„Wertpapierfirmen droht ein böses Erwachen, wenn die Vorgaben der […] MiFID II […]in Kraft treten.“[175] Wie die Recherche zu dieser Arbeit bestätigt, würde die große Mehrzahl der Finanzmarkt-Akteure dieser Einschätzung zustimmen und ergänzen, dass die Richtlinie für ihr Unternehmen keine Chancen eröffnet, sondern alleine eine Herausforderung darstellt. Wie eine Umfrage der Wirtschaftsprüfungsgesellschaft Deloitte zeigt, wird die MiFID II „unter Asset Managern [sogar] als die größte regulatorische Herausforderung der nächsten zwei Jahre identifiziert.“[176]
Diese Arbeit untersucht die tatsächlichen Auswirkungen der MiFID II auf den deutschen Finanzmarkt und identifiziert potenzielle Chancen für Betroffene. Um ein allumfassendes Bild zu erlangen, fanden keine Einschränkungen auf spezielle Bereiche bzw. Zielgruppen statt. Der Umfang der Recherche umfasst 100 Aufsätze, Artikel und Studien, wodurch die für die Branche signifikantesten Auswirkungen herausgearbeitet wurden. Neben markt- und transaktionsbezogenen Auswirkungen stehen vor allem Auswirkungen auf Asset Manager, Finanzportfolioverwalter sowie Anlageberater im Fokus der Literatur. Aber auch Finanzanlagenvermittler und Versicherungsmakler sind von den Maßnahmen der MiFID II betroffen und werden deshalb kurz in die Betrachtung einbezogen.
„Die Anpassung der EU-Richtlinie über Märkte für Finanzinstrumente (MiFID II) und die Einführung einer begleitenden Verordnung (MiFIR) im Jahr 2014 werden erhebliche Auswirkungen auf die Finanzmärkte in Europa haben und zu einer grundlegenden Neuordnung der Finanzmarktstrukturen führen.“[177] Dem sind sich Dr. Peter Gomber[178] und Dr. Frank Nassauer[179], die Autoren des Aufsatzes Neuordnung der Finanzmärkte in Europa durch MiFID II/MiFIR einig.
Nach Meinung von Dr. Christian Waigel, Rechtsanwalt und Gründer von Waigel Rechtanwälte wird „der Punkt der Zielmärkte […] noch ein großes Chaos. […] MiFID II verlangt, dass für jedes Produkt ein Zielmarkt definiert wird. Der Vertrieb soll dann überwachen, ob auch nur an diesen Zielmarkt vertrieben wurde, und dann an den Produktgeber melden, wie viel er außerhalb des Zielmarktes verkauft.“[180] Durch den dadurch entstehenden finanziellen und administrativen Aufwand steigt die Wahrscheinlichkeit, dass kleinere Vertriebseinheiten aus dem Markt verdrängt werden und somit ein Ungleichgewicht im Wettbewerb entsteht.
Aber nicht nur auf Grund des enormen organisatorischen Aufwandes für Produktgeber und Produkt-Vertreiber ist die Zielmarktidentifikation ein heiß diskutiertes Thema. Durch das Fehlen einer spezifischen Definition der Zielmärkte bzw. –gruppen könnte „viel Zeit vergehen, [bis sich ein Standard herausbildet] und das wird nicht zur Sicherheit der Verbraucher beitragen.“[181] Die Klassifizierung könnte dabei Anhand des Einkommens oder des Gesamtvermögens in Verbindung mit der Risikoeinstellung des Anlegers erfolgen. Es gilt: „Je strukturierter ein Produkt ist, desto schwieriger wird die Einstufung.“[182] Dies könnte zur Folge haben, dass vor allem größere Anbieter ihre Produkte auf ergiebige Zielmärkte zuschneiden und kleinere Zielgruppen vernachlässigen. Durch eine rückläufige Produktvielfalt und somit fehlende Produkte auf diesen Märkten ist ein „Produkt Offering Gap“, das Entstehen einer Angebotskluft, eine wahrscheinliche Folge.[183]
Ab Januar 2018 wird es nicht mehr möglich sein, Aktien „Over the Counter“[184] zu erwerben. Durch die Einführung der Handelspflicht für Aktien wird das OTC-Geschäft zurückgehen, während der Bereich des Systematischen Internalisierers als Alternative immer mehr an Bedeutung gewinnt. Vor allem die sogenannten Broker Crossing Networks können zukünftig so nicht mehr bestehen. Sie entstanden durch die Nutzung von Schlupflöchern der MiFID I und lassen sich als vollautomatisierte alternative Handelssysteme definieren, auf welchen Aktien ohne Limit-Beschränkung gehandelt werden können und deren Orderbücher i.d.R. nicht veröffentlicht werden müssen.[185] Es bleibt abzuwarten, wie viele dieser Handelsplattformen nun in einen MTF oder einen Systematischen Internalisierer umgewandelt werden und wie kreativ die Bemühungen ausfallen werden, dieses lukrative Geschäftsmodell unter den neuen Anforderungen weiterzuführen.[186]
