1.
Geschichtsphilosophische Perspektiven
1.1 Goldene Zeitalter ?
Neben historischen Zeiten des Wandels gab es immer wieder Epochen, in denen sich die Menschen über mehrere Generationen hinweg sicher aufgehoben fühlen durften im Kreislauf einer nur von Geburt und Tod markierten scheinbar unveränderlichen Welt. “Wer in solchen Verhältnissen lebte, wähnte sich in einer natürlichen Ordnung geborgen und der besten aller Welten zugehörig, auf einem Niveau, von dem es nur noch bergab gehen könne.Das waren die goldenen Zeitalter, von denen immer wieder berichtet wird. Es gab viele davon, mal über zwei, mal gar über zehn Generationen andauernd – Epochen, in denen es örtlich begrenzt so schien, als stehe die Geschichte still, weil etwas Perfektes, nicht mehr Verbesserungsfahiges geschaffen war” (SARRAZIN, 2010, S. 21).
Verehrer der Hochkulturen kennzeichnen diese Goldenen Zeitalter folgendermaßen (Vgl. SARRAZIN 2010, S. 25 ff.):
Es gab stets hierarchisch strukturierte Sozialorganisationen mit religiös oder materiell legitimierter Gewaltausübung.
Stabilität wurde durch Politik, Kultur, Wirtschaft und Relgion erreicht.
Die äußere und innere Sicherheit wurde durch militärische Gewalt, durch Tradition oder Institutionen aufrecht erhalten.
Herrschaft und Hierarchie wurden durch Religion legitimiert.
Das Wirtschaftsleben wurde durch Gewährleistung von Sicherheit für Handel und Gewerbe sowie durch die Möglichkeit der materiellen Bereicherung legitimiert.
Je besser diese Bereiche der Politik, Kultur und Wirtschaft organisiert waren, umso stabiler waren die Gesellschaften und ihre staatlichen Organisationsformen. Für diese historische Sichtweise liefert SARRAZIN (2010, S. 25 ff.) einige Beispiele:
Ägypten
Durch die künstliche Bewässerungstechnik des Niltals entstand eine fruchtbare Landwirtschaft. Sie brachte der Bevölkerung Ägyptens einen im Vergleich zu den Nomaden der umliegenden Wüstenregionen enormen Wohlstand und legte damit das Fundament für eine drei Jahrtausende überdauernde Hochkultur. Es herrschte eine Hierarchie durch die Diktatur des Pharaos. Der Pharao war gleichzeitig weltlicher und religiöser Herrscher. In religiöser Hinsicht galt er sogar als Gottkönig.
Römisches Reich
Das antike Rom basierte auf Gewaltherrschaft. Dank der Überlegenheit des Militärwesens konnte das Römische Reich mehr als eintausend Jahre die damals bekannte Welt erobern und beherrschen. Die römische Republik fand in den ersten siebenhundert Jahren immer wieder Wege, unter den reichen und vornehmen Familien eine Machtbalance zu schaffen. Die Verrechtlichung der sozialen Beziehungen schaffte Sicherheit und ermöglichte Gewerbe und Handel, ähnlich der gegenwärtigen Marktwirtschaft. Das interne Machtmonopol des Römischen Staates wurde brutal durchgesetzt.
Doch je mehr das Römische Reich an Ausdehnung gewann, desto unübersichtlicher und funktionsuntüchtiger wurden die Institutionen des Römischen Stadtstaates. Als der Einfluss des Adels schwand, leiteten CÄSAR und AUGUSTUS die Ersetzung der Republik durch das Gott-Kaisertum ein. Das damals revolutionäre Christentum fand trotz grausamster Verfolgungen immer mehr Gläubige und wurde deshalb im Jahre 313 mit der Bekehrung Konstantins des Großen zum Christentum zur Staatsreligion erkärt. Der Zusammenbruch des Römischen Reiches kam nach 1.100 Jahren durch innere Dekadenz und äußere Angriffe durch die Völkerwanderungen. Das Weströmische Reich wurde 476 endgültig militärisch besiegt. Das Oströmische Reich fand sein formales Ende im Jahre 1453 durch die Eroberung Konstantinoples durch die Türken.
Europa im Mittelalter
Die endgültige Zerstörung des Weströmischen Reiches mit der Absetzung des Kaisers Romulus Augustus im Jahre 476 führte zu einem verheerenden Rückfall der Zivilisation. Rund eintausend Jahre lang beherrschte nun das Christentum mit dem Papst in Rom die weltlichen Mächte. “Im Lehnsprinzip vermischte sich germanische Gefolgschaftstreue mit der Idee der römischen Staatlichkeit und der Legitimation aus dem christlichen Glauben. Der christliche Legitimationstransfer fand symbolischen Ausdruck in der Kaiserkrönung Karls des Großen durch Papst Leo III. Im Jahre 800 in Rom” (SARRAZIN 2010, S. 28). Die weltliche Herrschaft musste sich der religiösen Macht unterordnen, aber sie bezog ihre Legitimation aus der christlichen Kirche. Im Investiturstreit rangen Kaiser und Papst um die machtpolitischen Vorrangstellung. Dieser Streit wurde im Jahre 1076 zugunsten des Papstes entschieden durch den Bußgang Kaiser Heinrich IV. nach Canossa.
