Kapitel 7
Nach einer ausgiebigen Mittagspause – Spagetti im Oderblick, Spaziergang am Oderhang – steuerte Schreiber den senfgelben Kangoo wieder zum Schloss. Die Polizei war verschwunden. An die Demonstranten erinnerte ein gebrauchtes Flugblatt, das in einem Busch festhing. Hochnebel lag noch immer über dem Land. Freundlicher machte er die Gegend nicht. Was tut man hier den ganzen Winter, wenn gerade kein Wolf zum Erschießen zur Hand ist.
Schloss Busow hatte er sich anders vorgestellt, imposanter als die anderthalbstöckige Villa, vor der er den Wagen abstellte. Das längliche Gebäude leuchtete zwar frisch gestrichen, auf dem First funkelte ein goldiges V, drehte sich sogar ein wenig. Aber Schloss?
Schreiber knirschte über den Kies, drückte den Messingknopf unter dem gravierten Vitzewitz. Wie oft hatte er vor Haustüren gestanden und darauf gewartet, dass jemand sie ihm vor der Nase zuschlug, sobald er den Namen seines Blattes nannte? Wenn das hier passierte, konnte er die Geschichte knicken.
Das innovative Gebimmel war längst verklungen, als sich hinter der Tür doch noch etwas tat. Schritte schlappten, Schlüssel klimperten. Eine Gestalt tauchte auf zwischen Rahmen und Blatt. Mitte vierzig, männlich, sportlich, ängstlich.
»Sie wünschen?«
»Hannes Schreiber, Reporter beim Magazin in Hamburg. Ich würde gern mit Ihnen über den Wolf reden, Baron Vitzewitz.«
»Ich kann es nicht mehr hören. Den ganzen Vormittag haben diese Krawallkinder vorm Haus randaliert. Sogar das Fernsehen war da. Aber mit mir hat keiner gesprochen.«
Solche Steilvorlagen ließ Schreiber sich natürlich nicht entgehen. Er sprintete in den freien Raum. »Ich schon«, sülzte er, »sonst stände ich ja nicht hier.«
Der Freiherr zog die Tür ein Stück weiter auf. Helle Breitkordhosen beulten vor seinen Knien, Wollpillen übersäten den Pullover. An seinen Bootsschuhen klebte das halbe Oderbruch. Vitzewitz warf eine blonde Strähne aus der Stirn, legte Furchen frei, die das Leben gepflügt hatte. Augen wie Aquamarin röntgten den Reporter.
»Ländlicher Chic«, sagte der Edelmann wie zu sich selbst. »Vertrauensbildende Maßnahme?« Schreiber musste grinsen. Vitzewitz auch. »Ich wusste gar nicht, dass sie im Kostümverleih auch Langhaar-Weimaraner führen.«
Statt zu antworten, öffnete Schreiber die Halsschlinge der Führerleine und schickte Goethe auf die Suche. Die Hündin arbeitete prima. Stöberte den ganzen Vorgarten nach Wild durch. Vor einer Eibe erstarrte sie mitten in der Bewegung. Den Kopf waagerecht vorgereckt, die rechte Vorderpfote angewinkelt. Das Denkmal eines Vorstehhundes.
Vitzewitz’ Begeisterung hielt sich in Grenzen. »Rufen Sie bitte den Hund zurück«, barmte der Baron. »Dahinten steht der Karnickelstall der Kinder.«
»Goethe, zuuurück.« Die Hündin nahm noch eine Nase von dem köstlichen Kaninchenduft, bevor sie beidrehte. Frustriert setzte sie sich neben Schreiber.
»Haben Sie gerade ›Goethe‹ gerufen?«
Schreiber nickte. »Erschien mir passend für ’n Weimaraner, der Name.«
»Aber es ist doch eine Hündin, oder?«
»Ich wollte sie erst Frau von Stein nennen. Dem Tier war das zu lang.«
»Vulpius wäre kürzer.«
»Aber nicht von Adel.«
Vitzewitz warf Schreiber einen überraschten Blick zu, dann lächelte er, mit einem Mundwinkel, und bat den Magazin-Mann herein.
