4 „IM AUGENBLICK SOLLTEN WIR DAS
NICHT TUN“: ATOMKRAFTGEGNER ZU
OLYMPIA 2020
In diesem Kapitel werden Einstellungen und Meinungen vorgestellt, die in der Anti-Atomkraft-Bewegung zum Thema Olympia 2020 in Tôkyô auszumachen sind. Dabei wird neben Interventionen bekannter Atomkraftgegner zum einen auf Aussagen zurückgegriffen, die im Rahmen des Buchprojektes „Sayônara Atomkraft“ (Singler 2018) zwischen 2013 und 2016 erhoben wurden.
Zum anderen wurden für diese Arbeit im Oktober 2017 in der Präfektur Fukushima mehrere Interviews mit repräsentativen Einzelpersonen durchgeführt, die durch ihre Funktionen als Vertreter von Klägervereinigungen, als exponierte Aktivisten und als von der Evakuierung in besonderer Weise Betroffene mit den Folgen des Atomunfalls von Fukushima konfrontiert sind. Vorausgeschickt seien Überlegungen zur problematischen Bruderschaft zwischen Tôkyô 2020 und dem sogenannten Atomdorf (genshiroku mura原子力村).
4.1 Olympia und Kernenergie: OK-Chef Moris
Plädoyer für Atomkraft
Für die Anti-Atomkraft-Bewegung gibt es Gründe genug, sich gegen Olympische Spiele 2020 zu stellen. Zuvorderst ist festzustellen: Die olympische Bewegung in ihrer heutigen eher einseitig merkantilen Ausrichtung müsste eigentlich als so etwas wie ein „natürlicher Gegner“ der Atomkraftgegner empfunden werden. Die im Internationalen Olympischen Komitee versammelten Mitglieder repräsentieren in der Regel politische oder ökonomische Systeme, die in mehr oder weniger engem Zusammenhang auch zur Atomindustrie oder zu mit ihr assoziierten Wirtschaftszweigen stehen.
Zu den in sozialen Netzwerken in dieser Hinsicht kritisch reflektierten Punkten, die Olympia als mit der Atomkraftproblematik grundsätzlich verlinkte Veranstaltung in den Mittelpunkt kritischer Überlegungen rückte, zählt ein Plädoyer des Ex-Ministerpräsidenten und Chef des Organisationskomitees für Tôkyô 2020, Mori Yoshirô 森 喜朗 (*1937), für die Wiederinbetriebnahme von Atomkraftwerken keine drei Jahre nach der Fukushima-Katastrophe.
Es war z.B. die konservative Yomiuri Shimbun (18.01.2014), die über Moris olympische Intervention pro Atomkraft berichtete, jene Zeitung also, deren Besitzer Shôriki Matsutarô 正力 松太郎 (1885-1969) zu den treibenden Kräften bei der Einführung der Atomkraft in Japan und der medialen Etablierung der in den USA erfundenen „Atoms for Peace“-Kampagne im Japan der 1950er Jahre zählte (vgl. z.B. Gengenbach, Jawinski und Mladenova 2013: S. 39 ff.). In einer Meldung zitierte das Blatt den Vorsitzenden des Organisationskomitees mit Worten, die sich in dieser Klarheit zum damaligen Zeitpunkt angesichts der überwiegend gegen Atomkraft gerichteten Stimmung im Land kaum ein Politiker in dieser Deutlichkeit zu sagen wagte:
„Für die Olympischen Spiele in sechs Jahren brauchen wir mehr Strom. Wenn wir jetzt aus der Atomkraft aussteigen, dann bleibt uns nichts anderes übrig, als die Olympischen Spiele zurückzugeben. Wir würden der Welt damit Unannehmlichkeiten (meiwaku 迷惑) bereiten.“
Mori trat damit einer Initiative seines Nachfolgers als Ministerpräsident, Koizumi Junichirô 小泉 純一郎entgegen, der im Herbst 2013 bei einem Vortrag in Nagoya den „sofortigen Atomausstieg“ (genpatsu sokuji zero原発即時ゼロ) gefordert hatte.46
Aus Sicht des Organisationskomitees war es also naheliegend, dass mit Tôkyô Denryoku (TEPCO) zunächst der – aufgrund einer Reihe mittlerweile ergangener Gerichtsentscheide so zu bezeichnende – Hauptverantwortliche der Atomkatastrophe von Fukushima sich als ein Hauptsponsor der Spiele von 2020 präsentierte. “Giving our Olympic athletes the energy they need”, mit diesem Slogan wollte das Unternehmen allen Ernstes Olympia zur Imagekorrektur nutzen. Präsentiert wurde dieses – später wesentlich weniger öffentlichkeitswirksam zurückgezogene – Vorhaben durch die japanische Regierung. Weltweit erhob sich dagegen Widerspruch, und die Peinlichkeit dieser Konstellation nicht antizipiert zu haben, erzählt viel über die mangelnde Sensibilität des politischen und des olympischen Establishments gegenüber den Betroffenen des Atomunfalls.