Der Beginn der Moderne
Im Mittelalter wurden die technischen und wissenschaftlichen Grundlagen für die rasche Entwicklung in der Neuzeit gelegt. Der Fortschritt zwischen 1000 und 1500 legt Zeugnis ab von einer Geisteshaltung, deren Ursachen bis heute Rätsel aufgibt. In dieser Zeit werden große Fortschritte und Erfindungen gemacht: Um das Jahr 1000 wird der eiserne Pflug und die Kumme aus China übernommen. Um 1100 wird die Dreifelderwirtschaft eingeführt. Im 12. Jahrhundert wird der Kompass erfunden. Im 13. Jahrhundert wird die mechanische Uhr erfunden. Im 14. Jahrhundert wird das Schwarzpulver entdeckt und die Feuerwaffen werden erfunden. Im 15. Jahrhundert erfindet GUTENBERG den Buchdruck. Im Jahre 1543 entdeckt KOPERNIKUS die Sonne als Mittelpunkt der Planetenbewegungen. Die Kopernikanische Wende leitet den Abschied vom geozentrischen Weltbild zugunsten des heliozentrischen Bilds vom Kosmos ein.
Reformation und Aufklärung
Die Weltreisen der spanischen und portugiesischen Seefahrer, die Entdeckung der Neuen Welt und die Auswirkungen der Reformation führten zu einem geschichtlichen Wandel. Die Reformation läutete die Befreiung des Denkens von religiöser Bevormundung ein. Die Reformation schuf die geistigen Voraussetzungen für die Säkularisierung der Welt und die Philosophie des Zeitalters der Aufklärung. HOBBES, HUME, VOLTAIRE, ROUSSEAU und KANT schufen die Philosophie der Aufklärung. Die Unabhängigkeitserklärung der Vereinigten Staaten von Nordamerika postulierte im Jahre 1776 erstmalig in der uns bekannten Weltgeschichte, dass alle Menschen gleich geboren seien und das gleich Recht hätten, nach Glück zu streben. Wenige Jahre später führte die Französischen Revolution von 1789 zur Erklärung der ersten Allgemeinen Menschenrechte.
1. 2 Mittelalter und Aufklärung
HAECKEL (Vgl. 2007) nimmt eine religionskritisch ausgerichtete Perspektive der historischen Epochen ein. In seinem Werk “Die Welträtsel”, das um die Jahrhndertwende 1900 erschien, beschreibt er das Mittelalter keineswegs als Goldenes Zeitalter, sondern als finstere Epoche. Das Mittelalter lehre uns, dass das selbständige Denken und die wissenschaftliche Forschung unter der Gewaltherrschaft des katholischen Papismus durch zwölf finstere Jahrhunderte begraben blieben.
Die Humanität, der Altruismus, die Toleranz und die Menschenliebe im höchsten Sinne des Wortes seien die wahren Lichtseiten des Christentums. Das Papsttum, der Papismus, aber habe es verstanden, alle christlichen Tugenden in ihr direktes Gegenteil zu verkehren. An die Stelle der christlichen Nächstenliebe trat der fanatische Hass gegen alle Andersgläubigen. Mit Feuer und Schwert wurden nicht nur die sogenannten Heiden ausgerottet, sondern auch die verschiedensten christlichen Sekten, welche Einwendungen gegen die auferzwungenen Dogmen des katholischen Aberglaubens zu erheben wagten. Überall im christlichen Europa blühten die Ketzergerichte und forderten unzählige Opfer. Deren Folterqualen bereiteten ihren von “christlicher Bruderliebe” erfüllten Peinigern besonders sadistisches Vergnügen. Das Papsttum wütete durch Jahrhunderte erbarmungslos gegen alles, was seinem Absolutheitsanspruch im Wege stand (Vgl. DESCHNER 1986 ff.).
Allein in Spanien wurden unter dem berüchtigten Großinquisitor TORQUEMADA (1481 bis 1498) achttausend angebliche Ketzer lebendig öffentlich verbrannt und neunzigtausend mit Einziehung ihres Vermögens und empfindlichsten Kirchenbußen bestraft. In den Niederlanden fielen unter der spanischen Herrschaft Karls des Fünften mindestens fünfzigtausend Menschen der klerikalen Mordlust zum Opfer.
Während das Geheul gefolterter Menschen die Luft Europas erfüllte, strömten beim Papst in Rom die Reichtümer der ganzen tributpflichtigen christlichen Welt zusammen. Die angeblichen Stellvertreter Gottes auf Erden und deren Helfershelfer wälzten sich hingegen in Lüsten und...