Einleitung
Entdecken bedeutet zu sehen, was schon jeder gesehen hat, und dabei zu denken, was noch niemand gedacht hat.
Albert Szent-Györgyi (1893-1986), Nobelpreisträger für Physiologie oder Medizin, 1937
In welcher Beziehung stehen Geist und Gehirn? Die meisten Menschen machen sich keine Gedanken über diese Frage. und überlassen solche Grübeleien lieber den Neurowissenschaftlern und Philosophen. Warum sollten sie Zeit damit verbringen, über akademische Themen wie diese nachzudenken? Gehirn und Geist sind eindeutig miteinander verbunden, und mehr brauchen die meisten von uns nicht zu wissen, nicht wahr? Es gibt wichtigere Dinge im Leben, auf die wir uns konzentrieren sollten.
Als praktizierender Neurochirurg hatte ich es täglich mit der Beziehung zwischen Geist und Gehirn zu tun, und zwar aufgrund der Tatsache, dass bei meinen Patienten oft Bewusstseinsveränderungen zu beobachten waren. Dieses Phänomen war zwar interessant, aber ich sah es pragmatisch. Ich hatte gelernt, solche Bewusstseinsveränderungen zu evaluieren, um diverse Tumoren, Infektionen oder Schlaganfälle, die das Gehirn beeinflussen, zu diagnostizieren und zu behandeln. Wir haben die Mittel und hoffentlich auch die Gabe, unseren Patienten zu nützen, indem wir sie auf »normalere« Ebenen des Wachbewusstseins zurückbringen. Ich hatte die Entwicklungen in der Physik aufmerksam verfolgt und wusste, dass es Theorien darüber gab, wie das alles vor sich geht, aber ich hatte Patienten, um die ich mich kümmern und Wichtigeres, worüber ich mir Gedanken machen musste.
Meine Selbstzufriedenheit mit diesem Arrangement des beiläufigen »Verstehens« wurde am 10. November 2008 krachend beendet. Ich kollabierte in meinem Bett, fiel in ein tiefes Koma und wurde ins Lynchburg General Hospital eingeliefert – in das Krankenhaus, in dem ich als Neurochirurg tätig war. Im Koma erlebte ich Dinge, die mich in den Wochen nach meinem Erwachen verwirrten und nach einer wissenschaftlichen Erklärung verlangten.
Der neurologischen Lehre zufolge hätte ich wegen der schweren Schädigung meines Gehirns durch eine massive bakterielle Meningoenzephalitis nichts wahrnehmen dürfen – gar nichts! Doch während mein Gehirn von der Infektion befallen und angeschwollen war, begab ich mich auf eine fantastische Odyssee, während der ich mich an nichts von meinem Leben auf der Erde erinnerte. Diese Odyssee schien Monate oder Jahre zu dauern; eine aufwendige Reise in viele Schichten höherer Dimensionen, bisweilen wahrgenommen aus einer Perspektive der Unendlichkeit und Ewigkeit außerhalb von Zeit und Raum. Eine so umfassende Inaktivierung meines Neokortex, der Großhirnrinde, hätte eigentlich alle Wahrnehmungen und Erinnerungen außer einigen elementaren auslöschen müssen. Und doch wurde ich hartnäckig von sehr vielen höchst realen, lebendigen und komplexen Erinnerungen heimgesucht. Zunächst vertraute ich meinen Ärzten und ihrem Hinweis, dass »das sterbende Gehirn uns alle möglichen Streiche spielen kann«. Immerhin hatte ich meinen eigenen Patienten manchmal genau diesen »Hinweis« gegeben.
Die letzte Nachuntersuchung bei meinem behandelnden Neurologen fand Anfang Januar 2010 statt, vierzehn Monate, nachdem ich aus meinem heimtückischen einwöchigen Koma erwacht war. Dr. Charlie Joseph war schon vor meinem Koma ein Freund und enger Vertrauter von mir gewesen. Er hatte mir mit meinen anderen Medizinerkollegen beigestanden, während mich die volle Wucht meiner schrecklichen Meningoenzephalitis traf, und in dieser Zeit alle Details der durch sie erzeugten neurologischen Verwüstung aufgezeichnet. Wir rekapitulierten die Besonderheiten meiner Genesung (die angesichts der Schwere meiner Krankheit in dieser verhängnisvollen Woche allesamt überraschend und unerwartet waren), begutachteten einige der neurologischen Untersuchungen sowie die Ergebnisse der MRT- und CT-Scans während meines Komas, und Charlie führte eine komplette neurologische Untersuchung durch.
So verlockend es auch war, meine außerordentliche Heilung und mein aktuelles Wohlbefinden einfach als unerklärliches Wunder zu akzeptieren – ich konnte es nicht. Vielmehr wollte ich unbedingt eine Erklärung für die Reise finden, die ich im Koma unternommen hatte. Es war eine sensorische Erfahrung, die unseren neurowissenschaftlichen Vorstellungen von der Rolle, die der Neokortex für eine detailreiche bewusste Wahrnehmung spielt, vollkommen widerspricht. Die beunruhigende Möglichkeit, dass fundamentale Grundsätze der Neurowissenschaft falsch sein konnten, führte mich an diesem stürmischen Winternachmittag in meinem abschließenden Gespräch mit Dr. Joseph auf unbekanntes Terrain.