Angesichts dieser Bruderschaft von Olympiabewegung und Atomkraft mag es verwundern, wenn in diesem Kapitel herauszuarbeiten sein wird, dass nicht Olympische Spiele an sich aus Sicht vieler Atomkraftgegner das Problem darstellen, sondern vor allem der frühe Zeitpunkt der Ausrichtung des Sportereignisses nur neun Jahre nach der historischen Dreifachkatastrophe von 2011. Die Kritik an der japanischen Bewerbung im Zeichen des Atomunfalls wiegt allerdings schwer. Dies gilt umso mehr, als der Atomunfall von Fukushima – anders als Premierminister Abe die IOC-Mitglieder 2013 glauben machen wollte – nach Auskunft der allermeisten Experten keineswegs beendet ist.
4.2 Gegenpositionen prominenter Atomkraftgegner
Mehrere exponierte Atomkraftgegner aus verschiedenen Spektren äußerten sich zur Ausrichtung Olympischen Spiele in Tôkyô überaus kritisch. Der Oberhausabgeordnete Yamamoto Tarô griff Premierminister Abe Shinzô für dessen von vielen als waghalsig und haltlos empfundenen Sicherheitsversprechen von Buenos Aires am 7. September 2013 vor der IOC-Vollversammlung im Rahmen seiner Parlamentsarbeit an. Während der Wissenschaftsjournalist Hirose Takashi vor allem auf potentielle Gefahren abhob, denen sich Athletinnen und Athleten durch eine Olympiateilnahme aussetzen würden, thematisiert der Nuklearphysiker Koide Hiroaki neben der Tatsache, dass der Atomunfall noch längst nicht beendet sei, auch die aus seiner Sicht problematische politische Funktion olympischer Spiele.
4.2.1 Yamamoto Tarô: Kritische Fragen im Parlament
Wenige Wochen, nachdem das IOC die Olympischen und Paralympischen Spiele am 7. September 2013 an Tôkyô vergeben hatte, beschäftigten sich beide Häuser des Parlaments am 15. Oktober mit dem Thema. Nahezu geschlossen wurde über alle Parteiengrenzen hinweg die Regierung über eine Resolution sowohl des Unter- als auch des Oberhauses dazu aufgefordert, zum Gelingen der Spiele bestmöglich beizutragen und mit den Spielen zugleich den Wiederaufbau in den nordostjapanischen Katastrophenregionen zu unterstützen.
Nur ein einziger Abgeordneter unter mehr als siebenhundert Parlamentariern stimmte gegen die Resolution: der im Juli zuvor gewählte unabhängige Oberhausabgeordnete Yamamoto Tarô. „Der Ausrichtung Olympischer Spiele, die mit einer Lüge sichergestellt worden sind, kann ich nicht zustimmen“, so begründete der einst populäre Schauspieler, der wegen seines nach dem Atomunfall von Fukushima begonnenen Engagements gegen Atomkraft als Künstler oder populärer Werbeträger den Großteil seiner Engagements verloren hatte, seine Entscheidung laut Tôkyô Shimbun (19.10.2013).47 „Yamamoto kritisierte die Beteuerung Premierminister Abe Shinzôs vor der IOC-Generalversammlung, dass das kontaminierte Wasser vollständig unter Kontrolle sei, als faktenwidrig (jijitsu to i naru事実と井なる)“, so schrieb das Blatt weiter. „Wofür wir das Geld benötigen, sind die Aufräumarbeiten am Atomkraftwerk“, so wird Yamamoto zitiert. Die Regierung würde die finanziellen Mittel jedoch nicht dafür ausgeben, wofür sie ferner eingesetzt werden sollten, nämlich u.a. für die Lösung des Problems mit dem radioaktiv kontaminierten Wasser am AKW Fukushima Daiichi. Stattdessen fördere sie einen „Wiederaufbau-Papiertiger“ (haribote no fukkô 張りぼての復興) namens Olympia. „Für die Bewerbung so weit zu gehen und sogar zu einer Lüge zu greifen, ist eine Sünde“, sagte Yamamoto.
Bei seiner ersten Gelegenheit, die Regierung auf parlamentarischem Wege mit Fragen direkt zu konfrontieren, ging Yamamoto kurz darauf auf die sogenannte „Abe-Lüge“ erneut ein. Am 5. November 2013 kam er im Ständigen Kabinettsausschuss (naikaku i’inkai 内閣委員会) in Abwesenheit des Ministerpräsidenten gegenüber der Regierungsriege um den Generalsekretär des Kabinetts, Suga Yoshihide 菅 義偉 (*1948), auf Abes kühne Sicherheitsgarantien von Buenos Aires zu sprechen. Auf Nachfrage Yamamotos bestätigte Suga u.a., dass Abe in Argentinien behauptet hatte, Wasser und Nahrungsmittel würden an jeder Stelle im Land mit nicht mehr als ein Hunderstel der in Japan ohnehin strenger als überall sonst in der Welt festgesetzten Grenzwerte belastet sein. Auch bestätigte Suga Abes Bemerkung, dass es weder in der Vergangenheit, noch in Gegenwart oder Zukunft jemals gesundheitliche...