Auch drinnen fand Schreiber das Schloss verwirrend. Es gab zwar den erwarteten Kronenhirsch im Flur, doch an dem Geweih hing Vitzewitz’ Wachsjacke, seine Karokappe hatte er dem edlen Rotwild ins Gesicht gedrückt. Schreibers Mantel, aus dem ihm der Baron geholfen hatte wie einer alten Dame, hängte Vitzewitz daneben.
Die Wände des Salons strahlten quittegelb. Keine Ahnen in Öl störten die sonnige Atmosphäre, keine kupferstichigen Krieger aus den Schlachten der Preußenkönige, denen Generationen von Vitzewitzen gedient hatten. Ein Stillleben voller Früchte verbreitete Frohsinn über dem Sofa. Blaue Äpfel, rosa Pflaumen, türkise Trauben.
Auf Anweisung versank Schreiber in den Tiefen des Sofas. Der Baron ließ sich in den roten Sessel fallen. Auf dem Couchtisch stapelten sich Bildbände zum Begucken. Frans Lantings wunderbares Auge in Auge und, Schreiber fasste es nicht, Bruder Wolf von Jim Brandenburg. Der Reporter legte seinen Block ab und wartete auf das, was Vitzewitz zu seiner Entlastung vorzubringen gedachte.
Aber Vitzewitz schwieg. Er starrte aus dem Fenster, hinter dem es nichts zu sehen gab als ein Stück Rasen und einen umgekippten Spielzeugtraktor, dem ein Vorderrad fehlte. Irgendwo im Haus schlug eine Uhr. Es war vier und gegen einen Tee hätte Schreiber nichts einzuwenden gehabt. Vielleicht ein Stück selbst gebackenen Apfelkuchen dazu. Wozu war man schließlich auf dem Land?
Vitzewitz machte keine Anstalten in diese Richtung. »Entschuldigen Sie«, sagte er schließlich, strich sich eine einzelne Locke und einen Sack voll Sorgen aus der Stirn. »Die letzte Woche war wirklich nicht sehr angenehm für mich.«
Schreiber heuchelte Verständnis. Obwohl – heucheln traf es nicht. Mit den Jahren hatte der Reporter gelernt, sich auf sein Gegenüber ernsthaft einzulassen, die Dinge mit den Augen des anderen zu sehen, seine eigene Meinung, so er denn eine hatte, zurückzustellen. Es war eine Art von Verständnis, die nicht gespielt, aber auch nicht tief empfunden war. Andernfalls hätten ihn die Abgründe, in die er von Berufs wegen schaute, ins Schwindeln gebracht.
Schreiber hatte gute Erfahrungen damit gemacht, in schwierigen Interviewsituationen zunächst ein bisschen von sich zu erzählen. Von früher recherchierten Geschichten, die in irgendeiner Beziehung zu dem Fall standen. Persönliche Erlebnisse. Irgendwas zum Auftauen.
