte Goethe diesen Bezug, das Verwobensein des Menschen mit der Sonne durch das Auge aus. Und er spricht auch von jenem weiteren Bezug, der eine noch tiefere Verwobenheit bedeutet: vom Vatertum der Sonne. In seinem letzten Gespräch, wenige Tage vor seinem Tode, sagte er zu Eckermann: »Fragt man mich, ob es meiner Natur sei, die Sonne zu verehren, so sage ich: durchaus! Denn sie ist eine Offenbarung des Höchsten, und zwar die mächtigste, die uns Erdenkindern wahrzunehmen vergönnt ist. Ich anbete in ihr das Licht und die zeugende Kraft Gottes, wodurch allein wir leben, weben und sind und alle Pflanzen und Tiere mit uns.« Es handelt sich da um dieselbe Verwobenheit, die in den Orestes-Worten des Aischylos noch mehr zu Tage tritt, indem Agamemnons Vatertum gleichsam ein Urbild im Vatertum des Helios erhält. Das Sein des Menschen und das Sein der Sonne sind da durch Sehen und Zeugen zu einem Gewebe verwoben. In diesem Gewebe ist die Sonne erst ein mythologisches Wesen. Löst man sie aus dem Gewebe im Gedanken heraus, so bleibt ein für sich leuchtender und wärmender Himmelskörper übrig, kein Gott Helios mehr. Und auch keine göttlich-sonnige Welt um den Menschen herum.

In diesen Zustand sind wir stufenweise gekommen. Die Sonne wurde zunächst aus der umgrenzenden und bestimmenden Peripherie einer Welt, wo sie oben das Ur-Augenlicht für alle Augen und unten im Unsichtbaren der zeugende Urvater war, in den Mittelpunkt gerückt. Das geschah durch Platon. Er war es, der sie im Prinzip dorthin versetzte: als das Abbild des höchsten Guten, der überweltlichen Quelle des Seins. Sodann leuchtete Helios, bereits im 3. Jahrhundert v. Chr., infolge der Entdeckung Aristarchs von Samos, des antiken Vorläufers des Copernicus, auch als Mittelpunkt der Welt der Astronomen auf. Doch die Sonne war auch damals noch eher eine Gottheit als die bloße Grundgegebenheit eines heliozentrischen Himmelsbildes. Aristarchs Entdeckung drang in der antiken Welt nicht durch. Sie bewegte sich allzusehr in der Ebene der reinen Theorie. Der Sonnengott behauptete seine Stellung viel mehr im Mittelpunkt eines wahren, lebendigen Weltgewebes, bis er einem anderen Gotte weichen mußte: dem mit der Welt nie verwobenen, absoluten Gott des Christentums.

Es ist ein seltsames Schauspiel der Religionsgeschichte, wie dann auch der Gott der Christen sich Elemente der im Kult ausgedrückten Sonnenmythologie aneignet, um den gleichen Mittelpunkt einnehmen zu können. Die Sonne wurde erst dadurch von der ihr gebührenden Stelle ver-rückt und zu einer schwer zu behandelnden religiösen Größe. Christliche Dichter, Theologen und Heilige versuchten sie zu beschwichtigen und klug, ja mit brüderlichem Sinne einzuordnen. Dämonisiert wurde sie nur ausnahmsweise, am Rande des Christentums, wo man sich ihrer Macht noch mehr ausgesetzt fühlte. In den Mittelpunkt kehrte sie in der Neuzeit, ihrer Göttlichkeit völlig entkleidet, zurück: nicht mehr in ein Gewebe, sondern in ein gottverlassenes System. Diese neue heliozentrische Ordnung, die sich letzten Endes als nur eine unter unzähligen ähnlichen erwies, hat für ihren Menschen, den heutigen, so wenig Göttliches in sich, daß sie sogar von den Kirchen, eben als Schöpfung des unverwobenen Gottes, anerkannt werden kann.