Des Weiteren wird sich die Struktur von Dark Pools[187] durch die Einführung von Positionslimits stark verändern. Um die Obergrenze nicht zu überschreiten, könnten Anleger ihr Verhalten strategischer ausrichten. Ein mögliches Szenario wäre zudem, dass Wettbewerber gegenseitig bestrebt wären, den jeweils anderen zu einer Limit-Überschreitung zu bewegen.[188]
Der OTC-Handel könnte zudem stark durch die neue Handelsverpflichtung und die Clearingpflicht für OTC-Derivate beeinflusst werden. Sollten genannte Derivate der Clearingpflicht gemäß EMIR[189] unterstellt sein, müssen diese auf geregelten Märkten, MTFs oder OTFs gehandelt werden. Dadurch könnte es zu einem zusätzlichen Rückgang des OTC-Handels kommen. Die Möglichkeit des OTF-Handels könnte dann die präferierte Alternative darstellen, da schwächere Regulierungen[190] den Ermessensspielraum für kundenorientierte Entscheidungen nur wenig einschränken.[191]
Die in der MiFIR verankerten Vor- und Nachhandelstransparenzvorschriften sollen laut einer Studie der PPI AG, die Consulting und Softwareentwicklung für Banken und Versicherungen anbietet, die signifikantesten Auswirkungen auf dem Finanzmarkt verursachen. Um die Forderungen der Gesetzgeber zu erfüllen, müssen kostenintensive Systeme eingeführt werden.[192] Ein Bestandteil der neuen Forderungen ist beispielsweise die sofortige Bekanntmachung der Geschäfte nach erfolgtem Handel. Da diese laut Spezialisten der Wirtschaftsprüfungsgesellschaft PWC ca. eine Minute nach dem Abschluss des Geschäftes, also nahezu in Echtzeit, zu erfolgen hat, ist die Einführung hoch automatisierter Systeme essentiell und äußerst umsetzungs- und kostenintensiv.[193] Auf der anderen Seite könnten sich auch die Gewinne durch die Offenlegung der transaktionsbezogenen Informationen verringern.[194] Dies könnte dann zu einer doppelseitigen Belastung der Unternehmen bzw. Berater führen und vor allem für kleinere Dienstleister zu einer existentiellen Bedrohung werden.
Die Anpassungen im WpHG und weiteren Rechtsgrundlagen durch den Gesetzgeber gelten nicht gleichermaßen für alle Berufsgruppen, die auf dem Finanzmarkt aktiv sind. Während die MiFID-Änderungen auf das Asset Management lediglich eine mittelbare Wirkung entfalten[195], werden Maßnahmen zur Anlageberatung sowie zur Finanzportfolioverwaltung explizit im deutschen Gesetz verankert. Durch die Einführung des § 64 WpHG-E wurden die „besondere[n] Verhaltensregeln bei der Erbringung von Anlageberatung und Finanzportfolioverwaltung“[196] deshalb gesondert spezifiziert. Tendenziell gelten für das Asset Management die gleichen Bestimmungen wie für die Finanzportfolioverwaltung.
Der Anlageberater ist verpflichtet, dem Kunden rechtzeitig vor Beginn der Beratung mitzuteilen, ob seine Beratung abhängig oder unabhängig ist.[197]
Abgesehen davon[198] hat das Wertpapierunternehmen dem Privatkunden in jedem Fall eine Geeignetheitserklärung vorzulegen, aus welcher ersichtlich wird, wie die Beratung „auf die Präferenzen, Anlageziele und die sonstigen Merkmale des Kunden abgestimmt wurde.“[199] Diese ersetzt das bis dato gültige Beratungsprotokoll. Zukünftig muss daher nicht mehr dargelegt werden, wie der Gesprächsverlauf der Beratung vonstattenging, sondern vielmehr, weshalb der Berater die Entscheidungen, die zu der individuellen Beratung geführt haben, getroffen hat.[200]
Felix Brem, Vorstand der Reuss Private Group AG, sieht die Geeignetheitsprüfung als Ersatz für das Beratungsprotokoll sogar als größte Herausforderung für die Beratung: „Wir sind etwas erstaunt, welche Kehrtwendung der deutsche Gesetzgeber hier in wenigen Jahren gemacht hat. Die gesamte Branche hat mit einem hohen Aufwand Systeme und Prozesse auf das Beratungsprotokoll ausgerichtet und vieles davon wird nun mit MiFID II auf den Kopf gestellt. Diese Veränderung ist aus meiner Sicht richtig. Das Beratungsprotokoll hat sich - auch aus Sicht der Verbraucherschützer - nicht wirklich...