»Ich kann mir nicht erklären, wie meine mentalen Erlebnisse im tiefen Koma so intensiv, so komplex und so lebendig sein konnten«, sagte ich zu ihm. »Sie schienen viel realer als alles zu sein, was ich je erlebt habe.« Ich erzählte ihm, dass zahlreiche Details darauf hinwiesen, dass die überwiegende Mehrheit meiner Wahrnehmungen zwischen dem ersten und dem fünften Tag meines siebentägigen Komas stattgefunden hatten. Und dennoch bezeugten alle neurologischen Untersuchungen, Laborwerte und Aufnahmen, dass mein Neokortex in der Zeit viel zu sehr von der schweren Meningoenzephalitis geschädigt war, um solch eine bewusste Wahrnehmung zu ermöglichen. »Wie soll ich daraus klug werden?« fragte ich meinen Freund.
Ich werde nie vergessen, wie mich Charlie mit einem wissenden Lächeln anschaute und sagte: »Angesichts dessen, was wir über Gehirn, Geist und Bewusstsein wissen, bleibt noch viel Raum, um das Mysterium deiner bemerkenswerten Genesung als etwas zu begreifen, das auf etwas von großer Bedeutung hinweisen könnte. Wie du selbst sehr gut weißt, finden wir in der klinischen Neurologie immer wieder zahlreiche Beweise dafür, dass wir noch einen langen Weg vor uns haben, bevor wir von einem ›umfassenden‹ Verständnis sprechen können. Ich tendiere dazu, dein persönliches Mysterium als ein weiteres schönes Puzzleteil zu akzeptieren, als wichtigen Beschleuniger bei der Annäherung an irgendeine Erkenntnis über das Wesen unserer Existenz. Freu dich einfach darüber!«
Ich fand es sehr beruhigend, dass ein gut ausgebildeter und sehr fähiger Neurologe, der meine Erkrankung bis ins Detail verfolgt hatte, offen für die großartigen Möglichkeiten war, die meine Erinnerungen an die Zeit im Koma eröffneten. Charlie half mir, die Tür zu meiner Verwandlung aufzustoßen, der Verwandlung von einem materialistisch geprägten Wissenschaftler, der stolz auf seine akademische Skepsis war, in jemanden, der jetzt sein wahres Wesen kennt und einen höchst erquicklichen Einblick in andere Ebenen der Wirklichkeit bekommen hat.
Natürlich waren die ersten Monate des Erkundens und der Verwirrung keine leichte Phase. Mir war bewusst, dass ich mit Gedanken spielte, die von vielen meiner Kollegen als inakzeptabel, wenn nicht sogar als ketzerisch betrachtet wurden. Einige waren vielleicht sogar der Ansicht, ich solle lieber aufhören zu fragen und forschen als beruflichen Selbstmord zu begehen, indem ich anderen eine so haarsträubende Geschichte erzählte.
Dr. Joseph und ich waren uns einig, dass mein Gehirn durch eine beinahe tödliche bakterielle Meningoenzephalitis schwer geschädigt gewesen war. Der Neokortex – die Gehirnregion, von der die moderne Neurowissenschaft sagt, dass sie zumindest teilweise aktiv sein muss, damit wir etwas bewusst wahrnehmen können – war nicht mehr in der Lage, irgendetwas hervorzubringen oder zu verarbeiten, das auch nur annähernd an das heranreicht, was ich erlebt habe. Und doch habe ich es erlebt. Um Sherlock Holmes zu zitieren: »Wenn man das Unmögliche ausgeschlossen hat, dann muss alles, was übrig bleibt, wie unwahrscheinlich es auch sein mag, die Wahrheit sein.« Ich musste also das Unwahrscheinliche akzeptieren: Ich habe diese sehr reale Erfahrung gemacht und war mir dessen bewusst – und mein Bewusstsein war offenbar nicht von einem intakten Gehirn abhängig. Nur indem ich meinem Geist (und meinem Herzen) erlaubte, sich so weit wie möglich zu öffnen, war ich in der Lage, die Risse in der herrschenden Lehre über Gehirn und Bewusstsein zu erkennen. Erst in dem Licht, das durch diese Risse fiel, erkannte ich allmählich die wahren Hintergründe dieser Geist-Körper-Debatte.
Diese Debatte ist für uns alle von größter Bedeutung, weil viele unserer grundlegenden Annahmen über das Wesen der Wirklichkeit davon abhängen, in welche Richtung sie sich entwickelt. Jede Vorstellung, die wir vom Sinn und Zweck unserer Existenz, von unserer Verbindung mit anderen und dem Universum, von unserem freien Willen und sogar von solchen Vorstellungen wie einem Leben nach dem Tod oder der Reinkarnation haben – all diese tiefschürfenden Themen sind direkt vom Ausgang der Geist-Körper-Debatte abhängig. Die Beziehung zwischen Geist und Gehirn ist also eines der größten und wichtigsten Mysterien des menschlichen Denkens. Und das Bild, das sich aus den am weitesten fortgeschrittenen Bereichen der wissenschaftlichen Forschung herauskristallisiert, entspricht so gar nicht unserer konventionellen wissenschaftlichen Sichtweise. Offenbar stehen uns revolutionäre Erkenntnisse bevor.
Dieser Weg des Entdeckens tut sich immer mehr vor mir auf und wird mich zweifellos für den Rest meines Lebens beschäftigen. Ich habe inzwischen einige sehr weitreichende Erfahrungen gemacht und die faszinierendsten Menschen kennengelernt, die ich mir vorstellen kann. Ich habe gelernt, mich nicht von allzu einfachen Unwahrheiten über eine angenommene Welt verführen zu lassen, sondern mich zu bemühen, die Welt so einzuschätzen und zu behandeln, wie sie...