Niemand schildert unsere Situation – die des heutigen Menschen – der Sonne gegenüber so eindringlich wie der englische Dichter D. H. Lawrence. Wir müssen uns über diese Situation klar werden, ehe wir versuchen können, die väterlichen Züge des Helios wahrzunehmen. »Wollt nur nicht« – sagt uns Lawrence kurz vor seinem Tode in seinem Apokalypsenkommentar –, »daß wir uns einbilden, wir sähen die Sonne so, wie die alten Kulturen sie sahen. All das, was wir sehen, ist ein kleiner wissenschaftlicher Lichtkörper, zusammengeballt zu einer Kugel von glühendem Gas. In den Jahrhunderten vor Esekiel und Johannes war die Sonne eine großartige Wirklichkeit, man schöpfte Kraft und Glanz aus ihr und gab dafür Verehrung und Lichtopfer und Dank zurück. In uns jedoch ist die Verbindung gebrochen, die entsprechenden Zentren sind tot. Unsere Sonne ist etwas ganz anderes als die kosmische Sonne der Alten, sie ist so viel mehr gewöhnlich. Wir mögen noch sehen, was wir Sonne nennen, aber wir haben Helios für immer verloren, und die große Scheibe der Chaldäer noch mehr. Wir haben den Kosmos verloren, indem wir aus der entsprechenden Verbindung mit ihm herausgetreten sind, und dies ist unsere größte Tragödie. Was ist unsere winzige Liebe zur Natur – Natur wie eine Person angeredet! – im Vergleich mit dem großartigen Leben-mit-dem-Kosmos und mit dem Verehrtsein-durch-den-Kosmos! 

Wer sagt, daß die Sonne zu mir nicht sprechen kann? Die Sonne hat ein großes, glühendes Bewußtsein, und ich habe ein kleines, glühendes Bewußtsein. Wenn ich das hindernde Halsband der persönlichen Gefühle und Ideen abstreifen kann und hinuntergelange bis zu meinem nackten Sonnenselbst, dann können wir, die Sonne und ich, uns stündlich vereinigen, das Glühen kann gegenseitig ausgetauscht werden, und sie gibt mir Leben, Sonnenleben, und ich sende ihr ein klein wenig Feuer aus der Welt des feurigen Blutes. Die große Sonne gleicht einem bösen Drachen und haßt das persönliche, nervöse Bewußtsein in uns. Wie dies ja auch all diese modernen Freunde des Sonnenbades bedenken müssen, denn sie zerfallen durch die Sonne selbst, welche sie bräunt. Die Sonne jedoch, einem Löwen gleich, liebt das feurige, rote Blut des Lebens und kann ihm unendliche Bereicherung geben, wenn wir nur wissen, wie Sie zu empfangen! Aber wir wissen es nicht. Wir haben die Sonne verloren. Und sie läßt nur ihre Strahlen auf uns fallen und zerstört uns: Sie, der Drache der Vernichtung anstatt des Lebensbringers.«

Außer der Schilderung der heutigen Situation enthalten diese Worte auch eine Theorie, die Beachtung verdient, weil sie der Unmittelbarkeit eines großen Dichters entstammt. Nicht nur durch sonnenhafte Augen und sonnenhaftes Vatertum seien wir Menschen mit der Sonne verwoben, sondern durch unser eigenes Sonnenselbst, unser »kleines, glühendes Bewußtsein (little blazing consciousness)«, weil auch die Sonne eines hat, nur ein großes: »a great blazing consciousness«. Unter »consciousness« wird hier offenbar jene Eigenschaft des Leibes verstanden, durch die er nicht etwa nach außen hin, für die anderen, bemerkbar wird, sondern nach innen hin für sich ist und um sich weiß, auch wenn er nicht einmal sich selbst ein besonderes Zeichen davon gibt. Er »glüht« für sich, und dieses Glühen ist ihm sonnenhaft, während das »persönliche, nervöse Bewußtsein (the nervous and personal consciousness) in uns«, welches aus lauter »persönlichen Gefühlen und Ideen« besteht, etwas...

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