Auf Vitzewitz’ Sofa erzählte er die Story von seinem ersten Schwein, einer Bestie, die er kurz nach der Jägerprüfung in Italien zur Strecke gebracht hatte. Dummerweise hatte er die wilde Sau mit einem Stachelschwein verwechselt, das nachts allein durch den Weinberg taperte. »Irren ist menschlich, Baron Vitzewitz.«
Der Adlige sah Schreiber mild lächelnd an. »Ich habe mich nicht geirrt. Ich habe den Wolf absichtlich erlegt.«
»Wenn das so ist«, dehnte Schreiber, »dann erzählen Sie mir die Geschichte am besten von Anfang an. Ich unterbreche Sie, wenn mir was unklar ist.«
Vitzewitz schnaufte. »Wir waren beim Bundesforst eingeladen. Drückjagd auf dem Truppenübungsplatz. Eine wunderschöne Jagd ist das jedes Mal. Gut organisiert, Wild ist auch genug da, und die Landschaft – hinreißend. Waldstücke, offenes Gelände, kleine Seen. Sachen, die Sie das ganze Jahr nicht sehen können, weil es militärisches Sperrgebiet ist.«
»Wer ist ›wir‹?«
»Wir sind die örtlichen Jäger. Busow und Umgebung. Die alte Jagdgesellschaft aus DDR-Tagen. Minus ein paar allzu rote Socken. Plus ein paar Leute wie ich, die nach der Wende dazugestoßen sind.«
Schreiber schrieb mit, in seiner eigenen Eilschrift, die er nach zwei Tagen nur noch mühsam entziffern konnte. Nachher würde er sich hinsetzen und jede Menge Wörter leserlich machen müssen. Beim Gespräch war keine Zeit für Schönschreiben.
»Ich hatte den ganzen Morgen kein Stück Wild gesehen. Bis kurz vor dem Abblasen der Wolf auftauchte. Ich hab ihn bemerkt, als er aus dem Erlenholz humpelte. Ich wusste sofort, dass das ein Wolf ist und kein Schäferhund. Die hohen Läufe, das breite Gesicht, das grau-schwarze Fell. Genau wie auf den Bildern in Brandenburgs Buch.« Vitzewitz wies mit der Nase zum Tisch.
»Durchs Glas sah ich dann, dass er den linken Vorderlauf schonte. Und dass Schweiß in der Fährte war. Es gab ja ein bisschen Schneegriesel letzten Samstag. Dann war der Wolf plötzlich weg. Ich hörte es im Graben platschen und dachte: Der ersäuft dir da noch. Aber er kam wieder hoch. Auf meiner Seite des Grabens hat er sich dann hingesetzt. Zwei Mal. Dazwischen ein bisschen gelaufen. Und er hat sich in die verletzte Pfote gebissen. Es sah überhaupt nicht gut aus.«
Vitzewitz strich sich wieder durchs Haar. Fahrige Finger. Er schlug die Beine übereinander, sank tiefer in den Sessel. »Mir war klar, was passiert, wenn ich ihn erlöste. Dann wäre ich das Schwein. Völlig klar. Ich hab’s dann trotzdem gemacht. Als der Wolf sich zum zweiten Mal aufgerappelt hat, habe ich ihm eine saubere Kugel angetragen. Er hat den Schuss nicht mehr gehört. Anschließend bin ich runter und hab ihn mir angesehen. Ein junger Rüde. Knapp vierzig Kilo.«
Schreiber fingerte seine Luckys aus der Tasche. »Darf man hier?«
»Eigentlich nicht. Wegen der Kinder. Aber wenn meine Frau nicht da ist, mach ich gern Ausnahmen.«
Schreiber hielt ihm die Schachtel hin. Für einen Freiherrn hatte Vitzewitz ziemlich klumpige Finger. Sahen richtig nach Arbeit aus. Unbeholfen operierte er eine Zigarette heraus, ließ sich Feuer geben und paffte wie ein Junge in der Pubertät.
»Und wer hat den Wolf krank geschossen?«
Der Baron grinste. Sein leicht schiefer Mund verzog sich noch mehr. »Gute Frage. Hab ich auch gestellt.«
»Antwort bekommen?«
»Natürlich nicht. Aber die Wunde war frisch. Sie muss aus demselben Treiben stammen.«
»Wie fühlt man sich, wenn einen die eigenen Weidgenossen derartig im Stich lassen?«
Vitzewitz ließ sich die Frage einen Moment lang durch den Kopf gehen. »Die Weidgenossen, das stimmt ja so nicht. Es war nur einer. Ein einziger Schuss hat dem Wolf das Fersenbein zertrümmert. Und der Schütze hat einfach nicht den Mut aufgebracht, zu seinem Fehler zu stehen.« Er...